Das Mädchen in der Mülltonne

Drogen. Mit 15 starb Melanie an einer Überdosis

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Mittwoch vergangener Woche wurde Melanie in Groß St. Florian, einer kleinen Gemeinde in der Weststeiermark, verabschiedet. Ihre Mutter war da, die Großeltern, ihre Tante und viele Jugendliche. Pfarrer Martin Waltersdorfer hatte für seine Trauerrede eine Stelle aus Lukas 23 ausgewählt. Er sprach über die Schwere des Kreuzes, das die Angehörigen zu tragen hätten und das auch das Mädchen zu tragen gehabt habe, das drei Monate vor ihrem 16. Geburtstag an einer Überdosis Drogen gestorben war.

Am 24. März hatte ein Gemeindearbeiter am Morgen den Mistplatz neben der Schule gekehrt. Die gelbe Tonne für den Plastikmüll ließ sich nicht verschieben. Als er sie öffnete, ragte ein menschliches Bein heraus. Die Gerichtsmedizin sagt, Melanie sei vermutlich in der Nacht von Freitag auf Samstag gestorben. An ihren Armen waren frische Einstiche. Der toxikologische Befund wird klären, welche Substanzen das Mädchen in seinem Körper hatte.

Ein 21-jähriger Mann aus dem Ort war bei ihr, als sie starb. Am Tag zuvor waren die beiden nach Graz gefahren, um Stoff zu besorgen. Die Polizei forschte ihn schnell aus. Er wohnt bei seinen Eltern und ist selbst drogenkrank. Den Ermittlern sagte er, er und Melanie hätten sich die Drogen gespritzt, am Morgen sei sie leblos neben ihm gelegen. Er sei in Panik geraten, habe das tote Mädchen über die Straße zum Mistplatz geschleppt, es in den Plastikabfall gelegt und den Deckel zugemacht.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen unterlassener Hilfeleistung. Der Vater und der Bruder des 21-Jährigen haben keine Worte für die Öffentlichkeit: "Es gibt nichts zu sagen. Kein Kommentar.“ Die Familie ist wohlhabend und hat einen Namen in dem 3000-Seelen-Ort im Laßnitztal, in dem jetzt jeder über das tote Mädchen in der Mülltonne redet. Die Tageszeitungen berichteten darüber. Das Fernsehen war da.

Der 21-Jährige ist der Nachzügler einer alteingesessenen Familie, "tüchtige Unternehmersleute“, sagt einer aus dem Dorf. Nie habe es Hinweise gegeben, dass es beim Jüngsten "so in die falsche Richtung laufen könnte“. Ein Lehrer erinnert sich an ein munteres, sportliches Kind, das gut in Leichtathletik war, ein schneller Läufer. Nach der Schule verlor er den Buben aus den Augen. Als er ihm vor einem Jahr im Ort über den Weg lief, erschrak er: Sein ehemaliger Schüler sah aus wie jemand, dem es schlecht geht, abgemagert, dunkle Ringe unter den Augen. Die Eltern hätten alles versucht, um ihrem Sohn zu helfen. Er kam in ein Drogenersatzprogramm.

Beziehungsabbrüche.
"Meli“, wie sie ihre Freunde nannten, zog erst im Sommer 2009 nach Groß St. Florian. Sie war 14, und es war ihr immer schlecht gegangen. Im Alter von zwei Jahren kam sie von ihren Eltern weg, die in Krems in Niederösterreich lebten. Was Menschen befähigt, ihr Leben zu meistern, mit Schwierigkeiten und Ängsten fertigzuwerden, konnte sie nie entwickeln. Zu oft wechselten die Pflegefamilien und stationären Einrichtungen. "Sicher an die 15“ seien es im Laufe der Jahre gewesen, sagt ein Betreuer. Immer wieder musste sie sich an neue Orte gewöhnen, neue Bezugspersonen, Lehrer, Klassen, Freunde. Keine Beziehung hatte Bestand.

"Ich gebe grundsätzlich keine Auskunft“
, sagt die Direktorin der Polytechnischen Schule in Scheibbs. Da war Melanie zuletzt in die Schule gegangen, bevor sie ihrer Mutter nachzog, die sich vor drei Jahren mit den Halbgeschwistern und dem Stiefvater in Groß St. Florian niedergelassen hatte. Mutter und Tochter kamen miteinander nicht zurecht. In psychiatrischen Einrichtungen und Krisenzentren, in die man Melanie brachte, attackierte sie Betreuer und nahm Reißaus. Niemand wollte sie mehr nehmen. Die Jugendwohlfahrt musste "eine Maßnahme für sie entwickeln“, wie Helmut-Theobald Müller, Bezirkshauptmann von Deutschlandsberg, es ausdrückt.

Im Sommer 2010 zog Melanie, gerade 15 geworden, in eine Garçonnière in Deutschlandsberg, anfangs 70 Stunden im Monat betreut vom Verein Sozialmanagement, seit Februar 50 Stunden. Jeden Tag telefonierte sie mit ihrer Betreuerin. Eine Weile schien es, als würde sich das Mädchen stabilisieren. Melanie wollte die Schule abschließen und telefonierte alle paar Tage mit ihrer Mutter. Doch diese Phase hatte ebenso wenig Bestand wie alle anderen in ihrem kurzen Leben. Im Jänner 2011 schöpften die Betreuer Verdacht, Melanie könnte neben ihren ernsten psychiatrischen Problemen auch eines mit Drogen haben. Sie rieten ihr, aufzuhören oder an einem Substitutionsprogramm teilzunehmen.

Schneller Untergang.
Als die Polizei Melanie vor einigen Wochen aufs Wachzimmer mitnahm und auf Drogen hin kontrollierte, fanden die Beamten an ihren Armen noch keine Einstiche. Der Untergang kam offenbar mit ihrem letzten Freund. Am Freitag vor ihrem Tod sprach die Betreuerin noch mit ihr. Es war das Übliche: Streit mit der Familie, sonst alles so weit in Ordnung, endlich Wochenende. Danach war das Mädchen nicht mehr erreichbar. Es war nicht das erste Mal, dass Melanie spurlos verschwand. Einmal hatte sie ihr Handy weggeworfen. Immer wieder wechselte sie die Clique. Aber Melanie lag bereits tot in der Plastiktonne, als ihre Betreuerin und ihre Mutter noch hofften, sie würde auch dieses Mal wieder auftauchen.

"Eigentlich brauchen alle Menschen das Gleiche: Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit, konstruktive Kritik, füreinander da sein, nicht immer gleich die Polizei rufen“, sagt Ulf Zeder, Drogenkoordinator der Stadt Graz. Melanie hatte von klein auf nur abgebrochene Beziehungen und Enttäuschungen erlebt. Mit 15, kein Kind mehr und noch nicht erwachsen, beamte sie mit Drogen weg, womit sie nicht zurande kam. Heranwachsende brauchen integre Erwachsene, an denen sie sich aufrichten können. Sie suchen Ersatzmütter und -väter, wenn ihre Eltern diese Stelle nicht ausfüllen. "Für Melanie gab es von Anfang an niemanden“, sagt ein Betreuer.

Immer wieder müssen Sozialarbeiter miterleben, dass akademisches Wissen, Beratung und Betreuung versagen, wenn es nicht gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. "Menschlich bleiben, nicht verurteilen“, umschreibt das eine Streetworkerin aus Graz. Doch für die zunehmende Zahl an drogenkranken Jugendlichen, die nirgends bleiben, fehle es sowohl an Verständnis als auch an Einrichtungen: "Süchtige mag man nicht. Die sollen mit den Drogen aufhören und basta. Dass dahinter psychische Erkrankungen, Versagensängste und furchtbare Konflikte stehen, will man nicht sehen.“

Sechs Millionen Euro gibt der Bezirk Deutschlandsberg im Jahr für die Jugendwohlfahrt aus. 40 Jugendliche leben, so wie Melanie bis zu ihrem Tod, allein außerhalb ihrer Familien. Am 24. März um 8.27 Uhr bekam Müller die Meldung, dass in einem Mistkübel in Groß St. Florian ein Leichnam gefunden wurde. Jedes Jahr nehmen sich in seinem Bezirk zwischen 20 und 30 Menschen das Leben, fünf bis zehn kommen bei Verkehrsunfällen um. Melanie ist die erste Drogentote, an die Müller sich erinnern kann. Sofort begann die Suche nach Schuldigen. Ist betreutes Wohnen für eine 15-Jährige richtig? Hätte das Mädchen rund um die Uhr beaufsichtigt werden müssen? Soziallandesrat Siegfried Schrittwieser (SPÖ) forderte einen Bericht an und sagte: "Man darf nicht zur Tagesordnung übergehen.“

Für ihre Betreuer ist es kaum zu ertragen, dass sie Melis Tod nicht verhindern konnten. "Es tut weh, wenn sofort wieder die Jugendwohlfahrt schlechtgemacht wird. Gäbe es sie nicht, wären junge Menschen wie Melanie noch schlimmer dran“, sagt Sozialmanagement-Leiter Christian Stadler. Einen Tag nachdem der Leichnam des Mädchens geborgen wurde, demonstrierten in Graz Sozialarbeiter gegen die geplante Kürzung des steirischen Sozialbudgets um 25 Prozent. Sparen heißt für sie: noch weniger Zeit, noch weniger Zuwendung.

Hardliner rufen nach mehr Polizei und höheren Strafen. Das mache alles nur schlimmer, fürchtet Manfred Geishofer, Geschäftsführer der steirischen Suchtberatung b.a.s.: "Drogenkranke gehen ja nicht klar und orientiert durchs Leben. Oft sind es empfindliche, ängstliche Menschen, die sich nur mit Schmerzmitteln dem Leben stellen.“

Drohkulissen führen nur noch weiter in den Rückzug - und im Extremfall zu panischen Kurzschlusshandlungen. Viele Sozialarbeiter berichten über kollabierte Jugendliche, die einfach irgendwo liegen gelassen werden, weil ihre Freunde Angst haben, Hilfe zu holen. Rettung rufen bedeutet: Eltern, Jugendamt, Polizei.

Melanies 21-jährigem Freund aus Groß St. Florian fiel nur die Mülltonne ein, die am nächsten zu seinem Elternhaus stand. Als Melanie dort gefunden wurde, kam gerade ihre Mutter vorbei. Sechs Tage lang war ihre Tochter spurlos verschwunden gewesen. Als sie wieder auftauchte, war sie tot. Ihre Leiche wird eingeäschert. Die Mutter will die Urne bei sich zu Hause aufbewahren.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges