Christentum: Das Geheimnis des Judas

Christentum: Das Geheimnis des Judas - Ein neu entschlüsselter Text stellt Verrat infrage

War er Jesu engster Vert-rauter oder sein Verräter?

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Im christlichen Kulturkreis ist Judas Iskariot, Apostel aus Judäa, der Verräter par excellence – der Inbegriff des Bösen, die personifizierte Niedertracht. Für ein paar Silberlinge nur soll er Jesus geopfert haben. Im zehnten Kreis der Hölle trifft Dante auf seinem Weg durch das Inferno unter denen, die ihre Wohltäter verraten haben, auch auf Judas. Dieser büßt schlimmer als alle anderen, im Rachen des Höllenfürsten selbst, zermalmt von den Zähnen des Satan, zerfetzt von dessen Krallen. Und ihm wird niemals verziehen.

Nun sind bisher verschollene Papyrusblätter, verfasst in koptischer Sprache, entdeckt worden – das so genannte „Judas-Evangelium“. Auf verschlungenen Wegen ist das 1800 Jahre alte Manuskript aus dem Niltal, rechtzeitig vor Ostern, nach Washington gelangt, mitten in die Vermarktungsmaschinerie des US-Magazins „National Geographic“.

Es erzählt von einem ganz anderen Judas als jenem, den Christen auf der ganzen Welt zu kennen glauben: von einem glühenden Anhänger Jesu, einem Idealisten, der die Schmach des angeblichen Verräters auf sich nimmt, um die göttliche Vorsehung zu erfüllen. Im Gegensatz zu den anderen Aposteln versteht Judas, worum es Jesus im Grunde geht. Auf die inständigen Bitten seines Freundes liefert er diesen an die Römer aus.

Könnte es nicht wirklich so gewesen sein? Die Anhänger der gnostischen Sekte, die diese Blätter aufbewahrten und vor konkurrierenden christlichen Gemeinschaften versteckt hielten, glaubten jedenfalls fest daran. Sie verehrten Judas als Heiligen, als Retter der Menschheit. Und ihre Logik erscheint bestechend: Ohne Verrat hätte es keine Gefangennahme gegeben, keine Kreuzigung, keine Auferstehung – also auch keine Erlösung.

Historische Relevanz. In Israel wurde der Fund mit Genugtuung aufgenommen. Das Massenblatt „Jedioth“ jubelte auf seiner Titelseite: „Wir haben Jesus nicht verraten“. Der Oberrabbiner der Wiener Kultusgemeinde, Chaim Eisenberg, reagiert schon etwas kühler. „Ohne die Preisgabe Jesu wäre die gesamte Heilsgeschichte natürlich keine Heilsgeschichte geworden“, bemerkt er trocken. Das wirklich Tragische an der katholischen Überlieferung sei jedoch das Ineinssetzen von Judas und den Juden gewesen, was sich unter anderem an Neonazi-Parolen wie „Juda verrecke“ zeige. „Hätte nicht Judas, sondern ein anderer Apostel, etwa Johannes, den Verrat begangen, wäre die Geschichte anders abgelaufen“, meint Eisenberg.

Im Vatikan herrschte nach der Aufregung in Übersee tagelang Schweigen – bis sich der Vorsitzende der päpstlichen Bibelkommission, Walter Brandmüller, zu einer Stellungsnahme herabließ und von „religiösen Fantasien“ sprach.

Neue Einsichten würden durch das Judas-Evangelium nicht vermittelt, sagt Wiens Weihbischof Helmuth Krätzl. Die Kreuzigung Jesu werde schließlich auch in diesem Dokument nicht bestritten. Doch die Theorie vom zwangsläufigen Verrat könne er als Christ nicht teilen, denn „Gott zwingt niemanden zu etwas Bösem“. Ähnlich argumentiert der St. Pöltner Bischof Klaus Küng: Möglicherweise sei dieser Text von historischer Relevanz, doch für den christlichen Glauben habe er „keine Bedeutung, da wir – anders als die Gnostiker – nicht davon ausgehen, dass im Heilsplan Gottes eine Notwendigkeit für die Kreuzigung bestand, um die Welt zu erlösen“.

