Ausbruchsbilanz

EHEC: Neue Erkenntnisse über den Erreger

Epidemien. Neue Erkenntnisse über den EHEC-Erreger

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Sie sind etwa drei bis fünf Millimeter groß, goldgelb bis goldbraun, zeigen abgerundete Ecken und eine leichte Kerbung in der Mitte: Bockshornklee­samen aus Ägypten. Bestimmte Chargen dieses Samens wurden in einem mittlerweile gesperrten Gemüsehof im niedersächsischen Bienenbüttel zur Sprossenzucht verwendet – und diese Sprossen waren laut Gesundheitsbehörden Auslöser der EHEC-Epidemie in Deutschland.

Da bei einem zweiten, kleineren Ausbruch im Raum Bordeaux der gleiche Erreger des Typs O104:H4 und ebenfalls aus ägyptischem Samen gezüchtete Bockshorn­kleesprossen im Spiel waren, schien die Sache geklärt: Der Samen aus Ägypten war der Übeltäter. Die Krux ist: Es gibt für den Verdacht keinen mikrobiologischen Beweis, und es ist fraglich, ob es je einen geben wird. Nachdem auch die europäische Lebensmittelbehörde EFSA den Bockshornkleesamen aus Ägypten als Auslöser der Epidemie identifiziert hatte, verhängte die EU am Dienstag der Vorwoche
ein Importverbot über die verdächtigte Ware.

Die Regierung in Kairo wies umgehend jede Verantwortung für die EHEC-Epidemie zurück. Wie das ägyptische Landwirtschaftsministerium am Mittwoch der Vorwoche mitteilte, wurden die verdächtigen Chargen bereits im November 2009 exportiert. Aus wissenschaftlicher Sicht könne das Bakterium in einem trockenen Produkt gar nicht so lange überleben. Eine Kontaminierung könnte viel eher beim Umpacken oder durch verseuchtes Wasser bei der Sprossenzucht passiert sein, alle entsprechenden Tests in Ägypten seien negativ verlaufen, hieß es aus Kairo.

Die Wissenschafter des Berliner Robert Koch Instituts und auch der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) in Wien gehen aber nach wie vor davon aus, dass es nur der ägyptische Samen gewesen sein kann. Wenn dem so ist, wenn der EHEC-Erreger tatsächlich im Samen so lange überleben kann, dann ist das für die Wissenschaft eine völlig neue Erkenntnis, deren Folgen derzeit noch nicht absehbar sind.

In Internetforen kursieren abenteuerliche Theorien über den Ursprung des EHEC-Erregers: Er könnte bei Experimenten mit dem Bakterium Escherichia coli aus einem Labor entkommen sein oder im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Organismen stehen. Das ist freilich alles Humbug. Unter EHEC (enterohämorrhagische Escherichia coli) verstehen Wissenschafter alle Bakterien, die in der Lage sind, Shigatoxin zu bilden, ein Gift, das zum so genannten HU-Syndrom führen kann, einem Krankheitsbild, das durch blutigen Durchfall, Nierenversagen und Schädigung des zentralen Nervensystems gekennzeichnet ist.

Ein so genanntes enteropathisches (den Darm krank machendes) Kolibakterium wurde erstmals schon 1940 entdeckt. Im Jahr 1982 zeigte sich dann bei einem Ausbruch in den USA, dass solche Bakterien durch Mutation die Fähigkeit zur Bildung eines neuen Gifts – Shigatoxin – erworben hatten. Wahrscheinlich ist das EHEC-­Bakterium im menschlichen Organismus entstanden, nachdem die Krankheit, bei der dieses Toxin eine Rolle spielt, die ­Shigellen-Ruhr, nur beim Menschen vorkommt und das E.-coli-Bakterium das Shigatoxin-Gen 1 und 2 aufgenommen hat.
Auffällig war jedenfalls, dass beim Ausbruch in den USA jeder zweite Patient an blutigem Durchfall erkrankt war. Im Jahr 1987 kam es in der chilenischen Hauptstadt Santiago zu einem Ausbruch mit 253 an blutigem Durchfall erkrankten Kindern. Aber die Laboranalyse zeigte, dass es sich bei dem Erreger weder um den enteropathischen noch um den EHEC-Typ, sondern um eine dritte Erscheinungsform handelte: ein so genanntes Enteroaggregatives E.-coli-Bakterium (EAEC).

Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie sich der jeweilige Typus an die Darmschleimhaut anlagert. Während sich das EHEC-Bakterium zu diesem Zweck eine Art Fundament zimmert, setzen sich mehrere EAEC-Bakterien wie gestapelte Ziegelsteine auf die Darmwand. „Neu beim jetzigen EHEC-Erreger ist, dass sich das EHEC-Bakterium diese Eigenschaft des EAEC-Bakteriums angeeignet hat“, erklärt Franz Allerberger, Bakteriologe und Humanmediziner bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, der auch im wissenschaftlichen Beirat des deutschen Robert Koch Instituts sitzt.

Dass Gemüsesprossen ein möglicher Überträger der Krankheit sind, ist übrigens schon seit 15 Jahren bekannt. Im Jahr 1996 kam es in Japan zum bisher größten EHEC-Ausbruch der Geschichte mit mehr als 12.000 erkrankten Kindern, die sich mit kontaminierten Radieschensprossen im Kindergarten angesteckt hatten. Deshalb suchten die Wissenschafter des Robert Koch Instituts von Anfang an auch nach Sprossen. Das Problem war allerdings, dass die erste Patientenbefragung in diese Richtung kein klares Ergebnis brachte: Nur drei von zwölf befragten Patienten gaben an, Sprossen gegessen zu haben.

Erst in einer zweiten Befragung kamen die Fahnder dem Erreger auf die Spur. Allerdings gingen sie diesmal ganz anders vor. Sie befragten an EHEC erkrankte Mitglieder einer Reisegruppe, ob sie Fotos von ihren gemeinsamen Essen gemacht hätten. Auf den herbeigeschafften Bildern suchten die Forscher dann nach Sprossen auf den Tellern. Zusätzlich befragten sie den Koch, welche Zutaten in dem Menü enthalten waren, das die Reisegruppe konsumiert hatte. So stießen sie dann nach und nach auf die Sprossen, die bei dem Menü als rohe Zierde zum Drüberstreuen verwendet worden waren. Die Sprossen waren so klein, dass sich die meisten Patienten nicht mehr daran erinnern konnten. Aber die Aussagen des Kochs und erst nachher vorgenommene Kontrollbefragungen der Patienten brachten die Fahnder dann auf die Fährte zum Sprossen­erzeuger in Bienenbüttel, den die Gesundheitsbehörden als Quelle für den überwiegenden Teil der deutschen Ausbruchscluster identifizierten.

Kolibakterien sind aber sehr empfindlich gegen höhere Temperaturen und gegen Austrocknung. Die Forscher des Robert Koch Instituts gehen daher davon aus, dass die EHEC-Bakterien nicht auf der Sprossenoberfläche saßen, sondern tief im Sprossengewebe. Dass der Krankheitserreger in der Lage ist, auch in Pflanzenzellen einzudringen, hatten japanische Forscher schon nach der EHEC-Epidemie erwogen, bei der sich 12.000 Kinder durch den Verzehr von kontaminierten Radieschensprossen angesteckt hatten. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung gab es im Jahr 2006, als es USA-weit zu mehr als 200 EHEC-Erkrankungen durch den Genuss von infiziertem Spinat kam. Es wurden nämlich kaum Erreger auf der Oberfläche des Gemüses entdeckt.

Im Vorjahr konnte schließlich nicht nur eine Münchener Forschergruppe, sondern auch der AGES-Bakteriologe Allerberger zusammen mit der Pflanzenbiologin Angela Sessitsch vom Austrian Institute of Technology (AIT) in Seibersdorf im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts nachweisen, dass die an sich empfindlichen Bakterien offenbar in der Lage sind, aus dem Boden über die Wurzeln in die Pflanzenzellen und damit in den Samen einzudringen. „Dort sind sie gegen Austrocknung und UV-Licht geschützt und können offenbar über Wochen, wenn nicht Monate überleben. Und das ist völlig neu“, sagt Allerberger.

Wenn das zutrifft, dann würde schon der mit EHEC kontaminierte Kot eines Rehs genügen, um einzelne Pflanzen in einem Feld zu infizieren. Neu ist aber noch eine weitere Erkenntnis aus dem EU-­Forschungsprojekt: Wenn beispielsweise EHEC-Bakterien auf Salatblättern sitzen, die tagelang in einem Supermarkt liegen, dann können die Erreger über so genannte „Wundränder“, das sind Abriss- oder Schnittstellen an den Salatblättern, wo Pflanzensaft austritt, leichter in die Pflanzenzellen eindringen. Manche Forscher plädieren deshalb dafür, Salat vor dem Verkauf mit chloriertem Wasser zu reinigen, wie das in den USA geschieht. Andererseits: Wenn die Gefahr wirklich so groß wäre, warum passiert dann so selten ein Ausbruch?

Jedenfalls wirft die Epidemie in Deutschland viele neue Fragen auf. „Was die Konsequenz ist, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen“, sagt Allerberger.

Bei insgesamt 4047 Erkrankungsfällen hatte der Ausbruch in Deutschland und Frankreich 50 Menschenleben gefordert. Damit war das einer der größten bisher berichteten EHEC-Ausbrüche weltweit und der bisher mit Abstand größte in Europa. Betroffen waren vor allem die deutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Einzelne Erkrankungsfälle traten auch in anderen deutschen Bundesländern, darunter in Bayern, sowie in Dänemark, Schweden, in den USA und auch in Österreich auf.

Aber Österreich blieb von der Epidemie verschont.
Ganze sechs der heuer hierzulande bisher registrierten 77 EHEC-Infektionen standen im Zusammenhang mit dem Ausbruch in Deutschland. Und alle sechs Patienten hatten die Krankheit nicht in Österreich, sondern im Ausland erworben, darunter vier deutsche Touristen, die sich in Deutschland mit dem Erreger O104:H4 angesteckt hatten. Bei zwei Vorarlberger Kindern brach die Krankheit nach einem Campingurlaub in Korsika aus. Alle diese Fälle verliefen glimpflich.

Die Hysterie war hierzulande um Zehnerpotenzen größer als die Gefahr. Nachdem in Deutschland EHEC-Erreger auf einzelnen spanischen Gurken entdeckt worden waren, brach auch der österreichische Frischgemüsemarkt Anfang Juni völlig ein, obwohl die Ware großteils bereits aus österreichischer Produktion stammte. An die zwei Millionen frisch geerntete Gurken wurden vernichtet, laut Bundeswirtschaftskammer beziffern Österreichs Gemüseproduzenten den Schaden mit etwa einer Million Euro. Dazu kommen erhebliche Einbußen der Handelsbetriebe.

War das notwendig?
Die Gesundheitsbehörden sind extrem vorsichtig, weil sie sich keinen Fehler leisten können. Und solange sich niemand hinstellt und sagt, dass Gurken und Tomaten aus österreichischer Produktion „unbedenklich“ seien, sind die Konsumenten verunsichert. So taumelt das Publikum nach BSE, SARS, Vogel- und Schweinegrippe, Pandemie, Listerien und EHEC von einer Hysterie in die andere. Die mediale Aufmerksamkeit verebbt fast ebenso rasch, wie sie gekommen ist.