Das kleine Liebeswerk

Missbrauch. Missbrauchsvorwürfe gegen den Sohn des Hitler-Vertrauten Martin Bormann

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Frohbotschaften klingen anders. Kurz vor Weihnachten musste Wiens Erzbischof Kardinal Schönborn verkünden, dass im abgelaufenen Jahr 80.000 Katholiken der Kirche den Rücken kehrten. So viele Gläubige hatte nicht einmal die vor fünfzehn Jahren durch profil bekannt gewordene Missbrauchsaffäre um Kardinal Hans Hermann Groer vertrieben. Die bisherigen Bemühungen, den Opfern gerecht zu werden, lösten bei vielen von ihnen Wut und Enttäuschung aus. Eine kirchenunabhängige Plattform will die Peiniger daher jetzt „ohne Rücksicht auf Rang und Ansehen“ öffentlich machen.

Seit Groer wurde kaum ein Missbrauchs­priester beim Namen genannt. Ein bisher unbekannter Verdachtsfall zerstört den Mythos eines in der Zeit- und Kirchengeschichte einzigartigen Ordensmannes: Martin Bormann, der älteste Sohn von Hitlers Reichsleiter und Vertrauten, soll sich an einem Zwölfjährigen schwer vergangen haben. Der heute 63-jährige Victor M.* war Anfang der sechziger Jahre in einem Elitegymnasium der Herz-Jesu-Missionare in Salzburg Zögling und Bormann sein Erzieher.

profil besuchte den heute 80-jährigen Bormann in Deutschland, konfrontierte den Orden, sprach mit ehemaligen Mitschülern. Sie zeichnen das Bild eines Nachkriegsregimes hinter Klostermauern, in dem Buben neben ständiger religiöser Disziplinierung körperlicher Gewalt und militärischem Drill ausgeliefert waren. „Es tut immer noch sehr weh. Sie sehen, dass mir beim Erzählen ­Tränen kommen, obwohl ich eine Psychotherapie gemacht habe“, sagt ein heute 62-jähriger Ex-Zögling. Bormann, damals 30, war sportlich-gestählt, geheimnisumwittert, eitel, von jähzorniger Härte und brutal. Drei ehemalige Schüler berichteten profil, er habe Buben blutig geschlagen, einer blieb bewusstlos liegen.

Besuch aus Wien.
Pastellfarbene Häuser mit Holzläden, davor gepflegte Gärten. In einer kleinen, mitteldeutschen Stadt führt eine Gasse einen Hügel hinauf. An einer Türklingel, unscheinbar, der Name: Bormann. Eine hagere Frau öffnet. Seit Tagen könne sie an nichts anderes denken als an den Besuch aus Wien.

Ihr Mann muss einmal eine stattliche Erscheinung gewesen sein. Jetzt ist er ausgemergelt, von Alter und Krankheit gezeichnet: Martin Bormann, einer der reuigsten Bekenner der Schrecken des NS-Regimes, ist in katholischen Kreisen durch seine Autobiografie „Leben gegen Schatten“ geläufig. Nur kurz streift er darin die Zeit zwischen dem Sommer 1959 und dem März 1961, als ihm die Jüngsten des Internatsgymnasiums in Salzburg-Liefering anvertraut waren. Bormann nimmt das alte Foto in die Hand, das profil mitgebracht hat: Victor M., ein Bub mit lockigen Haaren, weichen Zügen. „Das ist ja ein Madl“, sagt Bormann nur, und legt es auf den Tisch zurück.
Tausend Kilometer von ihm entfernt lebt Victor M. in einer chaotisch vollgeräumten Wohnung in Wien, Zigaretten und eine Schüssel mit Medikamenten, von denen er nach zwei Schlaganfällen und einer Herzoperation jeden Tag eine Handvoll nimmt, in Griffweite. An den Wänden, am Boden, auf Möbeln, überall alte Gemälde, Reliquien aus seinem früheren Leben. Der Sohn eines französischen Adeligen und NS-Zwangsarbeiters lebte sein Leben wie einen atemlosen Film: Alkohol, schnelle Autos, Glitzer, Gewalt. Er habe versucht, seine belastende Kindheit und „den ganzen Scheiß im Kloster zu vergessen“. Heute ist er 63, Jogginghose und Pullover schlottern um ­seinen Körper. Wie ein Gespenst sitzt er auf dem Sofa, zusammengehalten nur mehr von seiner Ohnmacht und seinem Hass.

„Ich war ein Bub, so klein, und dann ein Erwachsener, der Penis, so groß, was das für Schmerzen waren. Können Sie sich das vorstellen?“ Victor M. war zwölf, zarter als alle anderen, als ihn seine Mutter in das Gymnasium der Herz-Jesu-Missionare steckte, um einen Priester aus ihm zu machen. Bereits am ersten Tag habe ihm Pater Bormann gezeigt, „wer der Herr ist“. Er sei eben erst mit einem Koffer die Treppen zum Schlafsaal hinaufgegangen. Victor M. fingert einen Zettel hervor und sucht einen Bleistift. Dann zeichnet er die Rinne und die Wasserhähne auf, unter die er geschleudert wurde, als Bormann „zur Begrüßung“ mit der Hand ausholte.

Vergewaltigt.
Drei Tage später habe er den Pater „in einem Kammerl“ oral befriedigen müssen: „Ich wusste gar nicht, wie das geht.“ Danach sei Bormann dazu übergegangen, ihn anal zu vergewaltigen. Ein Jahr lang, mehr als ein Dutzend Mal. „Keiner wird dir glauben“, habe Bormann gesagt. M. erzählte es seiner Mutter. Bis heute kann er ihr nicht verzeihen, dass sie ihm tatsächlich nicht glaubte. „Sie hätte nur mit mir zum Arzt gehen müssen.“ 1982, als er sie das letzte Mal sah, schlug er ihr ins Gesicht. Vor zwei Jahren vertraute sich Victor M. schließlich seiner Sachwalterin an. Sie meldete den Fall der Plattform Betroffene kirchlicher Gewalt.

Vergessen konnte Victor M. ebenso wenig wie seine Mitschüler. Sie alle berichten über ein von allen Spielarten der religiösen und körperlichen Disziplinierung geprägtes System, „mit eigener Sprache und eigenen Gesetzen, wie in einem Gefängnis oder Lager“. Gewalt sei alltäglich gewesen. Im Schlafsaal, im Stiegenhaus, im Studiersaal: „Wurde einer beim Schwätzen erwischt, wurde gedroschen.“ Bormann, in der NS-Elite­schule vormilitärisch gedrillt, konnte sich als allmächtiger Erziehungspräfekt ungehindert austoben. Die Zöglinge waren in dieser Nachkriegsgesellschaft hinter Klostermauern hilflos. Manchmal hatten ihre Eltern sie an der Pforte mit den Worten abgegeben: „Der braucht eine feste Hand.“

In seiner Schlafkammer hatte der nach dem Krieg zum Katholiken geläuterte Pater Bormann ein Porträt seines Vaters stehen, der in Abwesenheit als NS-Hauptkriegsverbrecher verurteilt worden war. Bormann war im engsten Hitler-Umfeld aufgewachsen, hatte als 14-Jähriger die Fahrausbildung für die Karossen der „Führerkolonne“ absolviert. Viele seiner späteren Internatsschüler hingegen kamen aus katholischen Arme-Leute-Verhältnissen, waren von den Patres in den Dörfern Osttirols und im bayrisch-salzburgischen Raum als künftige Missionare ausgesucht worden. Anfang der sechziger Jahre war ihm nicht nur M., der schmächtige Sohn eines NS-Zwangsarbeiters, unterworfen, sondern auch der Großneffe eines Widerstandskämpfers und KZ-Häftlings sowie der Sohn eines Wehrmachtsdeserteurs.

Die Internatskinder, die jüngsten gerade zehn, durften nur dreimal im Jahr ihre Familie besuchen. Briefe mussten den Präfekten offen überreicht werden. „Alles war bedrohlich, ich fühlte mich unendlich einsam, hatte Angst und konnte mich niemandem anvertrauen“, charakterisiert ein ehemaliger Schüler die Erfahrung des totalen Ausge­liefertseins. Man habe sie brechen wollen, das Internat nannten die Buben Pfarrer­zuchtanstalt. Ein früherer Zögling: „Meine erste Aufklärung nach der Ankunft war
die Mitteilung, dass die Präfekten Züchtigungsrecht haben.“ Ein anderer: „Meine Klasse überlebte nur, weil wir uns zusammenschlossen.“

Ein Mann, der 1958 in das Herz-Jesu-Internat eintrat: „Alle Präfekten, die im Internat Dienst versahen, haben geschlagen.“ Zwei von ihnen seien besonders menschenverachtend und sadistisch gewesen, während Bormann auch fürsorglich sein konnte. Ihn selbst hatte Pater Bormann einmal beim ­Reden ertappt – im Schlafsaal herrschte Schweigegebot – und ihm von hinten seine Faust auf den Kopf gedonnert. Der Bub verlor das Bewusstsein und wurde von Bormann – „das Zamperl (Bayrisch für Schwächling, Anm.) werden wir wieder zum Leben bringen“ – mit kaltem Wasser übergossen. Ein anderes Kind habe Bormann mit solcher Wucht gegen eine Wand geknallt, dass sein Gesicht blutüberströmt war. Ein einziger Ort im Internat, das in einem ehemaligen erzbischöflichen Jagdschloss untergebracht ist, habe Zuflucht geboten. Es war das Krankenzimmer.

Dass „Zucht und Ordnung im wahrsten Sinn des Wortes“ herrschten, ist auch in einem Erinnerungsband zu lesen, den der ehemalige Schüler Bernd Lerch verfasst hat. Darin wird auch das „Kleine Liebeswerk“ vorgestellt. Unter diesem – angesichts der aktuellen Vorwürfe zynischen – Motto sammelten die Patres landauf, landab für bedürftige Zöglinge.

Gewaltexzesse.
Die Herz-Jesu-Missionare wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich gegründet und begannen um 1880 die deutschen Kolonien in der Südsee, damals Ozeanien, heute Papua-Neuguinea, zu missionieren. Der heutige Provinzial für den salzburgisch-bayrischen Raum, Pater Walter Licklederer, war selbst von 1956 bis 1964 Zögling des Internats in Liefering. An den militärischen Drill erinnert er sich, nur habe er „das nicht so schlimm“ erlebt. Von profil mit den massiven Anschuldigungen gegen Pater Bormann und weitere Erzieher konfrontiert, sagt Licklederer: „Ich bin erschüttert. Für mich persönlich war das Internat eine Chance, aber da dürften einige schon sehr gelitten haben. Dass manche Präfekten zugeschlagen haben, stimmt. Ich war selbst kein Opfer. Aber ich will nichts in Abrede stellen.“ Von den gewalttätigen Patres lebt heute nur noch Martin Bormann.

Den Umgang mit Sexualität beschreiben die ehemaligen Mitschüler von Victor M. als typisch für Klosterinternate der damaligen Zeit. Es gab das ständige Nachfragen des Beichtvaters nach „Unkeuschheiten“. Es gab das Verbot, Mädchen zu treffen. Gleichzeitig beobachteten die Schüler Kussszenen zwischen Patres und Nonnen. Ein aus Deutschland angereister Herz-Jesu-Ordensmann hielt Exerzitien, in denen er ausführlich jede Art von verbotener Sexualität erörterte. Ein Schüler las 1965 in einer Zeitung, ausgerechnet jener Pater sei wegen Missbrauchs eines Buben in Deutschland verurteilt worden. Er klebte den Ausriss auf die Klassentafel.

Victor M.s Qualen blieben seinen Mitschülern verborgen. „Komisch“ erschien ihnen schon damals an Bormann einiges. Dass er mit ausgewählten Burschen eine mehrwöchige Sommerwanderung unternahm, über die es nachher hieß, im Zelt sei es zu Annäherungen des Paters an Schüler gekommen. Und schließlich sein besonderes Verhältnis zu seinem Lieblingsschüler, einem blonden, hochgewachsenen Münchner. Als ein Bub den Bormann-Liebling einmal beleidigte, forderte ihn der Erzieher zum Boxkampf heraus. Alle anderen mussten mitansehen, wie der Bub dem athletischen Ordensmann ängstlich auswich. „Bormann hat ihn dann vor uns niedergeschlagen. Das war für uns alle furchtbar“, sagt einer. Ein Ex-Zögling brachte diese Gewaltexzesse vor zehn Jahren bei einem Elternabend zur Sprache. Die Patres schwiegen betreten. Von Nachforschungen ist nichts bekannt.

Damals reiste Bormann als Vortragender durch Deutschland und Österreich. Ein ehemaliger Zögling fasste sich nach einem dieser Auftritte ein Herz und fragte den Theologen, warum er ihn als Kind bewusstlos ­geschlagen hatte. Bormann wich aus. „Martin, hast du geschlagen?“, hakte seine Frau nach und drängte ihn, sich zu entschuldigen, was Bormann schließlich auch tat.
Ein ehemaliger Banknachbar von Victor M. schrieb, so wie viele, heimlich seine Internatserlebnisse in kleine Hefte. Am 13. Jänner 1960 notierte er: „Hatten zwei Stunden Turnen bei Pater Bormann. Danach haben wir uns in der Turnhose ohne Leiberl in den Schnee gelegt. Das war die Mutprobe!“ Er selbst sei von Bormann nicht drangsaliert worden. „Ich weiß nur noch, dass Bormann erzählt hat, wie er im Volkssturm mit zwanzig Leuten und zwei MGs einen Gefangenentransport bewacht hat. 2000 Leute waren das angeblich. Da muss er 15 gewesen sein, und er war sehr stolz darauf.“

Nasentortur.
Die Zöglinge lernten früh, Gewalt zu unterscheiden. Manche ihrer Erzieher, so wie Bormann, fanden sie „brutal“, andere „gemein“. Ein Präfekt, die Buben nannten ihn „Schläger Joe“, liebte es, seinen Finger so heftig in die Nase zu stoßen, dass die Schleimhäute bluteten. Von 32 Kindern in der ersten Klasse schafften es nur neun bis zur Matura. „Unser klügster Schüler hat jede Nacht ins Bett gemacht und ging als Erster“, sagt der frühere Mitschüler. Nach der Matura im Jahr 1967 hätten sie den besagten Präfekten gern krankenhausreif geschlagen: „Das war nicht nur im Spaß gesagt, sondern ganz ernst gemeint.“ Die Furcht vor der Strafe habe sie davon abgehalten. Danach trennten sich die Wege der ehemaligen Zöglinge. Victors Banknachbar ging an die Uni, wurde ein 68er und setzte sich, wie auch andere Herz-Jesu-Zöglinge dieses Jahrgangs, in Therapien und als Wissenschafter mit dem Phänomen Gewalt auseinander.

Victor M. hat nie eine Therapie gemacht. Seine Ärztin und Psychiaterin diagnostizierte eine posttraumatische Belastungs- und Anpassungsstörung. Die Ursache: ein Trauma. Victor M. kam 1947 in Frankreich zur Welt. Schon als kleiner Bub bekam er mit, wie der Vater die Mutter schlug. Als er acht war, kehrte sie nach Salzburg zurück. Hier besuchte er die Volksschule, dann schaffte er die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium der Herz-Jesu-Missionare. Victor M. war Ministrant, Sängerknabe, doch er hörte bald auf, ein guter Schüler zu sein, und wurde, wie er selbst sagt, ein „Querulant“. Warum, fragte niemand. Nach etwas mehr als einem Jahr wurde er nach Birkeneck gesteckt, in ein Heim für schwer erziehbare Kinder, das ebenfalls vom Herz-Jesu-Orden geführt wurde. Dort habe ihm der Direktor mit der hohlen Hand auf das Ohr geschlagen. Sein Trommelfell sei zerrissen. Doch das sei „nichts gewesen“ im Verhältnis zu dem, was ihm Bormann angetan habe.

Mit 15 flüchtete Victor M. aus dem Heim. Er schüttete jeden Tag so viel Whiskey in sich hinein, wie er nur konnte, verdingte sich mit Gelegenheitsjobs, landete im Gefängnis, heiratete, bekam drei Kinder, schlug seine Frauen, bekam seine Wut nicht in den Griff. 1969 suchte er seinen Vater in Frankreich. Durch ihn bekam er Zugang zu Künstlerkreisen, war mit Marc Chagall und Pablo Picasso per Du. Anfang der siebziger Jahre begann Victor M. mit allem zu handeln, was ein Vermögen brachte: Diamanten, antikem Schmuck, wertvollen Gemälden. Von den Vergewaltigungen im Internat habe er niemandem erzählt, sagt er.

Erst später habe er eine seiner Töchter ins Vertrauen gezogen. Als ihn seine heutige Sachwalterin vor 16 Jahren kennen lernte, war er schwer krank, hatte kein Geld mehr, keine Freunde, keine Sozialversicherung, seine Kinder verachteten ihn, und er hatte immer noch eine unglaubliche Wut. Seine Betreuerin: „Es waren unkontrollierte Anfälle. Und dann hat er immer von diesem Pater Bormann geredet und gesagt, der ist im Kongo von den Negern gefressen worden, und das hat er verdient.“ Vor zwei, drei Jahren erfuhr sie von der Tochter, M. sei in seiner Kindheit missbraucht worden.

Beim profil-Gespräch sitzt Martin Bormann auf seiner Couch und will oder kann sich weder an die Zeit im Internat der Herz-Jesu-Missionare noch an sein „Kammerl“, noch an den Buben Victor M. erinnern. Zwei Stunden lang kreist das Gespräch um dieses Loch. Frau Bormann, eine Frau mit fast unglaublichem Mut zur Wahrheit, deutet mehrmals auf das Foto des Buben. „Es ist so, dass dieser Victor M. keinen Frieden hat und du ihm diesen genommen hast. Ich würde dir helfen, einen Brief zu verfassen, in dem du sagen kannst, es tut dir leid.“ „Was soll mir leidtun?“, fragt er. Sie insistiert fast flehentlich: „Es muss in Ordnung gebracht werden, koste es, was es wolle.“ Der Blick, mit dem Martin Bormann sie ansieht, wirkt hilflos: „Ich weiß nicht, worum es geht.“ Als sie aufsteht, ist Frau Bormann den Tränen nahe. Der Besuch aus Wien sei zwei Jahre zu spät gekommen.