Einen etwas anderen Akzent setzt der steirische Bischof Egon Kapellari, der sich mit der umstrittenen Figur des Judas schon seit geraumer Zeit beschäftigt und ihm unter dem Titel „Das Geheimnis des Judas“ einen Aufsatz gewidmet hat. „Bis heute – auch nach den bisherigen Kenntnissen aus dem so genannten Judas-Evangelium – bleiben viele Fragen über die Gestalt des Judas offen“, räumt Kapellari ein: „Wäre Judas in seinem Wesen nicht auf Großes angelegt gewesen, dann hätte Jesus ihn wohl nicht in die Schar der zwölf Apostel berufen.“ Doch wirklich relevant sei für einen Gläubigen die Frage, „inwieweit Christen heute durch Wort und Tat Jesus Christus nachfolgen oder verraten, ihn bekennen oder verleugnen“.

Der Abt des Stiftes Heiligenkreuz, Gregor Henckel-Donnersmarck, findet es „menschlich verständlich, wenn jetzt ein neues Evangelium auftaucht, das Judas freispricht“. Judas ist in Donnersmarcks Augen eine unheimliche und tragische Gestalt, die anfangs begeistert war von Jesus und dann in ihrer Enttäuschung darüber, dass Jesus nicht die irdische Macht an sich zog, in das extreme Gegenteil gefallen sei. Dies würde wohl jeden aufs Tiefste anrühren. Die Theologie werde dadurch jedoch „nicht aus dem Gleis geworfen“.

Judas als Schimpfwort. Im Vergleich zu seinen katholischen Freunden gibt sich der evangelische Bischof Herwig Sturm fast schon ketzerisch. Sturm sieht in Judas einen ungeduldigen Guerillakämpfer, der die Knechtschaft Israels durch die Römer beenden wollte und alle Hoffnungen auf Jesus setzte: „Er wollte mit seinem Verrat erzwingen, dass Jesus endlich das tut, was er von ihm erwartet, nämlich den Spieß umkehren, zeigen, was er kann.“ Aber Judas sei kein Sonderfall, betont Sturm. Auch andere Jünger hätten Jesus kleinmütig verleugnet und seien im Augenblick der Gefahr davongelaufen.

Solche und ähnliche Vorstellungen über Judas den Enttäuschten oder Judas den Gläubigen, der nicht daran zweifelt, dass Jesus vom Kreuz herabsteigen wird, sind freilich nicht neu. Als heterodoxe Strömungen ziehen sie sich durch die Jahrhunderte, inspirierten Dichter und Philosophen. Doch durchsetzen konnten sie sich nie.

In die Alltagssprache ist der Name Judas eingegangen als Synonym für Verrat aus Geldgier, den so genannten Judas-Lohn, kaum verhüllt auch immer antisemitisch aufgeladen. Bei Fußballspielen ist es durchaus üblich, nicht nur in Österreich oder Deutschland, dass Spieler, die nach Ansicht ihrer Fans nicht das Letzte für ihre Mannschaft gegeben haben, mit Judas-Rufen vom Platz gejagt werden. In politischen Kontroversen wird der Begriff ebenfalls verwendet, für den Renegaten aus den eigenen Reihen ebenso wie für den politischen Gegner. Vor wenigen Monaten etwa nannte der neue FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache seinen früheren Freund Jörg Haider einen „Judas“, einmal sogar einen „Ortstafel-Judas“, der die Anliegen der Deutsch-Kärntner nicht forsch genug vertrete. Auch Haider schmäht seine Kontrahenten bisweilen „Judas“. Der eben erst abgewählte italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi pflegte abtrünnige Bündnispartner mit diesem Verdikt zu belegen, der jetzige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos verwendete es einmal gegen burgenländische ÖVP-Politiker. „Judas-Game“ nannte der Münchner Privatsender Kabel 1 ein umstrittenes Kandidatenspiel. Der Titel wurde nach Protesten geändert.

In Deutschland ist Judas von Amts wegen ein verbotener Name – um die Kinder zu schützen.

Zur Zeit Jesu war Judas jedoch ein beliebter Name. Ursprünglich bezeichnete der Begriff Juda eine gebirgige Region des heutigen Israel, ging dann auf den Stamm über, der dort siedelte, und wurde schließlich zum Eigennamen. Im Alten Testament wird der Name auf den Stammvater Juda, den vierten Sohn Jakobs, zurückgeführt.

Was für ein Mensch war Judas Iskariot, der nachmalige Inbegriff des Verräters? Eine historisch fundierte Antwort ist nicht möglich, zumal nicht einmal gesichert ist, ob er jemals existiert hat. Die vier Evangelien, die von der katholischen Kirche kanonisiert, das heißt als Verkündigungsschriften anerkannt sind, die aus dem 1. Jahrhundert nach Christi Geburt stammen, stellen Judas als einen der zwölf Apostel vor, der Jesus schließlich „verraten“ hat. Es handelt sich dabei freilich um theologische Deutungen und nicht um wahre Begebenheiten. In der griechischen Abschrift der Evangelien wird das Verb „paradidonai“ verwendet, das, korrekt übersetzt, „übergeben“ oder „überliefern“ bedeutet. Im Zusammenhang mit Judas wurde es jedoch vor allem mit „verraten“ übersetzt.

Inbegriff des Sünders. Das ist auch als Propagandatrick zu sehen. Am Beginn des Christentums stand die Machtfrage, die Vorherrschaft der Christen über konkurrierende Gemeinschaften desselben Ursprungs, vor allem der Juden. So wurde in der Überlieferung der römische Anteil an der Kreuzigung Jesu unterschlagen, die Rolle der Juden dagegen hervorgehoben.

In den Evangelien steigert sich die Negativbewertung des Judas: Je jünger die Texte sind, desto polemischer werden sie.

Das Markus-Evangelium ist das älteste der Evangelien. Von einem Selbstmord des Judas ist hier noch keine Rede. Judas fordert auch keinen Verräterlohn, sondern bekommt ihn angeboten.

Bei Matthäus wird Judas schon von sich aus bei den Hohepriestern vorstellig und fragt, was ihnen die Auslieferung Jesu wert sei. Als er sieht, was er getan hat, reut es ihn, und er bringt die 30 Silberlinge in den Tempel zurück. Dort sagt man ihm höhnisch: „Was geht uns das an?“ Judas erhängt sich.

Bei Lukas wird Judas erstmals „Verräter“ genannt und sein Handeln auf den Einfluss des Satans zurückgeführt. Judas stirbt durch einen Sturz, bei dem sein Leib zerbirst.

Im Johannes-Evangelium, dem jüngsten, wird Judas als Fremder im Kreis der Apostel beschrieben, als „Sohn des Verderbens“. Beim Abendmahl, als Jesus ihm das Brot reicht, fährt der Satan in ihn. Judas ist hier von Anfang an zum Verrat verdammt, Jesu Kreuzigung also letztlich nicht zu verhindern, was die Theologie vor das Problem stellt, die „Notwendigkeit“ des Verrats dennoch in Abrede zu stellen.

Da das Christentum aus hellenistischen, römischen und jüdischen Traditionen entstanden ist, vereint auch das Judasbild entsprechende Prägungen in sich. In der so genannten Judas-Legende, niedergeschrieben von einem Dominikanermönch im Frankreich des 12. Jahrhunderts, ist kein Verbrechen zu schaurig für Judas’ fiktive Biografie. Judas erscheint darin als Findelkind, das – ähnlich dem biblischen Moses – in einem Körbchen am Fluss ausgesetzt und von gutwilligen Menschen gerettet wird. Später erschlägt er – wie Ödipus – seinen Vater und lebt mit seiner Mutter im Inzest. Als er seine Schuld erkennt, tut er Buße und schließt sich Jesus und dessen Jüngern an. Doch die Reue währt nicht lange: Es liegt ein Fluch auf ihm – und seinem Volk. Daran ließen die Päpste dieser Zeit keinen Zweifel.

Im Mittelalter wurde nicht so sehr der Verrat, sondern vielmehr der Selbstmord als Judas’ eigentliche Sünde gesehen. Jüdische Rabbiner haben es übrigens immer schon als schreiendes Unrecht empfunden, dass jedem Sünder laut christlicher Lehre vergeben werden kann – nur Judas muss ewig in der Hölle schmoren.

Der Wiener Hofprediger Abraham a Sancta Clara brachte Ende des 17. Jahrhunderts in „Judas, der Ertzschelm“ die Judas-Geschichten popularisiert unters Volk. Darin wird Judas als das „Inventar menschlicher Schlechtigkeit überhaupt“ dargestellt. Judas ist hier nicht nur das Kind ehrloser Eltern, sondern auch neidisch, schwatzhaft, gierig, verlogen und natürlich ein Gotteshasser.

Antisemitische Passionsspiele. Die Verzweiflung des Sünders an Gottes Gnade war ein wesentlicher Bestandteil des spätmittelalterlichen Faust-Stoffes. Thomas Mann griff für seinen „Doktor Faustus“ auf diese theologische Urform und die Botschaft „Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir könnte verziehen werden“ zurück.

Im Volk verankert wurde das bis heute gleichsam kanonisierte Judas-Bild jedoch durch die Passionsspiele des späten Mittelalters, die oft Tage hindurch in der Karwoche aufgeführt wurden. Man hatte dabei durchwegs Mühe, einen geeigneten Darsteller für die Rolle des Judas zu finden. Die angesehenen Bürger wollten Heilige und Engel oder Jesus selbst spielen, auf gar keinen Fall aber den Judas. Meist fand sich ein armer Knecht, dem man für seinen Auftritt – in gelbem Gewand, der Farbe der Juden – ein paar Groschen gab, passend zur Legende sozusagen.

In den Passionsspielen wird zwischen Judas und den „falschen“ Juden kein Unterschied mehr gemacht. Der Römer Pilatus dagegen wird meist positiv dargestellt, als einer, der nur unter dem Druck der Juden das Todesurteil Jesu unterschreibt.

Das entsprach auch der offiziellen Politik der Kirche im Umgang mit den Juden, die vor allem darauf ausgerichtet war, die Christen vor der Verführung durch Juden zu schützen. Die Treue der Juden zu ihrer Religion wurde als böswillige Verstocktheit und Triumph über Jesu Leidensweg ausgelegt. Zu Zeiten der spanischen Inquisition beobachteten Vertreter der katholischen Kirche, ob am Sabbat Rauch aus jüdischen Häusern aufstieg. Solcherart enttarnte „Geheimjuden“ wurden öffentlich verbrannt. Die Passionsspiele in den deutschen Landen dienten nicht nur der theologischen Unterweisung, sie brachten auch die Volksseele zum Kochen. Sie sollten durchaus zur kollektiven Rache aufwiegeln und arteten oft in Pogromen aus. Juden wurden deshalb in der Karwoche angehalten, ihre Häuser nicht zu verlassen. Um die Osterzeit häuften sich jeweils Berichte, wonach Juden Hostien geschändet, Christenkinder rituell ermordet oder Brunnen vergiftet hätten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein konnte sich der Vatikan nicht entschließen, die angeblichen Ritualmorde als antisemitische Propaganda zu verurteilen.

Judas als Widerstandskämpfer. Weit verbreitet war auch das so genannte „Juden-Jagen“, bei dem ein Judas-Darsteller unter allgemeinem Gejohle durchs Dorf getrieben wurde; oder das „Juden-Brennen“ am Ostersamstag, bei dem Strohpuppen, die Judas darstellten, am Kirchplatz angezündet wurden. Auf der griechischen Insel Kreta hat sich dieser Brauch bis heute erhalten.

Die Gestalt des Judas wurde im Laufe der Zeit immer unheimlicher und rätselhafter, sein Verrat zwischen Vorsehung und freiem Willen war kaum zu ergründen. Mit dem Einsetzen aufklärerischer Strömungen wandelte sich das Judas-Bild jedoch. Man versuchte nun, ihn wenigstens zu verstehen: Judas wurde psychologisch gedeutet. Die Habgier allein, die paar Silberlinge, die er für den Verrat bekommen haben soll, waren ein unbefriedigendes Motiv.

Auch die Dichter nahmen sich der Judas-Figur an. Eine der ersten literarischen Deutungen ist der „Messias“ von Friedrich Klopstock. Hier wird Judas überraschenderweise als schöner Mann beschrieben, allerdings mit einer gewissen Unruhe und Ungeduld im Herzen, die ihn letztlich zum Verrat treiben.

Johann Wolfgang Goethe trug sich ebenfalls mit Gedanken an ein Drama über die Verzweiflungstat des Judas, wie er in „Dichtung und Wahrheit“ berichtete. Goethe hatte einen Rebellen oder Patrioten vor Augen, der seinen Herrn mit Gewalt zur Tat nötigen will. Man vermutet, dass Goethe von rationalistischen Bibelkritikern seiner Zeit beeinflusst war, die davon ausgingen, dass auch Jesus ursprünglich einen politischen Aufstand anzetteln wollte und dessen Jünger, nachdem der Plan gescheitert war, aus der Niederlage der Kreuzigung eine jenseitige Heilsbotschaft destillierten.

Anatol France, der französische Literaturnobelpreisträger von 1921, klagte in einer Abhandlung über Judas die Kirche an, weil sie ihm das Mitleid verweigerte. Er stellte die Frage: Wenn der Verrat nötig gewesen ist, wie kann er dem Judas dann als Sünde angerechnet werden?

Aufsehen in der katholischen Welt erregte aber erst der griechische Schriftsteller Niko Kazantzakis, mit seinem 1952 erschienenen Roman „Die letzte Versuchung“. Die Verfilmung des Romans durch Martin Scorsese löste 1988 weltweit Proteste unter Gläubigen aus. Bei Kazantzakis ist Jesus ein unglücklicher Zimmermann, ein Außenseiter der Gesellschaft, antriebslos, Judas dagegen ein feuriger Schmied, ein Widerstandskämpfer gegen die römische Besatzung. Die beiden kommen zusammen, als Jesus die göttliche Berufung – profaner: den Guru – in sich entdeckt und Judas auf einen Volksaufstand hofft. Zum Verräter wird Judas – wie auch im derzeit so heftig diskutierten Judas-Evangelium – aus Gehorsam, weil Jesus erkennt, dass er nur mit seinem Opfertod das Volk dauerhaft hinter sich scharen kann. „Du hältst stand, Bruder Judas. Gott wird dir die Kraft verleihen, die dir dazu fehlt, denn so muss es geschehen, ich muss getötet werden, und du musst mich verraten, wir zwei müssen die Welt retten, hilf mir“, sagt Jesus. Und auf die Frage des Judas, ob er das umgekehrt auch täte, sagt Jesus: „Nein, ich fürchte, ich könnte es nicht, deshalb hat Gott sich auch meiner erbarmt und mir den leichteren Auftrag gegeben, gekreuzigt zu werden.“

Von der griechisch-orthodoxen Kirche wurde Kazantzakis daraufhin exkommuniziert, vom Vatikan wurde sein Buch auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt.

Die jüngste literarische Auseinandersetzung mit Judas, auf die sich heute vor allem evangelische Kirchenleute berufen, legte Walter Jens 1975 mit „Der Fall Judas“ vor. Jens schildert darin den Seligsprechungsprozess von Judas. Die Kirchenrichter wägen verschiedene Varianten gegeneinander ab. Jesus als Opfer, so sagen sie, sei absurd, denn damit hätte sich Jesus bei der Berufung des Judas geirrt – und der Gottessohn irrt nicht. Judas als Opfer sei ebenso zu verwerfen, denn dies würde bedeuten, dass Jesus ihn zum Verrat verführt hätte. Sie kommen zum Schluss, Jesus und Judas gleichermaßen als Opfer des göttlichen Plans darzustellen. Der Vatikan wendet sich jedoch strikt dagegen und lässt das Verfahren liegen. Sein Buch, sagte Jens, sei „ein Plädoyer für die Wiederaufnahme des Verfahrens“.

Walter Jens’ Text erschien nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in welchem die Kirche zum ersten Mal klarstellte, dass, wenn schon nicht Judas, dann jedenfalls die Juden vom Mord an Jesus freizusprechen sind. Der christlich verbrämte Antisemitismus wurde als Fehler erkannt und bedauert. Die Liturgie wurde reformiert. In der Folge verzichtete man auf die Fürbitte für die „perfides“, die treulosen Juden. Auch die Oberammergauer Passionsspiele, die Adolf Hitler noch 1942 so gut gefallen haben, weil sie im deutschen Volk „das Bewusstsein der jüdischen Gefahr wach halten“, wurden von antisemitischen Tendenzen gereinigt. Im Jahr 2000 entschuldigte sich der verstorbene Papst Johannes Paul II. für das Unrecht, das den Juden angetan wurde.

Doch mit einer vollständigen Rehabilitierung des Judas-Bildes tut sich die Kirche nach wie vor schwer. Die christliche Glaubenslehre besteht eben ihrem Wesen nach in der Erlösung von den Sünden durch Jesu Opfertod und der Heilserwartung. Die Vorstellung, Jesus hätte Judas um Sterbehilfe gebeten, um seine Mission zu erfüllen, widerstrebt diesem Dogma zutiefst. Einer muss ihn verraten haben, das scheint unverrückbar.

Wenn in den Tagen vor Ostern die Gläubigen den Gottesdienst besuchen und die Stellen aus dem Evangelium hören, die Jesu Kreuzweg schildern, ist noch immer vom „Verrat“ die Rede. Dennoch bemühen sich einzelne Katholiken, Judas zu rehabilitieren – aus theologischer Neugier, aber auch aus Betroffenheit über den historischen christlichen Antisemitismus. Stellvertretend für diese Strömung wären etwa der umtriebige Pater Georg Sporschill zu nennen, der seit Jahren in Rumänien und in der Ukraine Straßenkinder betreut, oder der ehemalige Jesuitenpater Wolfgang Feneberg, für den Judas gar „ein Heiliger“ ist.

Sporschill beruft sich unter anderem auf ein Gespräch mit dem verstorbenen Wiener Kardinal Franz König, in dem dieser gesagt hatte: „Die tiefste Wurzel des Antisemitismus ist das Religiöse.“ Sporschills Anliegen ist in allererster Linie, den Begriff des „Verräters“ von der Person des Judas zu lösen. In der am häufigsten verwendeten Bibelübersetzung, der so genannten Einheitsübersetzung, wurden schon erste zaghafte Schritte in diese Richtung unternommen. Und vom Vorsitzenden der päpstlichen Bibelkommission, Brandmüller, war vor wenigen Wochen zu hören, dass man darangehen wolle, das Judas-Image zu korrigieren. Offiziell wurde dies kurz darauf allerdings wieder dementiert. Doch die Gerüchte verstummen nicht, dass dies bald geschehen könnte. Nach der Zeitrechnung des Vatikans vielleicht schon im nächsten Jahrhundert.

Von Christa Zöchling
Mitarbeit: Robert Buchacher