Ein unbekanntes Wesen

Der Richter, das unbekannte Wesen

Prozess. Wer sind Österreichs Richter und wie sehen sie sich selbst?

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Die Zeiten, als der Herr Rat aus soignierter bürgerlicher Familie kam und Amt und Titel wie eine Erbpacht an den Sohn weitergab, sind vorbei. Noch in den 1980ern entstammten drei von vier Richtern der oberen Mittelschicht. Wie andere Bereiche hat sich aber auch die geschlossene Welt der Talare geöffnet: Der Beruf ist für jüngere Generationen ein Mittel sozialen Aufstiegs – zwei von drei Richtern kommen heute aus der unteren Mittelschicht. So das Ergebnis der bisher einzigen Studie, die in Österreich der Frage nachgegangen ist, „wie man Richter wird – wie man Richter macht“. (Birgitt Haller/Nikolaus Dimmel:„RichterInnen in Österreich“, 2000)

Insbesondere Frauen haben die Chancen genützt: Waren vor zwanzig Jahren erst zwanzig Prozent der Richter in Österreich Frauen, stellten sie Ende des Vorjahrs mit 53 Prozent bereits die Mehrheit. Dieser Trend wird sich fortsetzen, knapp 70 Prozent der Richteramtsanwärter sind weiblich.
Die Motive für die Berufswahl sind pragmatisch und umreißen auch das Selbstbild der heutigen Richter: Selbstständigkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, freie Zeiteinteilung und ökonomische Sicherheit. Anwalt sein zu wollen, schlossen die Richter aus. In den von der Juristin und Politikwissenschafterin Birgitt Haller geführten Interviews gaben sie an: Sie wollten nicht von Klienten abhängig sein, an die man sich anbiedern müsse, und wollten gegen die eigene Überzeugung keine fremden Standpunkte vertreten, ein häufiges Motiv war auch Ablehnung des ökonomischen Risikos im Anwaltsberuf. – Das Mindestentgelt bei der Ernennung zum Richter beträgt derzeit 3536 Euro. Das durchschnittliche Einstiegsalter liegt unter 28 Jahren.

Wunsch und Wirklichkeit
Offenherziger Umgang mit der Öffentlichkeit, wie ihn die Richterin im Bawag-Prozess, Claudia Bandion-Ortner, pflegte, gilt für die Wahrer von Recht und Ordnung immer noch als Tabu. Strasser-Richter Georg Olschak hatte nach seinem Urteil von vier Haftjahren für den bestechlichen EU-Abgeordneten gegenüber dem Gratisblatt „Österreich“ nicht nur gemeint, das Wichtigste in seinem Beruf sei es, Strafen zu finden, die für Angeklagte nachvollziehbar sind, sondern auch über Entspannung beim Golfspiel gesprochen. Prompt kam vom Präsidenten des Wiener Straflandesgerichts Friedrich Forsthuber die Empfehlung, Richter sollten keine Interviews geben, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen.
Wie die derzeit rund 1700 Richter ticken und wie weit Wunsch und Wirklichkeit auch in ihrem Job auseinanderklaffen, liegt daher weitgehend im Dunkeln. In der zitierten Studie etwa meinten die Richter, ihre Ausbildung solle rasche Auffassungsgabe, Entscheidungsstärke und -tempo und „Rückgrat“ fördern. Bei der Ernennung zum Richter und der Karriere spielten neben Fachlichem jedoch weiter Netzwerke und persönliche Sympathien eine Rolle.

Viele der Befragten sahen sich als eine Art von „Sozialingenieuren“ und strichen Hilfestellung als Teil richterlicher Aufgaben heraus. Dass man ihnen weniger devot als früher begegne, empfanden vor allem jüngere Richter als normal und Folge dessen, dass sie sich weniger autoritär und hierarchisch verhielten als bisherige Richter.
Kontrovers sind die Haltungen zur gesellschaftspolitischen Positionierung. Die meisten Richter vertraten zwar den Standpunkt, gerade Richter müssten politische Menschen sein. Bei der Frage, ob Rechtsprechung an sich politisch ist, zeigt sich der Berufsstand aber gespalten. Die einen interpretieren ihr Amt als „gewollte Gesellschaftspolitik“, denn hinter jedem Gesetz stünden gesellschaftspolitische Vorstellungen und jeder Richterspruch greife in soziale Verhältnisse ein. Andere meinten dezidiert, dass es der Richterschaft „nicht zusteht“, Gesellschaftspolitik zu machen.
Eine grundsätzliche Kluft besteht weiter: Zivilrichter sehen ihren Bereich als „höhere Kultur der Rechtsprechung“. Sie sagten offen, es sei ihnen nicht „angenehm“, Strafen zu verhängen, und auch, sie wollten „keinen Umgang mit Gaunern“.