Erfolgreichste Frei- taucher aller Zeiten

Der erfolgreichste Freitaucher aller Zeiten: Herbert Nitsch will auf 305 Meter vordringen

Nitsch: "Muss meinen Körper nicht quälen"

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Von Rosemarie Schwaiger

Clarence Town auf Long Island, Bahamas, am 11. April: Als Herbert Nitsch aufwacht, ist es neun Uhr morgens. Er zieht den Vorhang zur Seite und schaut in den Himmel. Graue Wolken verdecken die Sonne, vielleicht wird es regnen. Nitsch schaltet den Fernseher ein, legt sich wieder ins Bett und beginnt mit dem Aufwärmen: Luft holen, ausatmen, eine Minute nicht atmen, Luft holen, ausatmen, eine Minute nicht atmen. Immer wieder, eine halbe Stunde lang.

Das Frühstück fällt heute aus. Nitsch isst eine Banane, trinkt ein Glas Wasser und stellt sich für ein paar Stretching-Übungen in den Türrahmen. Er hält sich mit den Händen oben fest und drückt den Oberkörper so weit wie möglich nach vorne. Dann atmet er ganz aus, zieht den Bauch ein und saugt das Zwerchfell nach oben.

Gegen 11 Uhr überprüft er seine Ausrüstung und fährt an den Strand von Dean’s Blue Hole, einem über 200 Meter tiefen, mit Meerwasser gefüllten See. Mittlerweile sind die Wolken verschwunden, es ist warm geworden. Nitsch zwängt sich in einen dünnen Neoprenanzug und geht ins Wasser. Er atmet komplett aus und taucht ein paarmal bis in eine Tiefe von etwa 15 Metern. Der Unterdruck bringt die Blutgefäße in der Lunge zum Anschwellen. Später wird dieser „Bloodshift“ beim Druckausgleich helfen. Als Nitsch aus dem Wasser steigt, schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Jetzt muss es schnell gehen. Wenn ihm kalt wird, kann er den Versuch gleich bleiben lassen; schon ein leichtes Frösteln würde zu viel Energie kosten. Nitsch fixiert einen mit 2,6 Kilo Bleischrot gefüllten Fahrradschlauch um den Hals, montiert den Tiefenmesser am Anzug, setzt die Nasenklemme auf und legt die Sicherungsleine um sein Handgelenk. Dann beginnt er mit dem Packing – einer speziellen Atemtechnik, bei der mithilfe des Kehlkopfs noch zusätzlich Luft in die Lunge gepumpt wird. Der Countdown läuft: Innerhalb von 30 Sekunden muss er starten. Nicht ganz vier Minuten später taucht Nitsch wieder auf. Er ist mit einem einzigen Atemzug und ohne technische Hilfsmittel 120 Meter tief getaucht und hat in der Disziplin Constant Weight (CW) einen ­neuen Weltrekord aufgestellt. Die Internet-Homepage des Veranstalters feiert ihn dafür als „amazing athlete“. Sein Tauchgang werde als „eine der eindrucksvollsten Leistungen im Freitauchen“ in die Geschichte eingehen.

Herbert Nitsch ist gebürtiger Wiener, 39 Jahre alt, von Beruf Pilot und wahrscheinlich der erfolgreichste österreichische Sportler aller Zeiten. Der Weltrekord am 11. April dieses Jahres auf den Bahamas war bereits der 25. in seiner Sammlung. In sieben von acht Disziplinen seines Sports hat Nitsch bis jetzt Rekorde aufgestellt. Er war der erste Mensch, der ohne technische Hilfsmittel über 100 Meter tief tauchte. Seine Bestmarke im Zeittauchen liegt bei neun Minuten und vier Sekunden.

Demütigung. Praktisch konkurrenzlos ist Nitsch im spektakulärsten Bewerb des Freitauchens, dem so genannten „No Limit“. Außer einem Atemgerät ist bei dieser Weitenjagd in der Tiefe fast jedes technische Hilfsmittel erlaubt. Ein schwerer Schlitten zieht den Taucher mit hoher Geschwindigkeit nach unten, ein Druckluftballon beschleunigt den Rückweg. Vor zwei Jahren kam Nitsch bei einem Weltrekordversuch vor der Insel Spetses in Griechenland bis auf 214 Meter. Besonders demütigend für die Sportskameraden: Der Österreicher brach damit nur seinen eigenen Weltrekord von 185 Metern, den er erst am Vortag aufgestellt hatte.

Freitauchen, auch bekannt als Apnoe-Tauchen (vom griechischen Wort „Apnoe“ für Atemstillstand), ist ein Sport für extreme Charaktere. Um das Ausmaß der Quälerei abschätzen zu können, muss man als Amateur nur eine Länge im Hallenbad durchtauchen. Der Atemreiz wird schnell so übermächtig, dass er sich kaum mehr unterdrücken lässt. Wenn das Zittern des Zwerchfells einsetzt, ist jede weitere Sekunde ohne Sauerstoff eine Tortur. Dazu kommen im Wettkampfsport die Belastungen durch den Druck, der in 100 Meter Wassertiefe elfmal so hoch ist wie an Land. Ohne entspre­chenden Druckausgleich würde das Trommelfell bereits nach den ersten paar Metern reißen.

