Ihre Skandale möchten wir haben

Deutschland. Der Fall Wulff als Musterbeispiel für den Umgang mit politischen Affären

Drucken

Schriftgröße

Dienstschluss Freitag, 11.07 Uhr: Zu guter Letzt musste sogar Christian Wulff akzeptieren, dass es nicht mehr so weitergehen konnte. Ob er es auch einsehen wollte, war nicht so klar. "Ich habe mich in meinen Ämtern stets rechtlich korrekt verhalten. Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig“, lauteten die Kernsätze seiner Rücktrittserklärung.

"Ich wünsche unserem Land von ganzem Herzen eine politische Kultur, in der die Menschen die Demokratie als unendlich wertvoll erkennen und sich vor allem, das ist mir das Wichtigste, gerne für die Demokratie engagiert einsetzen“, fügte der scheidende Bundespräsident hinzu. Das klang, als wollte er den Umgang mit seinem Fall kritisieren - auf die Idee, dass er damit eigentlich eine Zustandsbeschreibung ebenjener tadellosen politischen Kultur in seinem Heimatland abgab, kam er offenbar nicht.

Auch wenn Wulff sich ungerecht behandelt fühlen mag: Die Art und Weise, wie die Vorwürfe gegen ihn aufgegriffen und verfolgt wurden, weist Deutschland als Vorbild im Umgang mit politischen Affären aus.

Seit Aufkommen der Anschuldigungen im vergangenen Dezember haben sich alle Beteiligten so verhalten, wie man das in einer hoch entwickelten Demokratie westlichen Zuschnitts erwarten kann: die Medien ebenso wie die Justiz, die politische Opposition wie die Regierung. Nur einer machte die längste Zeit eine Ausnahme - Christian Wulff selbst.

Die Medien lieferten durch hartnäckige Recherchen immer neue Belege dafür, dass der Anfangsverdacht der Geschenkannahme stichhaltig war. Sie deckten auf, bewerteten und ließen nicht locker. Insbesondere die "Bild“-Zeitung demonstrierte, dass ihre vormals offenkundigen Sympathien für Wulff sie nicht daran hinderten, dessen Fehlverhalten publik zu machen. Als der Bundespräsident persönlich bei "Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann anrief und mit Strafanzeigen drohte, um die Berichterstattung zu verhindern, war es bereits um ihn geschehen.

Die Opposition übte heftige Kritik an Wulff, besonders weil er 2010 als niedersächsischer Ministerpräsident vor dem Landtag behauptet hatte, es habe zwischen ihm und dem ehemaligen Unternehmer Egon Geerkens "keine geschäftliche Beziehung gegeben“. Geerkens und dessen Frau hatten Wulff jedoch einen Kredit für sein Haus gewährt. Der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach und auch Stefan Wenzel, ein Abgeordneter der Grünen, bezichtigten Wulff der "Lüge“. Hysterische Rücktrittsaufforderungen blieben jedoch ebenso aus wie eine Schlammschlacht.

Die Justiz geriet während der gesamten Affäre nie in Verdacht, politisch zu agieren. Sie verhielt sich lange Zeit sehr diskret. Nach Ansicht mancher Rechtsanwälte, die sich öffentlich zu Wort meldeten, zögerte sie zu lange, ehe sie vergangenen Donnerstag die Aufhebung der Immunität beantragte. Nach Auskunft der Justiz sei die Entscheidung dazu nach Beratungen der Staatsanwälte gefallen, Weisungen vorgesetzter Behörden habe es nicht gegeben. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte zwar zu Beginn der Auseinandersetzung ein Ende der Diskussion über den Bundespräsidenten gefordert, gleichzeitig aber Wulff gedrängt, sich um Aufklärung zu bemühen.

Die Bevölkerung bewies eine gesunde Distanz zu ihrem Staatsoberhaupt - und ein erträgliches Maß an Häme. Das neue Verb "wulffen“ fand Eingang in die deutsche Sprache, wobei das Vokabel zwei Bedeutungen hat: einerseits das Vollreden eines Anrufbeantworters in Anspielung auf Wulffs Nachricht auf der Mailbox des "Bild“-Chefredakteurs; andererseits das Äußern von Halbwahrheiten bei gleichzeitigem - vergeblichem - Bemühen um Glaubwürdigkeit.

Tatsächlich unternahm der angeschlagene Bundespräsident viel zu spät immer größere Anstrengungen, um als Vorbild an Transparenz dazustehen. Er legte seinen Kreditvertrag offen, beantwortete schriftlich 400 Fragen von Journalisten und bedauerte vermeintliche Missverständnisse in großer Zahl.

Da war längst klar, dass Wulff nur noch sein unvermeidliches politisches Ende hinauszögerte. Niemand konnte den Träger des formal höchsten Amtes im Staat noch retten, auch wenn Kanzlerin Angela Merkel verbal zu ihm stand. Die Gewaltentrennung verhinderte eine unsaubere Finte oder den Auftritt eines Deus ex Machina.

Zieht man Korruptionsaffären in Italien, Frankreich, aber auch in Österreich als Vergleich heran, geht es im Fall Wulff um nachgerade mickrige Tatbestände, die allesamt aus seiner Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen herrühren.

Von den Geerkens soll sich Wulff das Geld für den Kauf seines Hauses privat zu einem Zinssatz von vier Prozent jährlich geliehen haben. Banken verlangten zu dieser Zeit je nach Laufzeit zwischen 4,9 und 5,2 Prozent. Ersparnis gegenüber einem offiziellen Bankkredit bei einer Laufzeit von zehn Jahren: Rund 50.000 Euro.

Zeitungsanzeigen, mit denen für Wulffs Buch "Besser die Wahrheit“ geworben wurde, soll der umstrittene Unternehmer Carsten Maschmeyer (AWD) bezahlt haben. Ersparnis für den Verlag des Autors: 42.700 Euro.

Bei einem Flug von Miami nach Frankfurt sollen Wulff, seine Ehefrau und sein Sohn ein kostenloses Upgrade in die Business-Class erhalten haben. Ersparnis: je nach Fluglinie und Buchungszeit zwischen 3000 und 4000 Euro.

Die Hotelkosten für einen Urlaub, den das Ehepaar Wulff auf der Nordseeinsel Sylt verbrachte, soll der Berliner Filmproduzent David Groenewold übernommen haben. Ersparnis für die Wulffs, wenn sie die Rechnung mit ihrem Freund nicht wie behauptet bar beglichen haben: 774 Euro.

Über ein Nokia-Mobiltelefon, das ihm ebenfalls von Groenewold zur Verfügung gestellt wurde, soll Wulff knapp ein Jahr lang telefoniert haben, ohne die Rechnung bezahlen zu müssen. Ersparnis: 931 Euro brutto.

Macht zusammen knapp 100.000 Euro. Im österreichischen Korruptionsmaßstab entspricht das ziemlich genau der Scheinrechnung für eine Pressekonferenz.

Das ist aber nicht der Punkt.

Sondern vielmehr genau der Unterschied, den Deutschland nicht nur zu Österreich macht, sondern auch zu den meisten anderen Ländern - selbst in der westlich-demokratischen Welt. Der Fall Wulff hat wieder einmal gezeigt, dass dort nicht möglich ist, was sonst fast überall geht: dass nämlich hohe politische Funktionsträger, die moralisch fragwürdig geworden sind, in Amt und Würden bleiben.

Bei Wulff reichte letztlich die Ankündigung der Staatsanwaltschaft Hannover, wegen "Anfangsverdacht auf Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung“ Ermittlungen einzuleiten, für einen Rücktritt. In Österreich würde Ähnliches entweder bloß Achselzucken bewirken - oder eine wütende Attacke gegen die angeblich politisch motivierte Justiz provozieren.

In Italien wusste sich Ministerpräsident Silvio Berlusconi jahrelang zu helfen, wann immer es in Korruptionsanklagen gegen ihn eng wurde. Zweimal, 2003 und 2008, brachte der unter Verdacht stehende Politiker das Parlament dazu, ein Immunitätsgesetz zu verabschieden, das ihn zumindest vorübergehend vor Strafverfolgung schützte. Beide Male wurde das Gesetz für verfassungswidrig erklärt, doch der Cavalliere hatte ein paar Jahre Zeit gewonnen.

In Frankreich genießt der Staatspräsident - mit Ausnahme des Delikts des Hochverrats - gänzliche Immunität. Das geht so weit, dass sich ein Präsident nur scheiden lassen kann, wenn es sich um eine einvernehmliche Trennung handelt, da ein Gericht nicht befugt wäre, über seine Person zu urteilen. Ex-Staatspräsident Jacques Chirac profitierte ausgiebig vom Privileg der Immunität. Ein Verfahren gegen ihn wegen korrupter Machenschaften während seiner Zeit als Bürgermeister von Paris konnte erst zu Ende gebracht werden, nachdem seine zweite Amtszeit abgelaufen war. Im vergangenen Jahr wurde Chirac zu zwei Jahren bedingter Haft verurteilt.

Der Fall des früheren US-Präsidenten Bill Clinton wiederum zeigt, wie eine Justiz außer Rand und Band geraten kann, wenn es um Spitzenpolitiker geht. Die Untersuchungen durch den Sonderermittler Kenneth Starr führten im November 1998 zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton wegen falscher Zeugenaussage und Behinderung der Justiz. Clinton hatte de facto gelogen, um außereheliche Affären mit der Praktikantin Monica Lewinsky und anderen Frauen zu verschleiern. Der demokratisch dominierte Senat lehnte eine Amtsenthebung Clintons schließlich ab. Die Aufarbeitung der Affäre hatte mehr mit Hysterie zu tun als mit Justiz.

"Was die anstehende rechtliche Klärung angeht, bin ich davon überzeugt, dass sie zu einer vollständigen Entlastung führen wird“, prophezeite Wulff am Freitag vergangener Woche bei seinem letzten Auftritt als Bundespräsident im Schloss Bellevue mit leicht klagendem Unterton.

Aber selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Vorwürfe überzogen waren und sein Abgang damit ungerecht: Politische Verantwortung folgt, auch wenn sie die Sphäre des Kriminellen berührt, nicht allein der Logik des Strafrechts, in der bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuld des Verdächtigen gilt.

Besser, die Würde des politischen Systems bleibt durch einen etwas zu schnellen Rücktritt gewahrt, als sie wird nach und nach durch zu viele unterbliebene Rücktritte unwiederbringlich zerstört, die eigentlich notwendig gewesen wären.

Die Deutschen können stolz sein. Ihre Skandale möchten wir haben!, rufen Österreicher neidisch über die Grenze. Der Sturz des Bundespräsidenten passiert locker den TÜV. Dass das Amt beschädigt sei, wird zwar der Form halber behauptet, doch der angestrebte Konsens bei der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine neue moralische Autorität hervorbringen.

Und wenn jetzt auch noch Markus Lanz der neue Moderator für "Wetten, dass …?“ wird, dann kann sich wirklich wieder alles zum Guten wenden.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur