Facebook und die "Community"-Sucht

Community-Sucht in Facebook: Zeitfresser, Suchtmittel, Wirtschaftsschädling

Zeitfresser, Suchtmittel, Wirtschaftsschädling

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Sie hatte alle Zeit dieser Welt. Glaubte sie zumindest. Nach einem massiven Burn-out kündigte die 44-jährige Angestellte und Mutter zweier halbwüchsiger Töchter, die um Anonymität ersuchte, ihren Job in einer PR-Agentur und gönnte sich ein einjähriges Sabbatical: um ihr Leben neu zu ordnen und Dinge zu tun, für die sonst nie Zeit war. Zum Spaß registrierte sie sich bei Facebook, dem vor fünf Jahren in den USA von dem 19-jährigen Harvard-Studenten Mark Zuckerberg gegründeten sozialen Netzwerk, das sich zu einem virtuellen Flächenbrand entwickelt hat.

Weltweit sind angeblich bereits 250 Millionen User registriert, allein in Europa zählt die Facebook-Gemeinde 100 Millionen Menschen. In Österreich stieg die Mitgliederzahl der digitalen Community im Vorjahr um fast 500 Prozent – 663.000 User „poken“, „requesten“ und „removen“ bisweilen auch Freunde, die sie in der Regel nie von Angesicht zu Angesicht treffen.

Der Suchtfaktor setzte bei der Facebook-Novizin schleichend ein. Nach einiger Zeit bemerkte sie, „dass ich rund fünf Stunden täglich dort drinnen verbracht habe. Meine Beziehung hat erheblich darunter gelitten.“ Abgesehen von der „zunehmend bemerkbaren Grundgereiztheit“ innerhalb der Familie – die Töchter fanden das Online-Teenager-Gehabe der Mutter äußerst peinlich –, setzte eine „soziale Verwahrlosung“ ein: „Ich bin ohnehin ein eher soziophober Mensch. Facebook wiegte mich in der Illusion, mitten im Geschehen zu sein, ohne mir die Mühe machen zu müssen, in die Welt hinausgehen zu müssen. Ich verlor zunehmend den Kontakt mit meinen Real-Freunden und verließ über Tage das Haus nicht.“

Nach einem Jahr und zirka 1725 Stunden verschwendeter Zeit schritt die Frau zur Selbsthilfe und deaktivierte ihr Facebook-Profil – mit den Abschiedsworten: „Ich merke, dass mir FB Zeit und Energie abzieht, die ich dringend anderswo investieren möchte, und ziehe mich deswegen zurück.“

Eine Form des Selbstschutzes, die sich mittlerweile zum Phänomen verdichtet hat. Die britische „Times“ widmete dem Exodus aus der virtuellen Bassena einen Artikel mit dem polemischen Titel „Facebook-Selbstmord – wie Online-Freundschaften das reale Leben zerstören können“. Paradoxon eines radikal-demokratischen Netzwerks, in dem Gruppen von „Ficken für den Weltfrieden“ bis zu rechtsextremen Formationen wie „Holocaust-Leugner, vereinigt euch“ zumindest eine Zeit lang unzensuriert online gehen konnten: Auf Facebook bilden sich immer mehr Gesinnungsgruppen mit der Parole „Massenselbstmord im Facebook – kill dein Profil, bevor es dich killt“.

Einsamkeit. Im Mai gründete der niederösterreichische Web-Entwickler Dieter Willinger „aus einem persönlichen Frust mit diesen Sites heraus“ das Forum www.ausgestiegen.com, auf dem sich bislang zirka 200 Deserteure aus Facebook und anderen sozialen Netzwerken wie StudiVZ und MySpace über „das Ende ihres digitalen Lebens“ austauschen können: „Die meisten sind in eine Welle hineingeraten – beim Auftauchen haben sie bemerkt, dass der persönliche Nutzen gegen null tendiert. Viele haben auch erst spät realisiert, dass Daten- und Persönlichkeitsschutz ein prekäres Thema sind.“ Er selbst „lebt“ noch im Facebook: „Allerdings nur, um auf die Aussteiger-Site aufmerksam zu machen.“ Dort begründete eine 20-jährige Jessica zuletzt ihren Exodus mit dem Satz: „Ich bin dann mal weg, weil die Einsamkeit unter hunderten von Freunden unerträglich sein kann.“

