Eine Frage der Ära

Angela Merkel: Eine Frage der Ära

Deutschland. Die Ära Merkel bleibt seltsam inhaltsleer

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Wir kennen Angela Merkels Hosenanzüge, ihre Handtaschen, ihre Handhaltung, ihre Mimik, ihre Sprachmelodie. Wir wissen, dass sie am liebsten mit der FDP koaliert. Wer ins Detail gehen möchte, kann auch nachlesen, dass sie in ihrer Schulzeit beim Schwimmunterricht eine Dreiviertelstunde zögerte, ehe sie vom Dreimeterbrett sprang. Nach acht Jahren im Kanzleramt und 23 Jahre nach ihrer ersten Wahl zur Bundestagsabgeordneten ist „Angela Merkel“ längst der Name einer Ära. Es käme wohl einem – demokratisch legitimierten – Putsch gleich, würde sie aus der Wahl an diesem Sonntag nicht zum dritten Mal als Kanzlerin hervorgehen. Nur eine Frage der Zeit also, bis das Jahrzehnt Merkel voll ist.

Da wäre nur noch eine Sache zu klären: Wofür steht diese Ära eigentlich? Was ist ihr Titel? Rot-Grün unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer (1998–2005) – das waren Atomausstieg, Homo-Ehe und Agenda 2010. Helmut Kohl, CDU (1982–1998), symbolisierte die Wiedervereinigung und die deutsch-französische Aussöhnung. Helmut Schmidt, SPD (1974–1982), verantwortete die Einführung des europäischen Währungssystems und den NATO-Doppelbeschluss.

Und Merkel?

1991 stellte die „Süddeutsche Zeitung“ die Frage: „Warum kennen wir Angela Merkel nicht?“ Heute, 22 Jahre danach, rätselt die „Zeit“, es sei wenig bekannt, „was von ihr in der Wirtschaftspolitik zu erwarten“ sei – und das, obwohl Merkel auf allen Ebenen geradezu atemberaubend erfolgreich ist, allerdings ohne erkennbare strategische Ausrichtung. Prinzipiell ist sie gegen Finanzhilfen für andere Staaten – es sei denn, Griechenland geht pleite, dann will sie das Aufspannen eines Rettungsschirms gestatten. Prinzipiell ist sie für Atomenergie – es sei denn, Fukushima fliegt uns um die Ohren, dann kommt die Energiewende. Prinzipiell ist sie für europäische Integration – aber weil es schnell gehen soll, schließt sie sich doch lieber mit dem jeweiligen Visavis im Elysée-Palast kurz und verdonnert ihre Kollegen auf intergouvernementalem Weg.
Man kann es auch freundlicher formulieren: Merkel tut, was gerade nötig ist. Sparen und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, zählt zu den schaurig unglamourösen politischen Vorhaben. „Die Ära der Schuldenbremse“ wird wohl nicht verfilmt werden. Seit John F. Kennedy muss ein US-Präsident keinen Hut mehr tragen. Und mit Angela Merkel endet die Anforderung an Bundeskanzler, eine Vision im Kopf zu haben.

Ost-West-Spange
1986 promoviert Merkel zur „Dr. rer. nat.“, Thema: „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“. Im selben Jahr reist die gebürtige Hamburgerin, die in der DDR aufgewachsen ist, das erste Mal in die Bundesrepublik zur Hochzeit einer Cousine.

1990 wird die CDU bei der letzten – und einzigen demokratischen – Volkskammerwahl der DDR zur stärksten Kraft gewählt, Merkel wird stellvertretende Regierungssprecherin. Im selben Jahr zieht sie bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl erstmals als Direktkandidatin ihres Wahlkreises Stralsund-Nordvorpommern-Rügen (Mecklenburg-Vorpommern) in den Bundestag ein. Der „Wahlkreis 15“ ist riesig, 3000 Quadratkilometer groß, keine 200.000 Wähler wohnen hier. Merkel ist hier unschlagbar.

Das Mädchen und die Macht
Bereits bei ihrer ersten Teilnahme an einem CDU-Parteitag 1991 kommt Merkel mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl ins Gespräch, nachdem sie einen Parteifreund dazu gedrängt hat, sie dem Politiker vorzustellen. Merkel wird „Kohls Mädchen“. Weitere Namen: „Lady Eisenherz“ (Rheinische Post), „Die Ikone der Aufklärung“ (Welt am Sonntag), „Die nicht dressierte Frau“ (FAZ), „Die Langstreckenläuferin“ (Die Woche), „Eine heißkalte Frau“ (Capital), „Die Frau mit der Maske“ (Süddeutsche Zeitung), „Die Unterschätzte“ (Rheinischer Merkur), „Dr. Angela Seltsam“ (Die Woche), „Zauberkünstlerin mit der Lizenz zur Leidenschaftslosigkeit“ (Stern), die „Mutter der Porzellankisten“ (FAZ). Dem ehemaligen Wirtschaftsminister Michael Glos wird nachgesagt, er habe den Spitznamen „Mutti“ in die Welt gesetzt.

„Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen.“

Aus dem Gastbeitrag Merkels am 22. Dezember 1999 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“

Im Dezember 1999 emanzipiert sich Merkel in einem Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von ihrem politischen Übervater Kohl. Sie desavouiert damit gleich zwei CDU-Granden: ihren ehemaligen Mentor Kohl und Wolfgang Schäuble, der als Parteivorsitzender in der Hierarchie klar über ihr steht und von Merkels offenem Brief nichts gewusst hat.

Merkel-Opfer
Als Parteichef Schäuble aufgrund der CDU-Spendenaffäre im Jahr 2000 zurücktreten muss, rückt Merkel nach. 2004 verhindert sie Schäubles Kandidatur zum Bundespräsidenten, seit 2005 ist er Minister in ihrem Kabinett. Weitere Männer, die Merkel im Zuge ihrer Karriere aus dem Weg geräumt hat:

Friedrich Merz, Gründungsmitglied des „Andenpakts“, jener CDU-Seilschaft, die sich in jungen Jahren auf einer Südamerikareise versprochen hat, einander wechselseitig beim politischen Aufstieg zu fördern. Merz beerbt Schäuble als Fraktionschef und sucht fortan den Machtkampf mit der Parteichefin. Doch Merkel wird Kanzlerkandidatin – Merz rückt in die zweite Reihe zurück und verschwindet bald aus der Politik.
Mit Merkels Aufstieg funktioniert das Männer-Netzwerk nicht mehr:

Roland Koch etwa gilt als konservativer Hardliner und einer der größten Konkurrenten Merkels. 1999 wird er hessischer Ministerpräsident und stellt sich mehrmals gegen die Linie der Bundespartei. Merkel widerspricht ihm öffentlich – 2010 gibt Koch auf und zieht sich gänzlich aus der Politik zurück.

Günther Oettinger, ebenfalls „Andenpakt“-Mitglied, mahnt mehrmals ein, das konservative Profil der CDU zu schärfen. Merkel schafft ihn sich vom Hals, indem sie ihn als EU-Kommissar vorschlägt. Das letzte Mitglied, Christian Wulff, hat sich bundespolitisch schon lange abgemeldet, ehe Merkel ihn 2010 als Kandidaten für den Bundespräsidenten empfiehlt.
Neben fünf Ministern ist Wulff der zweite Präsident, der – wegen des Verdachts auf Vorteilnahme – in der Ära unter Merkel zurücktreten muss. Als Umweltminister Norbert Röttgen als CDU-Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen eine Niederlage einfährt, befürchtet Merkel, er könne ihre Umfragewerte gefährden. Sie wirft ihren ehemaligen Musterschüler kurzerhand aus der Regierung.

Drehen und wenden
Keine deutsche Partei hat sich programmatisch so oft gewandelt wie die CDU unter Merkel. Sie zeigt, wie vielfältig eine Volkspartei und wie elastisch die Kanzlerin in ideologischen Fragen sein kann:

Merkel räumt ein, sich mit der rot-grünen Forderung der Gleichstellung der Homo-Ehe schwer zu tun, da sie „mit der traditionellen Rollenverteilung von Mann und Frau“ aufgewachsen sei. Als sich CDU-Größen für ein Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sowie die Abschaffung des Ehegattensplittings aussprechen, weigert sich die Kanzlerin, sich festzulegen. Sie wartet lieber die jeweiligen Urteile des Verfassungsgerichts ab.

Nach dem Atomunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 vollzieht Merkel eine 180-Grad-Wendung in der Umweltpolitik: Sie verkündet den Ausstieg aus der Atomkraft und greift den Plan zur Umstellung auf alternative Energie, den Rot-Grün unter Gerhard Schröder auf den Weg gebracht und den sie selbst zwei Jahre zuvor noch zurückgenommen hat, auf und erweitert das Konzept sogar.
Vor allem den Sozialdemokraten entzieht Merkel mit ihren Positionen zu flächendeckenden tariflichen Mindestlöhnen, dem Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz oder der gesetzlichen Frauenquote wichtige Angriffspunkte. Nachdem Merkel im Jahr 2005 kurzfristig die wirtschaftsliberalen Thesen des Steuerexperten Paul Kirchhof übernommen hat, streicht sie dessen Forderungen wieder aus dem Wahlprogramm. Kurz vor der Wahl 2013 bekommt Merkel Wahlkampfhilfe aus Großbritannien: „Stick with Mutti“, empfiehlt das wirtschaftsliberale Magazin „Economist“.

Krieg und Frieden
Im Jahr 2003 unterstützt die damalige Oppositionschefin Merkel in der Frage des Irak-Krieges in Abgrenzung zur damaligen deutschen Regierung lange Zeit den Waffengang gegen Bagdad und schließt sogar einen Bundeswehreinsatz nicht aus. „Verantwortliche politische Führung darf niemals den wirklichen Frieden der Zukunft gegen den trügerischen Frieden der Gegenwart eintauschen“, schreibt sie in einem Gastbeitrag in der „Washington Post“ am 20. Februar 2003.
Heute will Merkel als gewandelte Gegnerin jeglicher Interventionen nichts mehr davon wissen. Die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan wurde unter ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) beschlossen. Der Widerspruch zwischen Deutschlands wirtschaftlicher Stärke und seinen militärischen Selbstzweifeln ist heute eklatant.

Libyen: Außenminister Guido Westerwelle enthält sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über eine Flugverbotszone; Libyens damaliger Machthaber Muammar al-Gaddafi feiert ihn dafür öffentlich.
Mali: Der Außenminister lobt Frankreichs Intervention und schließt gleichzeitig eine Beteiligung deutscher Soldaten kategorisch aus.
Syrien: Mit seiner Haltung stiftet Deutschland Verwirrung. Zunächst verweigert Merkel eine Unterschrift unter eine von den USA vorgelegte Erklärung, schließlich unterzeichnet Außenminister Westerwelle doch.

Mutti, die Große
Noch nie in 16 Jahren „DeutschlandTrend“ wurde eine Bundesregierung so positiv bewertet wie jene unter Merkel: 70 Prozent waren kurz vor der Wahl mit der Arbeit der Kanzlerin zufrieden.

Merkel über alles
Von allen europäischen Regierungschefs, die im Jahr 2005 – als Angela Merkel erstmals zur Kanzlerin gewählt wurde – an der Macht waren, ist sie als Einzige noch im Amt.

2010 Bis dato das einzige Jahr, in dem Merkel seit ihrem Einstieg in das „Forbes“-Ranking der „100 mächtigsten Frauen der Welt“ im Jahr 2006 nicht auf Platz eins gewählt wurde.

Geschwätz von gestern
Nachdem Merkel lange offengelassen hat, ob Griechenland ein drittes Rettungspaket benötigt, kündigt Finanzminister Wolfgang Schäuble im August weitere Hilfen an. Die Kanzlerin musste bereits mehrmals eine rote Linie übertreten. 2010 etwa verordnet die EU den Griechen ein Sparpaket, gleichzeitig dementiert Merkel Pläne für finanzielle Hilfen:

„Hilfe steht nicht auf der Tagesordnung, denn Griechenland sagt selbst, dass es im Augenblick keine Hilfe braucht.“ (Merkel, 21. 3. 2010)

Einen Monat später beantragt Griechenland Finanzhilfen, Anfang Mai 2010 legt die Troika aus EU, EZB und IWF ein erstes Rettungspaket für Griechenland auf. Im Juli 2011 beschließen die Regierungschefs der EU-Staaten ein zweites Paket für Griechenland.

„Eine Verlängerung der jetzigen Rettungsschirme wird es mit Deutschland nicht geben.“ (Merkel, 16. 9. 2010)

Ab März 2011 zeichnet sich ab, dass der Rettungsschirm verlängert wird – unbefristet. Ein dauerhafter Krisenfonds, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), wird errichtet. Am 28. November 2010 geht Irland als erstes Land unter den Schirm.

„Es wird keine nachträgliche direkte Rekapitalisierung für spanische
Banken geben.“
(Merkel, 19. 10. 2012)

Keine zwei Monate später hat der ESM Wertpapiere über 39,5 Milliarden Euro ausgegeben, die überwiegend für die Rekapitalisierung von vier spanischen Banken verwendet werden sollen.

„A. Merkel fragte, wie man Kazmierczak richtig ausspricht. Beim zweiten Mal hat es geklappt :)“

Tweet des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk beim EU-Gipfel in Brüssel, 14. 3. 2013

Kazmierczak ist der ursprüngliche Name von Merkels Großvater, der aus Posen stammte und nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin übersiedelt war, wo die Familie sich dazu entschied, ihren Namen einzudeutschen. Dass Merkel, geborene Angela Dorothea Kasner, polnische Wurzeln hat, ist kurz zuvor durch eine Biografie bekanntgeworden. Merkels Verhältnis zu Polen gilt als ausgezeichnet, was dort gut ankommt: 2012 wurde die Kanzlerin zur beliebtesten ausländischen Politikerin gekürt – zum dritten Mal in Folge.

Mitarbeit: Christine Zeiner

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur