Die wilde Romy Schneider

Die wilde Romy Schneider: Unbekanntes Filmmaterial aufgetaucht

Unbekanntes Filmmaterial aufgetaucht

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Hölle, das ist der richtige Begriff. „L’enfer“, der Titel jenes Films, den Henri-Georges Clouzot 1964 zu drehen begann, steht für das Inferno wahnhafter Eifersucht – in der französischen Filmgeschichte muss er auch als Synonym für teuflisches Scheitern gelten.

25 Jahre alt war Romy Schneider, als sie im Frühling 1964 zu den Dreharbeiten von „L’enfer“ reiste. Sie war gerade im Begriff, das Kitschbild der Kinokaiserin Sissi zu exorzieren, auf das sie seit 1955 festgelegt worden war. Sie hatte 1962 mit Visconti gearbeitet (an einer Episode des Films „Boccaccio ’70“) und in Orson Welles’ Kafka-Adaption „Der Prozess“ gespielt. Romy Schneider war auf dem Sprung zum Superstar des europäischen Autorenfilms; ein Psychodrama, inszeniert von dem renommierten Clouzot, passte bestens in ihren Karriereplan.

Der Film sollte von der Paranoia handeln, von einer Obsession. Wie eine Hitchcock-Inszenierung beginnt jene Spurensuche, die der Filmrestaurateur und Kinobesessene Serge Bromberg, 48, gemeinsam mit Ruxandra Medrea in seinem spektakulären Dokumentarfilm „Inferno – L’enfer d’Henri-Georges Clouzot“ nun unternimmt: das Gesicht der jungen Romy Schneider im Blitzlicht, in Rot, Blau und Grün, ihr gegenüber, in finsteren Schwarz-Weiß-Bildern, ein Mann mit gezückter Rasierklinge. Serge Reggiani spielt diesen Mann, einen krankhaft Eifersüchtigen, einen Hotelmanager, der seine Frau verdächtigt, ihn zu betrügen.

Die filmhistorische Arbeit, die Bromberg und Medrea in „Inferno“ leisten, ist gewaltig, denn was sie – fast viereinhalb Jahrzehnte nach der Entstehung dieser Bilder – fanden, erschien großteils rätselhaft. Als Clouzot, der als Pedant galt und bedeutende Thriller wie „Lohn der Angst“ (1953) und „Die Teuflischen“ (1955) realisiert hatte, 1977 starb, hinterließ er 185 Metalldosen mit Negativfilm, insgesamt 13 Stunden belichtetes Filmmaterial: den Torso seines Abbruchunternehmens „L’enfer“. Die Tonspur des Films war, bis auf ein halbstündiges Band, verloren gegangen. Bromberg und Medrea fanden also stummes Material – entrückte, geheimnisvolle Bilder. In den bekritzelten und bestempelten Filmdosen verbargen sich – neben Kostümproben und technischen Versuchen – unzählige verblüffende Einstellungen: Testaufnahmen von einer mit kinetischen Objekten ausgestatteten Romy Schneider, mit der Clouzot exzentrische Licht- und Farbspiele veranstaltete – er ließ ihr Glitzerstaub ins Gesicht schminken und setzte sie flackerndem Licht aus, drapierte sie mit Hochzeitsschleier und verpackte ihren Kopf in Zellophan. Diese Bilder wirken verloren, aus ihren Kontexten gerissen – umso schöner und fremder muten sie aus historischer Distanz an.

Nacktszene.
Vieles von dem, was er in diesen 185 Filmdosen fand, „hatte mit dem Drehbuch absolut nichts zu tun“, sagt Bromberg heute. „Wie konnte so etwas existieren? Wollte Clouzot Schneider seine Liebe mit der Kamera erklären?“ In einer der absurdesten Einstellungen des Films kann man eine nackte, an Schienen gefesselte Romy Schneider sehen, der sich in hoher Geschwindigkeit eine (für den Dreh eigens herbeigeschaffte) Dampfeisenbahn nähert – und in letzter Sekunde stoppt. Die Aufnahme ist schwarz-weiß, konnte also keine der (in Farbe gedrehten) Zwangsvorstellungen des eifersüchtigen Protagonisten darstellen. Wofür wollte Clouzot diese Szene verwenden? Warum hatte Romy Schneider zugestimmt, eine Nacktszene, 1964 im Kino alles andere als selbstverständlich, zu drehen?