Dass exzessive Facebook-Existenzen durchaus Suchtpotenzial – mit Konsequenzen wie sozialer Isolation, Verwahrlosung, Depressionen, Vernachlässigung des Körpers, Gewichtszunahme, Konzentrationsunvermögen und Karriereeinbrüchen – bergen können, ist inzwischen durch Studien und Statistiken belegt, wobei die meisten Daten aus den USA und Großbritannien stammen. Im deutschsprachigen Raum sind „in der Altersgruppe von 13 bis 27 Jahren rund drei Prozent aller Internet-User online-süchtig“, erklärt der Psychologe und Suchtforscher Kai Müller, der an der ersten, 2008 gegründeten deutschsprachigen Ambulanz für Computerspiel- und Internetsucht an der Universitätsklinik Mainz tätig ist. In seinem Behandlungsalltag konstatiert Müller eine „deutliche Verschiebung“ zur „Online-Community-Sucht“: „Früher dominierten Spiele und Porno-Sites das Suchtverhalten – jetzt wenden sich zunehmend Patienten an uns, die ihren Beruf, ihre Freunde oder ihr Studium verloren haben, weil sich ihre ganze Existenz auf das Leben in Netzwerken wie Facebook konzentriert hat. In der deutschsprachigen Forschung wurde diese Änderung bislang ausgeblendet.“

Alarmierend. „Natürlich würde ich wie jeder Süchtige nie von mir behaupten, dass ich süchtig bin“, erklärt der Musikproduzent Walter Gröbchen, der die Abgründe des digitalen Lebens am Dienstag dieser Woche auf der Bühne des Rabenhofs unter dem Titel „Menschmaschine“ in Form „eines bunten Abends“ zu untersuchen gedenkt: „Aber das Erste und das Letzte, was meine Freundin von mir sieht, ist ein Mann, der in Facebook hängt.“

Eine repräsentative Untersuchung des Center of Digital Future an der University of Southern California zum Medienkonsum erbrachte im vergangenen Juni alarmierende Zahlen: Zwischen 2005 und 2008 sank die Zeit, die der Durchschnittsamerikaner monatlich mit seiner Familie verbringt, um 30 Prozent – von 26 auf 18 Stunden. Das Gros der Befragten begründete die Reduktion des Familienlebens mit Online-Konsum, allen voran Facebook.

Zwanghaft. Der Leiter der Untersuchung, der US-Kommunikationspsychologe Michael Gilbert, prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Facebook Addiction Disorder“. Besonders gefährdet seien „exhibitionistische, voyeuristische und manische Persönlichkeitsstrukturen, deren Verlangen nach Anerkennung und Aufmerksamkeit durch regelmäßigen Konsum ständig steigt und zwangsläufig frustriert werden muss“. Der deutsche Suchtspezialist Kai Müller fügt noch hinzu, dass auch „Menschen mit geringem Selbstwertgefühl und sozialer Kompetenz sowie Depressive“ wahrscheinlicher „ihr soziales Leben in den vermeintlich geschützten und kontrollierbaren Raum einer Online-Community verlagern.“

Im März ergab die Umfrage eines britischen Meinungsforschungsinstituts über das Suchtverhalten unter 3000 Menschen unter 30, dass Facebook (nach Kaffee und Schokolade) bei den Befragten am häufigsten „zwangartiges“ Verhalten provoziere. Auf Platz vier der Laster-Charts rangierte überraschenderweise das Phänomen Eitelkeit – ein Charakterdefizit, das bei einer von Selbstdarstellung geprägten Plattform wie Facebook permanent Befriedigung erfährt. Auf Platz sieben lag Celebrity-Klatsch, wodurch sich der Kreis exzessiver Facebook-Aktivität wieder schließt. Besonders Jugendliche tendieren dazu, sich in den ihren Profilen angehängten Fotoalben in Model- und Partyposen zu präsentieren. Ästhetisch sind diese Bilder von jener Paparazzi-Stilistik geprägt, mit denen ihre Idole wie Lindsay Lohan oder Paris Hilton auf den Klatschseiten bloßgestellt werden. So kreieren sie unbewusst die Illusion, selbst Teil jener Prominentenmaschinerie zu sein, die sie in Zeiten vor der Web-2.0-Revolution nur in der Rolle des Zaungastes beobachten konnten.

