Einer flog übers Stubaital

Tirol. Drei Jahre nach einem VfGH-Erkenntnis streifen Agrargemeinschaften immer noch ­Millionenbeträge ein

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Ab und zu geht Manfred Leitgeb in die Luft, um die Bürde seines Amts abzustreifen. Vor drei Wochen ließ sich der Tiroler wieder einmal von seinem Flugdrachen in eisige Höhen hinauftragen. Eine Stunde lang trieb er übers Kreuzjoch und den Skiort Fulpmes hinweg – und zurück nach Mieders. Als er hier am Boden aufsetzte, war er wieder der „Herr Bürgermeister“.

Andere Menschen strapazieren ihre Nerven, wenn sie in dreitausend Meter Höhe an einem mit Stoff überzogenen Gestell hängen. Leitgeb hingegen entspannt sich, wenn die Felder, Wege und Häuser von Mieders wie eine Spielzeuglandschaft unter ihm liegen: „Da oben denke ich nicht an Gemeindepolitik.“ Im April 2008 hatte er vom Vater das Amt des ÖVP-Bürgermeisters übernommen. Wenige Wochen später steckte er mitten im wilden Streit, wem Grund und Boden in Mieders gehören, wer hier also anschafft – die Gemeinde oder die Agrargemeinschaften.

Mitgliedern dieser bäuerlichen Zusammenschlüsse wuchs historisch das Recht zu, ihr Vieh auf allgemeine Gründe zu treiben und so viel Holz aus dem Wald zu holen, wie sie zum Heizen und zum Bau ihrer Ställe brauchen. Doch nach dem Krieg rissen Agrargemeinschaften in etwa 175 von 289 Tiroler Gemeinden riesige Flächen an sich – und setzten sich als Eigentümer in die Grundbücher. Agrarbeamte des Landes halfen dabei mit. Von insgesamt 2000 bis 3000 Quadratkilometern ist die Rede, eine Fläche so groß wie Osttirol. In schamlos ausgeplünderten Gemeinden mussten die Bürgermeister nach der Pfeife der Agrarier tanzen. Ohne ihre Zustimmung gab es keinen sozialen Wohnbau, keine neuen Parkplätze, keinen Kanalanschluss.

Bürgermeister, die gegen die Grundherren aufbegehrten, blitzten beim Land reihenweise ab – und dies, obwohl der Verfassungsgerichtshof bereits 1982 feststellte, dass die Vermögensverschiebungen rechtswidrig waren. 2006 platzte dem Altbürgermeister von Mieders der Kragen. Er zog vor die Agrarbehörde. Der damalige Leiter Josef Guggenberger gab der Gemeinde Recht. Dafür wurde er später aus dem Amt geekelt. Doch die Lawine, die er losgetreten hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Die Causa Mieders wanderte zu den Höchstrichtern im fernen Wien. Und diese bekräftigten im Sommer 2008 – Leitgeb junior war als Nachfolger damals frisch im Amt –, was sie 26 Jahre zuvor bereits gesagt hatten: „Offenkundig verfassungswidrig“ seien die Eigentumsübertragungen. Und: Erträge aus dem Substanzwert – also aus Verkauf von Grundstücken, Verpachtung von Gewerbeflächen und Pisten oder Abbau von Schotter – gehören ins kommunale Budget.

Im Sommer jährt sich der Spruch zum dritten Mal. Bis heute hat Manfred Leitgeb von dem Geld nichts gesehen. Der Bürgermeister von Mieders befindet sich damit in trister Gesellschaft. Laut Ernst Schöpf, Präsident des Gemeindeverbands Tirol, floss bis zum heutigen Tag „noch kein einziger Euro an die Kommunen zurück“: „Ich weiß jedenfalls noch von keiner einzigen Gemeinde, die auf das Vermögen, das ihr zusteht, zugreifen kann.“ Ähnliches berichtet Günther Hye, Direktor des SPÖ-Landtagsklubs in Tirol: „Die Geduld der Bürgermeister geht allmählich zu Ende. Wenn alle durch alle Instanzen ziehen müssen, dauert es noch ewig, bis die Gemeinden zu ihrem Recht kommen.“

Ausständige Überweisung.
Die Kosten dafür tragen die Steuerzahler. Im schwarzen Mantel und ohne Handschuhe stapft der Bürgermeister von Mieders durch den verschneiten Garten des Kindergartens. Hier soll ein Zubau entstehen, damit die Kleinen nach dem Mittagstisch betreut werden können. 430.000 Euro hat der Gemeinderat dafür genehmigt. Leitgeb marschiert zur Volksschule weiter. Das Gebäude ist hundert Jahre alt. Der Keller gehört trocken­gelegt. Der Turnsaal ist zu klein, zu niedrig, zu alt. Danach geht es zur Piste weiter. Mieders braucht eine neue Beschneiungsanlage – Kostenpunkt: 900.000 Euro, dazu einen Wasserteich um eine Million Euro. Der Skilift ist zehn Jahre alt und sollte sich irgendwann einmal rechnen. Zurück im Büro, nimmt Leitgeb den Kalender von der Wand. Er enthält eine Aufnahme, die er von seinem Flugdrachen aus gemacht hat. Putzig und friedlich schaut Mieders von oben aus. Dann fischt Leitgeb ein Schreiben aus seinem Sorgen-Ordner. Es ist mit 10. Februar datiert und an die örtliche Agrargemeinschaft gerichtet: Man möge endlich 270.000 Euro überweisen und weiters nicht auf den Anteil an den Rücklagen vergessen: 1,2 Millionen Euro. Die Reaktion: null – so wie auf alle Aufforderungen zuvor.

2009 wurden die „Gemeindegutsagrargemeinschaften“ verpflichtet, alle Erträge, die der Kommune gehören, in einem eigenen Rechnungskreis auszuweisen. Einige ließen sich dazu erst bewegen, nachdem ihnen das Land mit einem Sachwalter gedroht hatte. Laut Berechnungen des Gemeindeverbandspräsidenten Schöpf gehen den Gemeinden jährlich 30 bis 40 Millionen Euro durch die Finger: zehn Millionen Euro aus dem Verkauf von Holz, zehn Millionen Grundstückserlöse, zwischen 13 und 15 Millionen Euro an Pachteinnahmen, Erlösen aus Schottergruben. Die in Agrargemeinschaften gehorteten Rücklagen – laut Schöpf rund 40 Millionen Euro – sind hier noch nicht eingerechnet.

„Das sind Hausnummern, um Stimmung zu machen“
, schimpft Josef Hechenberger, Präsident der Landwirtschaftskammer Tirol. „In Wirklichkeit geht es um drei bis vier Millionen Euro.“ Doch sein Grant zielt ins Leere: Schöpf, nebenbei ÖVP-Bürgermeister von Sölden, ist schwer als Propagandist der Opposition dingfest zu machen. ­Seine Daten habe er zudem aus offiziellen Quellen des Landes, sagt Schöpf: „Sie stammen aus 2009, die aktuellen Zahlen liegen eher noch höher, weil ja weiter Grundstücke verkauft wurden.“ Auch den Verdacht, die Agrarier setzten auf Zeit und verschleppten Verfahren, weist Hechenberger empört von sich: Die Agrargemeinschaften seien „60 oder 70 Jahre lang Eigentümer gewesen“, da werde es doch erlaubt sein, „jetzt erst einmal alles zu prüfen“. In manchen Gemeinden – Hechenberger nennt Steinach am Brenner und Schrims – sei man bereits zu einvernehmlichen Lösungen gelangt: „Da kommt es bald zu ersten Überweisungen.“