Erst 2005 konnten die 185 Rollen Film gefunden und geöffnet werden; wegen eines jahrzehntelangen Rechtsstreits zwischen dem Regisseur und seiner Versicherungsgesellschaft waren sie in Frankreichs staatlichem Filmzentrum CNC gelagert und regelrecht geheim gehalten worden. Die Rechtssituation blieb unklar: Auch Clouzots Witwe beanspruchte das Material für sich, sie war, wohl aus sentimentalen Gründen, lange nicht gewillt, es freizugeben. Was hat dann aber dazu geführt, dass die Ruinen jenes kühnen Films nun doch veröffentlicht werden konnten? Der Zufall möglicherweise: Serge Bromberg, der Clouzots Fragmentfilm über Jahre aufzuspüren versucht hatte, blieb mit der Witwe nach erfolglosen Überredungsversuchen im engen Aufzug ihres Pariser Wohnhauses hängen, zwischen dem vierten und dem dritten Stock – und er hatte plötzlich zwei Stunden lang Zeit, ihr seine Vision nahezubringen. „War das ein Zeichen Gottes oder nur ein mechanisches Problem?“, fragt sich Serge Bromberg rückblickend ironisch. Die Frau, immerhin Mitte 80, hatte schließlich ein Einsehen und erteilte ihm die Zugangsberechtigung zur Hinterlassenschaft ihres Mannes. „Ohne diesen Lift hätte es meinen Film wohl nie gegeben“, meint Bromberg.

Zunächst aber mussten Bromberg und Medrea sich in ein veritables Kinopuzzle vertiefen: Sie sichteten und ordneten das Filmmaterial, ergänzten es um Augenzeugeninterviews, Erzählungen, Storyboards und Fotos vom Dreh, um Musik und Dialoglesungen aus dem Skript (durch das Schauspielerduo ­Jacques Gamblin und Bérenice Béjo). Dabei scheint „L’enfer“, wie er von Clouzot einst geplant wurde, auf der Leinwand verspätet doch noch zu entstehen. Szenen aus dem sonnigen Südfrankreich eröffnen den Film: ein Hotel am See, eine trügerische Postkarten­idylle mit jungem Ehepaar, über deren Beziehung sich der Schatten eines grausamen Verdachts legt.

Wahn & Paranoia.
Das Hollywood-Studio Columbia hatte Clouzot Anfang 1964 grünes Licht, ein nach oben offenes Budget und volle künstlerische Autonomie gegeben. Der Regisseur ging sein neues Projekt großspurig an, verpflichtete drei Kamera-Crews, die gleichzeitig arbeiten sollten, begann mit Farbumkehrungen zu experimentieren: Dem See, an dem er drehte, verlieh er ein tiefes Blutrot. Clouzot wollte mit „L’enfer“ über die Grenzen gehen, die Konventionen des Spielfilms drastisch überschreiten, mit Op-Art und einem elektroakustischen Soundtrack, mit Musique concrète arbeiten. Aber der Wahn und die Paranoia, von der Clouzot erzählen wollte, schienen jäh überzugreifen auf die Filmarbeit selbst. Clouzot habe sich in dem Labyrinth verloren, das er selbst erschaffen hatte, erklärt Bromberg – er sei in seine eigene Falle gegangen. Am Ende wusste niemand mehr, wohin Clouzot wollte.

Romy Schneider hatte sich ihm vollkommen anvertraut, das kann man den absurden optischen Versuchsanordnungen entnehmen, denen sie sich unter seiner Ägide vor der Kamera ergab. Clouzot sei wohl „der schwierigste Regisseur“, den sie je kennen gelernt habe, notierte die Schauspielerin. Er sei „nicht zufrieden zu stellen“, weil er jedes Detail, jeden Ton, jede Geste seiner Imagination anpassen wolle: „Ich frage mich, wie ich 18 Wochen Dreharbeiten mit Henri-Georges durchhalten soll.“

Der junge Kameraassistent William Lubtchansky, heute einer der großen Kameramänner des französischen Kinos, erinnert sich, dass er die Experimente mit pulsierenden abstrakten Formen irgendwann nur noch absurd gefunden habe; er sei da zum „Spezialisten für optischen Koitus“ geworden. „L’enfer“ hätte, ähnlich wie Antonionis „Blow-Up“, eine Fantasie zur Zeit werden sollen, ein Trip durch die Kulturlandschaften der Sixties. Clouzot berief sich auf Fellinis „8 1/2“, auf die Musik Pierre Boulez’ und immer wieder auf die Gegenwartskunst. Viele hypnotische Szenen drehte Clouzot in einer Ausstellung mit kinetischen Objekten, an der Künstler wie Jeanne-Pierre Yvaral und Victor Vasarely teilnahmen. Skulpturale Objekte in unaufhörlicher Bewegung, blitzend, kreisend, farbintensiv, sollten für eine entstellte Welt stehen, deren Formschönheit ihren eigenen Reiz ausübte. Die Idee, leuchtende, schillernde Objekte an Romy Schneider auszuprobieren, wurde zur fixen Idee Clouzots. Tagelang filmte er seinen Star im Studio im stroboskopischen Licht und mit bunt bestrahlten Ausstellungsgegenständen, deformierte die Bilder durch Zerrlinsen und prismatische Kamerafilter.

Henri-Georges Clouzot setzte ­seine eigenen Storyboards präzise um – ganz gegen den Geist der Zeit, in dem man Filme cool improvisierte und tech­nische Fehler gelassen kultivierte: „Ich im­provisiere auf Papier“, hielt Clouzot ­seinen Kritikern trotzig entgegen. Der Regisseur, als Tyrann am Set notorisch, verfing sich in seinem Perfektionismus und trieb seinen männlichen Hauptdarsteller zur Weißglut. Unter dem ­Vorwand einer Krankheit brach Serge Reggiani die Dreharbeiten schließlich ab. Jean-Louis Trintignant sollte kurzfristig für ihn einspringen, aber auch er reiste unverrichteter Dinge wieder ab. Wenige Tage später streckte den Regisseur eine Herzattacke nieder, kurz ­nachdem er eine Liebesszene ­zwischen Romy Schneider und Dany ­Carrel ­inszeniert hatte. Der Anfall ­beendete die Produktion nach nur drei von 18 geplanten Drehwochen. ­Clouzot überlebte die Herzattacke, aber den Film nahm er nicht mehr auf.

Er wandte sich nach seiner Genesung kurzfristig anderen, traditionelleren Sujets und Formen zu, porträtierte Probenarbeiten Herbert von Karajans und einen der großen Auftritte des Dirigenten 1967 an der Mailänder Scala („Messa da ­Requiem“). In seinem letzten Film kam Clouzot aber auf die ­Pop-Art-Experimente, die in „L’enfer“ zum Einsatz kommen sollten, zurück: Mit dem bizarren Beziehungsdrama „La prisonnière“ zog Clouzot 1968 noch einmal alle Register des transgressiven Autorenfilms. Danach war seine Karriere, die von den jungen Hipstern der Nouvelle Vague schon seit ­Jahren für tot erklärt worden war, tatsächlich am Ende. Die ­letzten neun Jahre seines Lebens verbrachte Henri-Georges Clouzot mit Fantasieprojekten, für die kein Finanzierungspartner mehr gefunden werden konnte.

1994 arbeitete Claude Cha­brol Clouzots Drehbuch für Emmanuelle Béart um: Seine Version von „L’enfer“ besitzt allerdings nicht annähernd jene Bildgewalt, die in dem hinterlassenen Material von 1964 wirkt. Am Anfang und Ende der Inszenierung Clouzots ist Romy Schneider bewusstlos, von Tabletten ausgeschaltet; ihr Mann hält seine blitzende Rasierklinge in der Hand, unschlüssig. Statt „The End“ heißt es im Skript am Schluss des Textes: „Etc.“ Das Finale ist hier nur der Beginn von etwas schon Bekanntem. Aus dem Wahn gibt es kein Entkommen: Die Schleife ist endlos.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.