Die Vermessung der Durchschnittlichkeit

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Durchschnittlichkeit

Literatur. Daniel Kehlmann festigt mit seinem jüngsten Roman „F“ seinen Ruf als souveräner Erzähler

Drucken

Schriftgröße

Wie und wo ist die Literatur des Daniel Kehlmann einzuordnen? Ist der gebürtige Münchner, der in Wien aufwuchs, ein klassischer Erzähler, dem es wichtig ist, packende Geschichten zu entwerfen? Oder doch ein postmoderner Autor, dem die Dekonstruktion seiner Stoffe zentrales Anliegen ist? Sind seine wissenschaftsprallen Romane auf Bildungsbürger zurechtgeschnitten – oder ironisiert er subtil die Bildungshuberei? Nimmt er seine Figuren ernst, oder macht er sich dreist über ihre Defizite lustig?

Die Antwort muss ambivalent ausfallen: Daniel Kehlmann, dessen historischer Roman „Die Vermessung der Welt“ (2005) sich allein im deutschsprachigen Raum 2,3 Millionen Mal verkaufte, ist ein Sowohl-als-auch-Autor: altmodisch in seinen Haltungen, aber ironisch in seinem Zugang, was einen nicht unwesentlichen Teil seines Erfolgs ausmacht. Er glaubt an seine Figuren, lässt sie jedoch gnadenlos scheitern und kostet dabei jede Peinlichkeit aus. Er packt philosophische Fragen an, protzt durchaus mit Bildung – und hat zugleich ein Faible für Allgemeinmenschliches. Er liebt Exzentriker und extreme Protagonisten, die an ihren Ansprüchen ebenso kläglich scheitern wie Durchschnittsbürger. Daniel Kehlmann ist der große Versöhner, der alle ein wenig anspricht. Er legt große Stoffe in profanen Zeiten vor.

Wirtschaftskrise, Religionsvakuum und Kunstbetrug
Thematisch ist sein jüngster Roman „F“ (er erscheint diese Woche) ein kühner Entwurf. Wirtschaftskrise, Religionsvakuum und Kunstbetrug: Brisante weltanschauliche Fragen hat Kehlmann nie gescheut, in „F“ treten sie nun geballt auf, festgemacht an drei sehr verschiedenen Brüdern, denen eines gemeinsam ist: Sie wirken auf ihre Umwelt anders, als sie in Wahrheit sind. Zwischen Selbstbild und Außenwahrnehmung klafft ein Abgrund. Sie sind Lügner, Betrüger und Heuchler. Jedem dieser Hochstapler ist ein Kapitel gewidmet, aus der Ich-Perspektive erzählen sie von ihren inneren Widersprüchen und legen dar, wie sie die Welt, die sie umgibt, wahrnehmen.

„Das ist ein Mysterium“
Martin Friedland, der esssüchtige katholische Priester, glaubt nicht an Gott, vor religiösen Diskursen hat er Angst, versucht sie stets mit dem Standardsatz „Das ist ein Mysterium“ abzuwürgen. Sein Halbbruder Eric, der korrupte Anlageberater, wird von Dämonen gequält und fürchtet, dass seine Geldbetrügereien ihn bald ins Gefängnis bringen werden. Ihm kommt die Wirtschaftskrise sehr gelegen, löst sie doch überraschend sein Problem: Plötzlich fragt nämlich keiner mehr, wohin das viele Geld verschwunden ist. Und schließlich ist da noch Erics Zwillingsbruder, der homosexuelle Iwan, der schon als Kind ein bedeutender Maler werden wollte, aber nun als Kunstfälscher erfolgreich ist.

In Kehlmanns Roman wirkt vom ersten Satz an eine Aura des Unheimlichen, Bedrohlichen. Es hätte ein netter Familienausflug der drei pubertierenden Brüder mit ihrem Vater Arthur werden sollen. Doch bereits auf den ersten Seiten wird Martin beinahe von einem Auto überfahren. Noch als Erwachsener wird ihn das Gefühl quälen, sein Dasein hätte sich damals gespalten; nie wird er den Verdacht los, an diesem Nachmittag auf der Straße tatsächlich gestorben zu sein. Nicht minder abgründig ist der gemeinsame Besuch einer Hypnose-Show. Arthur, bislang erfolgloser Autor, erhält in Trance den Auftrag, sich in Zukunft mit seiner Kunst anzustrengen, koste es, was es wolle. Das hat Folgen: Kurzerhand verlässt der Vater seine Familie und schreibt höchst irritierende Bücher, die einige Leser sogar in den Selbstmord treiben.

Kehlmann erweist sich in seinem jüngsten Roman als dunkler Romantiker. „Die Welt ist in dir, und du bist nicht da“, heißt es an einer Stelle bedeutungsschwer. Seine Figuren sind nicht in sich zu Hause. Aber weil sie einfach nur ausführen, was die Umwelt von ihnen verlangt, haben sie Erfolg im Leben. Ein durchaus zynischer Gesellschaftsbefund. „Hochstapler hatten immer schon gute Chancen, unbeschadet durchs Leben zu kommen“, sagt Kehlmann nun im profil-Interview: „Statistisch gesehen sind es auch jene Verbrecher, die am seltensten vor Gericht stehen – weil sie genau das sagen, was die Richter von ihnen hören wollen.“

Wie frei ist der Mensch wirklich?
Wie auch „Das größere Wunder“, der neue Roman von Thomas Glavinic, ist „F“ ein aberwitzig konstruiertes Buch, das ganz grundsätzlichen Fragen nachgeht: Wie frei ist der Mensch wirklich? Beide Bücher finden sich auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Doch anders als Glavinic, der Kitsch nicht scheut, schürft Kehlmann tiefer. „F“ ist ein verstörendes, vielschichtiges Buch geworden, das den Ruf Kehlmanns als eines souveränen Autors festigt. Die Geschichte ist zwar leichtfüßig erzählt, Kehlmann blickt in die Köpfe seiner Figuren, schmunzelt über deren Neurosen; seinen nicht geringen Witz bezieht der Roman aus der verschrobenen Selbstwahrnehmung seiner gehetzten Helden. Zugleich legt Kehlmann eine moderne Memento-Mori-Geschichte vor, eine tiefschwarze Todesetüde, die ein zentrales Thema in der Literatur dieses Autors noch einmal vertieft: den schmalen Grat zwischen Alltag und Verderben.

In „F“ gibt es keinen strafenden Gott, die Welt ist chaotisch und banal. Der Autor geht in seiner eigenwillig gebrochenen Familiengeschichte der religionstheoretischen Frage nach, ob der Mensch denn ein Schicksal habe. Das große „F“ steht für „Fatum“, und das will sich für seine Figuren nicht so heroisch einstellen, wie sie es sich erträumt hatten. Einmal mehr kommt mit einem dubiosen Hypnotiseur eine Figur mit magischen Kräften vor.

Kehlmann verweist damit auf seinen nicht sonderlich erfolgreichen Debütroman „Beerholms Vorstellung“. Als 22-Jähriger porträtierte er einen Magier, der keine Tricks mehr vorführen, sondern wahre Wunder vollbringen wollte. Diese stellen sich aber auch in „F“ nicht ein. Im Gegenteil: Gotteszweifel und die Frage nach individueller Freiheit, nach Schuld und Sühne, sind jene entscheidenden Motive, die sich quer durch den Roman ziehen, der thematisch an Dostojewskis Meisterwerk „Die Brüder Karamasow“ anknüpft. Kehlmann zeigt drei schillernde Menschen, die sich zu Höherem berufen fühlen, aber dabei in den alltäglichen Niederungen gefangen bleiben. Exzentrik und Durchschnittlichkeit liegen eben oft nicht so weit voneinander entfernt, wie man gern annehmen möchte.

Am 8. September liest Daniel Kehlmann um 11 Uhr im Theater in der Josefstadt aus seinem Roman. Im Anschluss ­Diskussion und Signierstunde.
Infos: www.josefstadt.org

Karin   Cerny

Karin Cerny