„Früher lebte man und war nebenbei online; heute ist es umgekehrt“, konstatierte die „New York Times“ die steigende Aufenthaltsdauer im digitalen Paralleluniversum, die auch Finanzschäden in Milliardenhöhe nach sich zieht. Das internationale IT-Security-Unternehmen Sophos erhob Ende 2007 die Beeinträchtigung der Produktivität am Arbeitsplatz durch Facebook: 14,8 Prozent der Befragten gaben an, das Treiben ihrer Facebook-Freunde den ganzen Tag im Büro im Auge zu behalten; acht Prozent bekannten sich dazu, bis zu zehnmal täglich von ihrem Schreibtisch aus ihr Profil zu überprüfen; 20 Prozent bekannten sich dazu, dabei eine „Art Suchtverhalten“ an den Tag zu legen. Eine Studie des britischen IT-Unternehmens Global Secure Systems bezifferte den Facebook-bedingten volkswirtschaftlichen Jahresschaden in Großbritannien mit 7,5 Milliarden Euro – durch Arbeitszeitverlust und verschwendete Bandbreite. Für die USA erhob der Hightech-Berater Basex einen jährlichen finanziellen Verlust durch Online-Trödelei am Arbeitsplatz von 464 Milliarden Euro. Der Trend dürfte so bald nicht gebrochen werden: Laut Google Ad Planner, einem Unternehmen, das weltweit Seitenbesuchszahlen erhebt, frequentieren täglich rund 50 Millionen Besucher 23 Minuten lang ihr Facebook-Profil. Eine nicht nur für Arbeitgeber beunruhigende Entwicklung, die „zunehmend den Zugriff auf soziale Netzwerke während der Geschäftszeiten sperren – vorrangig wegen des Produktivitätsverlusts, aber auch aus Sorge, Mitarbeiter könnten dort Dinge von sich preisgeben, die für das Unternehmen peinlich sind“, so ein Sophos-Sprecher. Denn das Gedächtnis von Facebook ist nahezu unauslöschlich. Selbst im Fall einer Deaktivierung des Profils bleiben sämtliche Daten beim Betreiber. Auf Anfrage von profil erklärte eine deutsche Facebook-Unternehmenssprecherin, dass die Konservierung des User-Materials praktische Gründe habe – viele Facebook-Deserteure würden nach einiger Zeit ihren Account reaktivieren. Man empfahl, einen allfälligen Löschantrag per E-Mail mitzuteilen. Inzwischen gibt es für die Vernichtung sämtlicher Spuren einen gut versteckten Lösch-Button im Hilfebereich. Dass Personalchefs und Headhunter sich über die Persönlichkeit ihrer Bewerber via Facebook informieren, gehört inzwischen zum üblichen Procedere. Die Ehefrau des britischen Geheimdienstchefs John Sawers sorgte im Juli für Aufsehen, als sie Urlaubs- und Partyfotos auf Facebook stellte und ihren Mann dadurch beinahe zum Rücktritt zwang.

Datenschatz. Dass Facebook das Datenmaterial seiner Klienten nur widerwillig herausrückt, hat finanzielle Gründe. Denn bislang sind alle sozialen Netzwerke, selbst das mit Abstand erfolgreichste, kein profitables Geschäft. Pro User muss Facebook etwa einen Dollar in die Errichtung des Profils investieren, bislang insgesamt 250 Millionen Dollar, konnte im Gegenzug aber nur 50 Millionen Dollar einnehmen. Es gilt also, aus dem enormen Fundus an Benutzerdaten Kapital zu schlagen, indem man sie in einer rechtlichen Grauzone an Produkthersteller und die Werbewirtschaft weiterreicht.

Erstaunlich ist, dass 40 Prozent der Facebook-Konsumenten von der Generation der Anfangsdreißiger gestellt werden, was mit der Vereinsamung in der Single-Kultur zu erklären ist. Und noch bemerkenswerter scheint, dass die jungen Erwachsenen weitaus häufiger von ihren „Cyberfamilas“ abhängig werden als die „digital natives“.

„Bei Teenagern ist jede Form von Online-Sucht weitaus flüchtiger als bei jungen Erwachsenen“, so Kai Müller. „Auch bei sozialen Netzwerken – nach dem exzessiven Nutzen über einige Monate schwindet ihr Interesse merklich, die älteren sind weit anfälliger für dauerhafte Sucht, weil ihnen die soziale Kompetenz durch ihre virtuelle Obsession schneller verloren geht.“

In China existieren inzwischen jedoch 400 Internet-Entzugscamps, in denen jugendliche Computer-Junkies auf Betreiben ihrer Eltern mit Methoden wie Prügel und Elektroschocks von ihrer Sucht geheilt werden sollen. Die Sanktionen der „Erzieher“ führten kürzlich sogar zum Tod eines 15-Jährigen, der die Schläge nicht überlebte.

Generelles Internetverbot, darin sind sich Pädagogen und Psychologen einig, würde bei Kindern unter Suchtverdacht ins Leere führen. Alarmierend sind Symptome wie kontinuierlich steigende Zeit vor dem Computer, Stilllegung aller „Offline“-Aktivitäten und zunehmende Gereiztheit. Kai Müller rät bei solchen Auffälligkeiten „zur Vereinbarung von Online-Zeitkontingenten, bei deren Verstoß die Sanktionsmaßnahmen im Vorfeld abgesprochen werden sollten“.

Das Internet pauschal als Teufelswerk zu verdammen – wie in den siebziger Jahren den Fernseher – gilt in der Wissenschaft als unzeitgemäß. „Seit Sokrates, der sich darüber aufregte, dass Philosophie in Schriftform und nicht mehr im Dialog betrieben wurde, wird jedes neue Medium verteufelt“, sagt der US-Kommunikationsforscher Steven Johnson. „Ich kann den Kulturpessimisten nur antworten: Diese Generation liest und schreibt so viel wie keine andere zuvor.“

Gegen das Eltern-Lamento, dass keine Bücher mehr gelesen würden, hat sich der deutsche Kolumnist Axel Hacke eine effiziente Methode ausgedacht: „Ich habe meinem Sohn für jedes gelesene Buch fünf Euro bezahlt. Das funktionierte einwandfrei.“

Mitarbeit: Tina Goebel

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.