Der Avantgardist und Hitlieferant Haydn

Der Avantgardist und Hitlieferant Haydn: 2009 jährt sich der Todestag zum 200. Mal

2009 jährt sich der Todestag zum 200. Mal

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Als sich im Jänner 1805 in ganz Europa das Gerücht verbreitete, Joseph Haydn sei ­gestorben, und sogar in Paris eilig Trauermusiken geschrieben und Gedenkkonzerte angesetzt wurden, saß der berühmteste Komponist seiner Zeit in seinem Haus in der Wiener Johannesgasse und verzweifelte an der Musik. Er hielt sein spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer penibel in Ordnung und empfing Biografen – doch die Kraft, seine Ideen in den Griff zu kriegen, besaß der Greis nicht mehr. „Meine musikalischen Einfälle verfolgen mich bis zur Marter“, klagte Haydn hilflos. „Ich kann sie nicht loswerden, sie stehen wie Mauern vor mir.“ Die Fantasie war sein Feind geworden.

Sechzig Jahre lang hatte Haydns Kreativität keine Krise gekannt, ganze Opern hatte der Angestellte gleich mehrerer Fürstenhöfe auf Befehl und ohne Mühe gefertigt. Auf Haydns imposantes Konto gehen: 104 Symphonien, 83 Streichquartette, 22 Opern, 13 Messen sowie zahlreiche Sonaten, Konzerte und Oratorien. Kein anderer Komponist sollte je wieder ein ähnlich buntscheckiges und ausuferndes Werk hinterlassen. 1803 riss sein Schaffen ab. Sechs Jahre später starb Joseph Haydn an Altersschwäche.

Der Sohn eines Handwerkers hatte einen kometengleichen Aufstieg absolviert: Sein Talent hatte ihn aus ärmlichen Verhältnissen nach Wien geführt, in eine der flirrenden Metropolen des damaligen Europa; hatte ihn an den Hof der Esterházys gebracht, einen der reichsten und verschwenderischsten Fürstenhöfe des Habsburgerreichs, und ihn als alten Mann bis nach London getragen, wo Haydn als der größte Komponist der Menschheit gefeiert wurde. Als Haydn am 30. April 1798 sein Oratorium „Die Schöpfung“ im Palais Schwarzenberg erstmals dirigierte, drängten sich auf den goldenen Stühlen die Spitzen der habsburgischen Hocharistokratie. Die Fürsten Schwarzenberg, Esterházy, Kinsky, Lichnowsky, Liechtenstein und Trautmannsdorff hatten dem ­damals 66-jährigen Komponisten für sein neues Stück ein stattliches Honorar von umgerechnet 50.000 Euro hingeblättert.

Kein Komponist war am Ende des 18. Jahrhunderts berühmter, keiner vermögender als Joseph Haydn. Im wichtigsten ­Pariser Konzertsaal hing an prominenter Stelle ein lorbeerumkränztes Ölbild des Österreichers, die Universität von Oxford hatte den Klassiker bereits 1791 zum ­Ehrendoktor ernannt. Und als am 24. Mai 1801 das Oratorium „Die Jahreszeiten“ in Wien uraufgeführt wurde, übernahm die Kaiserin höchstselbst die Sopranpartie. Siege, so weit das Auge reicht.

„Haydn war zu Lebzeiten populärer als Mozart“, betont der Dirigent und Haydn-Spezialist Nikolaus Harnoncourt: „Hätte man in Paris und London nach dem größten Komponisten der Welt gefragt, wäre Haydn genannt worden.“ Als Haydn zwischen den Jahren 1801 und 1804 im Burgtheater seine „Jahreszeiten“ selbst dirigierte, verdoppelten die Veranstalter kurzerhand die Eintrittspreise. Die acht Konzerte brachten umgerechnet über eine Million Euro ein.

Aufsteiger. Hatte Mozart sein ganzes ­Leben darum kämpfen müssen, so berühmt zu bleiben, wie er es einst als Wunderkind gewesen war, setzte Haydn alles daran zu werden, was ihm als Kind völlig unerreichbar erschienen war: ein Star. Als er mit der „Schöpfung“ einen europaweiten Sensa­tionserfolg feierte, zögerte er nicht, eine Fortsetzung zu schreiben. Zwar gerieten „Die Jahreszeiten“ nicht annähernd so perfekt wie das Vorgängerwerk, doch das ­Sequel erfüllte seinen Zweck: Haydn feierte einen weiteren Triumph.

Was seine Klientel so sehr an ihm schätzte: Der bodenständige Tonsetzer ging stets mit dem Geschmack der Zeit, schrieb Werke von äußerster kompositorischer Raffinesse und wusste sein Publikum mit gewitzten Effekten bei Laune zu halten. In seiner Militär-Symphonie haute er 1794 zum Gaudium der Londoner High Society lautstark auf die Pauke, in Paris hatte er die Hautevolee bereits zehn Jahre zuvor mit Symphonien wie „Der Bär“ oder „Die Henne“ amüsiert. Die Franzosen ­waren regelrecht verrückt nach Haydns Musik: 1788 erreichte sein Anteil an den in Paris aufgeführten Symphonien laut Statistik 90 Prozent.

Niemand in der abendländischen ­Musikgeschichte, mit Ausnahme von Igor Strawinsky vielleicht, trieb so gern musikalische Scherze wie Haydn. Seine Musik ist nicht bloß gut gelaunt, fidel oder überhitzt; sie ist witzig im engeren Sinn. Im Gesamtverzeichnis seiner Werke finden sich nur wenige Titel, die frei sind von skurrilen Wendungen, kompositorischen Spielereien oder gezielten Verstößen gegen die Regeln der Kunst: Gleich reihenweise fing Haydn Stücke in der „falschen“ Tonart an.

Gute 200 Jahre – und etliche musika­lische Revolutionen – später hat Haydns Musik an Unterhaltungswert und Kassenwirksamkeit dramatisch eingebüßt. „Ein Konzert mit einem reinen Haydn-Programm ist kein Seller“, meint Markus Hinterhäuser, der Konzertdirektor der Salzburger Festspiele. „Das hat überhaupt nichts mit der Qualität seiner Musik zu tun. Haydn hatte einfach das Pech, dass nach ihm Mozart gekommen ist.“
Während Mozart, der einstige Gottseibeiuns der Wiener Aristokratie, im 19. Jahrhundert problemlos zum Inbild des tragischen Künstlergenies eingedunkelt werden konnte, bot der fröhliche Haydn keinerlei Stoff zur Mythenbildung, ganz im Gegenteil: Einflussreiche Kollegen wie ­Robert Schumann erklärten den Autor des Kaiserliedes zur Galionsfigur hochkultureller Fadesse – und gaben „Großpapa Haydn“ ungerührt der Vergessenheit preis.

„Haydns Musik fehlt Mozarts faszinierende Depressivität“, erklärt der Kritiker Joachim Kaiser das Absinken Haydns in der Publikumsgunst. Seine Melodien sind kleinteilig und kurz, ausgerechnet der angebliche Langeweiler des Klassikbetriebs schrieb eine stets alerte, manchmal zappelige und immer auf Pointen bedachte Musik. Gegen das Spektakel, welches Haydn zu Beginn seiner „Schöpfung“ inszeniert, verblasst jedoch sogar Don Giovannis Höllenfahrt: Haydn setzte die Erschaffung der Welt mit den Mitteln der Musik in Szene.

Nun jährt sich Haydns Todestag zum 200. Mal: 2009 stehen seine Werke bei der Salzburger Mozartwoche, den Innsbrucker und den Wiener Festwochen sowie bei den Salzburger Festspielen, im Wiener Musikverein und im Wiener Konzerthaus geballt am Programm. Die BBC dreht eine TV-Dokumentation über den gebürtigen Niederösterreicher, das Zürcher Opernhaus nimmt eine seiner Opern ins Repertoire, und das Plattenlabel Brillant Classics will die Gesamtaufnahme der über 1200 Haydn-Werke vollenden: So viel Haydn war nie.

„In diesem Fall ergibt so ein Jahr tatsächlich Sinn und könnte dabei helfen, Missverständnisse auszuräumen“, hofft ­Nikolaus Harnoncourt, der das Gedenkjahr an Haydns Geburtstag (31. März) mit einem Festkonzert eröffnen wird. Epizentrum der Geburtstagsparty ist Eisenstadt, wo Haydn 40 Jahre lang im Dienst der Fürstenfamilie Esterházy stand. Im Lauf des Jahres werden dort sämtliche seiner Symphonien sowie alle Messen aufgeführt, am Todestag (31. Mai) soll die ganze Welt ins Gedenken einstimmen: Die Festaufführung der „Schöpfung“ wird nach Tokio, San Francisco, Sydney, Athen, London und Boston übertragen.

Sparjahr. Doch anders als im Mozart-Jahr 2006 hält sich die Kulturpolitik bei Haydn finanziell zurück: Machte Wien für den medienwirksamen Salzburger Rebellen 30 Millionen Euro locker, ist Joseph Haydn der Bundeshauptstadt keinen einzigen Cent extra wert. „Vonseiten der Stadt Wien wird es kein zusätzliches Sonderbudget geben“, stellte Kulturstadtrat Andreas Mailath-­Pokorny bereits vor zwei Jahren unmissverständlich klar. Der Bund investiert immerhin zwei Millionen, das Burgenland gar acht Millionen Euro in Ausstellungen, Konzerte und Events. „Natürlich wäre es besser, wenn wir mehr hätten“, sagt Wolfgang Reicher, der Intendant des Haydn-Jahres. Nikolaus Harnoncourt assistiert: „Dass die Kulturpolitik jetzt kneift, ist typisch, denn es geht der Politik meist nur um Vermarktung und nicht um Inhalt. Die Person Mozart kann sich wirklich jeder auf der Zunge zergehen lassen. Die Begeisterung für Haydn fällt schwerer.“

Geboren 1732 in Rohrau, lieferte Haydn seinen Biografen keinen einzigen brauchbaren Skandal: Während Mozart mit ­einem Tritt in den Hintern öffentlichkeitswirksam aus seinem Dienst beim Salzburger Erzbischof entlassen wurde, diente Haydn der Familie Esterházy jahrzehntelang ohne Fehl und Tadel. Zwar geriet ­seine Ehe schon kurz nach der Heirat 1760 zum Desaster: In einem Brief nannte Haydn seine Frau abschätzig „questa bestia infernale“. Doch seine jahrelangen Affären – etwa mit der verheirateten Sängerin Luigia Polzelli – behandelte er stets mit äußerster Diskretion.

Haydn war eher klein gewachsen, kräftig von Statur, mit auffallend großen dunklen Augen und einem leicht skeptischen Blick aus einem von Blattern genarbten Gesicht. Unordentlichkeit und Schmutz waren dem Konstrukteur penibel durchdachter Kompositionen regelrecht verhasst: Schon als Kind trug Haydn eine Perücke und ärgerte sich über jede noch so kleine „Spur der Unsauberkeit“ auf seinem Rock. Dabei lebte Haydn in bitterer Armut, bis er mit 25 Jahren endlich seinen ersten Job erhielt: Haydns Wiener Wohnung war kalt, an manchen Stellen regnete es durchs Dach.

Internatskind. Mathias und Maria Anna Haydn hatten ihren Sohn bereits im Alter von fünfeinhalb Jahren außer Haus gegeben: Weil Haydn jedes Lied, das man ihm vorsang, sofort nachsingen konnte, sollte der Schuldirektor von Hainburg die Ausbildung des Jungen übernehmen. Mit acht Jahren kam der talentierte Knirps schließlich als Chorknabe an den Stephansdom – und begann, unkoordiniert draufloszukomponieren. „Ich glaubte damals, es sei alles recht, wenn nur das Papier hübsch voll sei“, so Haydn später. Es ist paradox, dass ausgerechnet Haydn als musikalischer Buchhalter verschrien ist: Niemand war weniger akademisch als er. Im Vergleich zu Mozart, der mit seinem Vater halb Europa bereiste, war Haydns Ausbildung geradezu lächerlich dünn. Haydn war Autodidakt – und Praktiker: Bevor er ein Auftragswerk schrieb, holte er Informationen über die musikalischen Vorlieben seiner Kundschaft ein. Anders als Mozart hat Haydn sein Publikum nie ernsthaft überfordert. Er hat es lieber überrascht.