Schon das Training in der Badewanne kann zu einem Blackout führen. Auf dem Leistungsniveau von Herbert Nitsch gehört die Lebensgefahr gleichsam zum Equipment. Weltweit schafften es bisher nur fünf Apnoe-Taucher bis in eine Tiefe von mehr als 160 Metern. Zwei sind gestorben, ein dritter kämpft mit den Folgen eines schweren Gehirnschlags.
Nitsch hat gelernt, das zu verdrängen. Wie nah er dem Tod schon war, ist kein Thema, über das er nachdenken oder gar reden will. Als der Franzose Loic Leferme vor zwei Jahren beim No-Limit-Training starb, sei das aber doch ein Schock gewesen. „Ich habe ihn gut gekannt, das hat mir schon zugesetzt“, sagt Nitsch. „Aber dann habe ich erfahren, dass ein technisches Gebrechen schuld war. Das hat mich komischerweise erleichtert. Ich dachte: Okay, dann muss ich eben dafür sorgen, dass so etwas bei mir nicht passiert.“

Leferme war der Philosoph unter den Apnoe-Tauchern. Er sprach gern darüber, wie schön es sei, eins mit dem Element zu werden, „Wasser im Wasser“, wie er sich ausdrückte. Nitsch dagegen gilt in der Branche als „der Roboter“, der exakt plant, nichts dem Zufall überlässt und den Sport ganz nüchtern sieht. Sein Antrieb ist die Jagd nach immer neuen Rekorden, das Ausdehnen von Grenzen. „Ich bin nie an einen Punkt gekommen, an dem ich dachte, jetzt geht es nicht mehr weiter.“

Nitsch sitzt in einem Wiener Kaffee­hausgarten in der Sonne, trinkt Caffè Latte und erzählt in lockerem Plauderton über körperliche Extremzustände, die der Laie gern für Fiktion halten würde: Da der Atemreiz nicht vom Sauerstoffmangel, sondern von zu hoher CO2-Konzentration im Blut ausgelöst wird, versuchen Apnoe-Taucher, ihren Körper an erhöhte CO2-Werte zu gewöhnen. Herbert Nitsch macht das am liebsten auf der Couch in seiner Wohnung vor dem Fernseher, wo er Nachrichten schaut und seine 4-Minuten-Intervalle praktiziert: vier Minuten atmen, vier Minuten mit leerer Lunge nicht atmen. Ein normaler, gesunder Mensch hat ein Lungenvolumen von sieben bis acht Litern. Nitsch bringt es auf das Doppelte, wenn er mit ruckartigen Kehlkopfbewegungen noch zusätzlich Luft in die Lunge presst. Im Brustkorb hat diese enorme Menge nicht Platz, weshalb er regelmäßig Dehnungsübungen für Zwerchfell und Bauchdecke machen muss.

Wie stark sich sein Herzschlag während eines Tauchgangs verlangsamt, weiß Nitsch nicht, da Pulsmesser dem Druck nicht standhalten. Etwas weiter oben hat er einmal zehn Schläge pro Minute gemessen – beim Durchschnittsbürger kommt da schon der Notarzt. „Dabei muss der Blutdruck sehr hoch sein, weil sonst die Lunge die Blutgefäße zum Hirn abdrückt“, erklärt Nitsch im nüchternen Stil eines Baupoliers, der über die Statik des Dachbodenausbaus plaudert. „Dann kriegt man sofort ein Blackout. Ist mir schon passiert, aber zum Glück noch an Land.“

Tiefenrausch. Beim Wettkampf muss der Taucher das Kunststück zuwege bringen, in einer gefährlichen Ausnahmesituation absolut entspannt zu bleiben. Aufregung oder gar Angst würden sofort den Pulsschlag ­erhöhen. Nitsch kann deshalb kaum etwas über seine Reflexionen während der 4-­Minuten-Reisen in die Tiefe und zurück erzählen. Am besten sei, das Denken so weit wie möglich auszuschalten, sagt er. Ab einer Tiefe von etwa 30 Metern ist außerdem jederzeit mit einem Anfall von Tiefenrausch zu rechnen. Die angebliche Euphorie, von der viele Taucher berichten, kann Nitsch nicht bestätigen. „Es ist ein unangenehmer Zustand, in dem man leicht die Kontrolle verlieren kann.“

Gesund ist dieses Hobby vermutlich nicht. Wie ungesund es ist, mit prall gefüllter Lunge in die eiskalte Dunkelheit zu tauchen, muss der Sportler selbst herausfinden. Auf seinem Fachgebiet herrscht Forschungsnotstand, die Wissenschaft hinkt der Praxis weit hinterher. Herbert Nitsch wird gelegentlich zu Medizinerkongressen einge­laden, um über seine seltsame Passion zu ­referieren. Bevor er den bisher letzten No-Limit-Rekordversuch startete, hatte sein ärztlicher Berater die Zusammenarbeit aufgekündigt. „Er meinte, das kann er nicht mehr verantworten“, sagt Nitsch, der die ärztliche Warnung wenigstens insofern ernst nimmt, als er seither zehn Meter vor dem Auftauchen einen längeren Stopp einlegt, damit sich die Lunge wieder ausdehnen kann.

Der Tauchmediziner Christian Wagner hält Apnoe-Tauchen nicht grundsätzlich für Selbstmord auf Raten. In Maßen tue das Luftanhalten dem Organismus sogar ganz gut. So wie Herbert Nitsch den Sport ausübe, sei das aber eine ganz andere Sache. „Das ist lebensgefährlich, und er riskiert schwere Spätfolgen.“ Die Faszination des Freitauchens versteht Wagner, der früher Unterwasser-Rugby spielte, indes ganz gut: „Vor allem am Anfang erzielt man sehr rasche Leistungssteigerungen. Von einer halben auf zwei bis zweieinhalb Minuten kommt man in relativ kurzer Zeit.“

Von dort ist es dann nicht mehr weit bis zur echten Leidenschaft. Der Wiener Künstler Mario Rott gehört zu den insgesamt etwa drei Dutzend Österreichern, die in ihrer Freizeit am liebsten die Luft anhalten. Zweimal pro Woche trifft sich eine kleine Gruppe zum Training im Hallenbad. Rott hat vor vier Jahren begonnen und hält nun schon bei einer Bestmarke von sechs Minuten. Er nimmt immer wieder an internationalen Wettkämpfen teil und ist begeistert – obwohl man bei diesem Sport von Spaß im klassischen Sinn nicht reden kann: „Wenn es nicht weh tut, ist es nichts wert.“ Rott schreibt gerade an einer Dissertation über das Apnoe-Tauchen in kulturwissenschaftlicher Hinsicht. „Das Meer wird zum mythischen Ort allen Ursprungs“, heißt es darin, „der einen gewaltigen Gegenpol zum Leben des modernen Menschen bildet.“

Mit dieser Art von Poesie kann der Techniker Nitsch wenig anfangen. Aber auch ihn beeindruckte einst der schnelle Erfolg. Bis Mitte der neunziger Jahre hatte er ganz normales Flaschentauchen betrieben. Bei einem Urlaub am Roten Meer kam sein Equipment nicht rechtzeitig an, und Nitsch vertrieb sich die Wartezeit mit exzessivem Schnorcheln. Schon nach ein paar Tagen tauchte er mehr als 32 Meter tief – ohne dieser Leistung allzu viel Bedeutung beizumessen. „Mir war nicht klar, dass das eine eigene Sportart ist“, erzählt Nitsch. Später machte ihn ein Freund zu Hause darauf aufmerksam, dass der österreichische Rekord im Apnoe-Tauchen aktuell bei 34 Metern lag. „Da dachte ich mir, das kann ich auch.“

Entspannt. Nitsch glaubt, dass jeder gesunde Erwachsene seinen Sport ausüben könnte. Eine Talentfrage sei das nicht, und anatomisch unterscheide ihn nichts von anderen Menschen. „Ich sehe das nicht so, dass ich meinen Körper quälen muss, damit er etwas Unnatürliches zusammenbringt. Es ist eigentlich da, der Körper kann es und hat es bloß irgendwann verlernt.“ Für trainierte Freitaucher sei das Luftanhalten ein recht entspannter Zustand.

Trotzdem schadet es nicht, den Körper bei der Rekordjagd ein wenig zu unterstützen. Da es in großen Tiefen nicht mehr möglich ist, Luft aus der Lunge zu holen und damit einen Druckausgleich durchzuführen, hat sich Nitsch für den No-Limit-Bewerb etwas Besonderes einfallen lassen. Er nimmt eine Plastikflasche mit in die Tiefe, in die er nach etwa 25 Metern seine komplette Atemluft bläst. Über einen dünnen Schlauch lässt er dann weiter unten die Luft wieder zurück in seinen Mund strömen, um die Backen aufzublähen. Mit dieser Technik sollte es möglich sein, noch viel tiefer zu tauchen. Herbert Nitsch hat sich vorgenommen, eines Tages bis auf 305 Meter zu kommen. „Das wären genau 1000 Fuß, also ein schönes Ziel“, findet er.

Geld ist in diesem Sport kein Motiv: Nitsch hat nach wie vor Mühe, Sponsoren für seine Unternehmungen aufzutreiben. Seit vier Jahren arbeitet er nur noch Teilzeit als Pilot für die Fluglinie Austrian Arrows. Der Zeitaufwand für das Tauchen war einfach zu groß geworden. Dafür hat das Hobby ein paar angenehme Begleiterscheinungen. Mit Herbert Nitsch Rad fahren oder Skaten zu gehen, kann nur sehr starken Charakteren empfohlen werden. Der Mann atmet bis zu einer Pulsfrequenz von fast 200 mit geschlossenem Mund.