Quasi im Alleingang erfand Haydn die abendländische Musik neu: Er entwickelte die Komponiertechniken der Wiener Klassik, baute die Symphonie zur zentralen Gattung des Konzertbetriebs aus und ersann – für die Gourmets der Zunft – das Streichquartett. „Haydn war Avantgardist“, urteilt Harnoncourt. „Routine gibt es bei ihm nicht. Man hat den Eindruck, er habe nach jedem Werk sofort vergessen, was er gerade gemacht hatte. Haydn hat sich als Komponist immer wieder selbst vernichtet. Das empfinde ich als unheimlich modern.“

Der Tausendsassa dirigierte Orchesterkonzerte, leitete am Hof der Esterházys ein Opernhaus, spielte Geige, Bratsche, Orgel und entwarf seine Kompositionen am Klavier. „Ich war nie ein Geschwindschreiber“, sagte Haydn über sich selbst: Sein Leben in Eisenstadt und auf Schloss Esterháza in Fertöd bestand aus Arbeit und nichts sonst. Jedes Mal aufs Neue war Haydn niedergeschlagen, wenn er von ausgelassenen Ausflügen nach Wien in die Provinz zurückkehrte. 1790 schrieb er an eine Freundin: „Nun – da sitz ich in meiner Einöde – verlassen – wie ein armer Waise – fast ohne menschliche Gesellschaft – traurig – voll der Erinnerung vergangener edler Tage.“

Doch Haydn sorgte konsequent dafür, dass seine Werke nicht mehr nur im abgelegenen Fertöd, sondern zusehends auch in Wien aufgeführt wurden: Er nutzte die Kunst zur Befreiung seiner Existenz. 1781 komponierte er sechs Streichquartette (op. 33), die zum ersten Mal für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Haydn zog Verleger in Paris, London und Wien an Land – und geschäftstüchtig spielte er alle gegeneinander aus.
Anders als Mozart, der sein Geld verspielte, vertrank und für teure Kleider ausgab, war Haydn ein gewiefter Geschäftemacher. Kopien seiner Werke verkaufte er zum stattlichen Preis von umgerechnet 700 Euro pro Stück, aber er gab auch ­Benefizkonzerte, deren Erlöse in einen Pensionsfonds für Musiker flossen: Allein die Aufführung seines Tobias-Oratoriums spielte 1775 einen Nettogewinn von knapp 43.000 Euro ein.

„Ich war von der Welt abgesondert“, urteilte Haydn über sein Leben in der Provinz. „Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und so musste ich original werden.“ Doch als 1790 Fürst Nikolaus Esterházy starb, brach Haydn fluchtartig nach Wien auf, ließ persönliche Habe, wichtige Manuskripte und „das öde Leben“ in Fertöd zurück. Als ihm ein Graf einen neuen Dienstvertrag anbot, lehnte Haydn dankend ab. Er hatte erreicht, wovon Mozart stets geträumt hatte: ein sorgenfreies Leben als Komponist führen zu können.

Bewunderer. Haydn hatte die Nationalhymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ geschrieben, die im habsburgischen Reich auf den Straßen gesungen wurde, und mit seinen zwölf Londoner Symphonien und den „Sieben Worten des Erlösers am Kreuz“ Werke geschaffen, die von Ludwig van Beethoven und Carl Maria von Weber bewundert wurden. Nach einer Aufführung der „Schöpfung“ in Prag sagte Haydn selbstbewusst: „Es freut mich ungemein zu hören, dass mein Oratorium von allen Musikfreunden in jener Gegend den Beifall erhielt, den es beinahe schon vom größten Teil Europas zu erhalten das Glück hatte.“

Wenn Ende März das Haydn-Jahr von Nikolaus Harnoncourt eingeläutet wird, besteht die Chance, dass Haydns Musik wieder etwas von jener Strahlkraft zurückerhält, die sie einst besaß. „Das Jahr bietet die Möglichkeit, Werke kennen zu lernen, die man noch nicht so oft gehört hat“, meint Intendant Wolfgang Reicher. Und zumindest post mortem war Haydn in einen PR-tauglichen Skandal verwickelt: Der Forscher Carl Rosenbaum grub Haydn wenige Tage nach dessen Beerdigung im Morgengrauen wieder aus und trennte dem verwesenden Leichnam den Kopf ab. Rosenbaum putzte die Reliquie und lagerte sie in einem kleinen Schrein. Erst am 5. Juni 1954 konnte der Schädel wieder zu den Gebeinen Haydns gelegt werden. Berühmtheit fordert eben ihren Preis.

Von Peter Schneeberger