Die Ankündigung lässt Alarmglocken schrillen.
Laut einem Gutachten des Strafrechtsprofessors Andreas Scheil bringen sich Bürgermeister in den Verdacht der Untreue, wenn sie um des Dorffriedens willen güt­lichen Lösungen zustimmen und das Wohl der Gemeinde aus dem Auge verlieren. Bis zu 15 Jahre Haft drohen dafür. Viele Bürgermeister fühlen sich aufgerieben zwischen den Fronten. „Wir dürfen uns vor Ort die Schädel einschlagen, der Landeshauptmann hält sich aus allem heraus“, stöhnt Wilfried Fink, stellvertretend für viele Kollegen. Seit 2003 amtiert Fink als SPÖ-Bürgermeister in Schönwies, einer kleinen, auf 700 Metern gelegenen Gemeinde im Oberinntal. Für den gelernten Juristen geht aus den Regulierungsbescheiden der fünfziger und sechziger Jahre „glasklar“ hervor, dass die hiesigen Agrargemeinschaften aus Gemeindegut entstanden sind – und dass 80 Prozent der Gemeindefläche, die ihnen laut Grundbuch „gehören“, von ihnen also bloß treuhändisch verwaltet werden dürfen.

Agrarierherz.
Auch die Schönwieser Bürger bekamen noch keinen Cent – weder von den jährlich etwa 180.000 Euro Erlösen aus dem Schotterabbau noch von jenen 600.000 Euro, die sich als Rücklagen in den Agrargemeinschaften angesammelt haben. Groß war die Empörung, als Fink sich erdreistete, im laufenden Haushalt jene 180.000 Euro anzusetzen, die von den Agrargemeinschaften im Rechnungskreis II selbst ausgewiesen werden, Geld also, das der Gemeinde laut Gesetz zur Verfügung steht. Theoretisch. In der Praxis kommt Fink nicht an das Konto heran – und die Agrargemeinschaft überweist das Geld nicht. Vergangene Woche stellte er den Betrag fällig. Das Gemeindebudget für 2011 wurde in letzter Minute und mit hauchdünner Mehrheit beschlossen. Vier von 13 Mandataren sind Agrargemeinschaftsmitglieder. Auch sie mussten auf Treu und Eid versprechen, das Gemeindevermögen zusammenzuhalten. „Doch wenn sie bei der Tür hinaus- und bei der Agrarstube hineingehen, pocht in ihnen das Agrarierherz“, so Fink.

Bis vor zwei Jahren war Bauernbund-Direktor Peter Raggl der Obmann der Agrargemeinschaft in Schönwies. Er kann nicht genug betonen, wie „kompliziert“ alles sei: „Die Behörden arbeiten auf Hochdruck. Die Materie ist irrsinnig komplex. Keine Gemeinde ist mit der anderen zu vergleichen.“ Doch gar so schwierig, wie die Bauernvertreter es darstellen, liegen die Dinge nicht: Im Jänner 2010 hatte der Verfassungsgerichtshof in einer anderen Causa – es ging um Langkampfen, Bezirk Kufstein – unmissverständlich gesagt: Was zum Zeitpunkt der Regulierung im Grundbuch steht, das gilt. Natürlich, räumten die Höchstrichter ein, seien selbst bei Grundbüchern Irrtümer nicht auszuschließen.

Hier haken die Bauernfunktionäre nun ein. Die Agrargemeinschaft Schönwies stellte beim Land Tirol einen Antrag, man möge feststellen, ob das, was im Grundbuch steht, stimme. Nicht nur Fink enerviert es, dass man wieder „bis zu Maria Theresia zurückgehen will, um Dinge festzustellen, die längst festgestellt sind. Dann wird dagegen wieder berufen. Irgendwann landet die Sache erneut beim Höchstgericht. Wir treten auf der Stelle.“ Laut Fink zahlten sich die 120 Mitglieder der Agrargemeinschaften in Schönwies – nur mehr etwa ein Viertel davon seien noch wirklich als Landwirte aktiv – in den vergangenen zwanzig Jahren insgesamt 1,5 Millionen Euro aus. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: In einem Dorf mit 1800 Einwohnern, die Steuern und Abgaben zahlen, schöpft eine Gruppe Privilegierter aus der simplen Tatsache Gewinn, dass sie Mitglieder einer Agrargemeinschaft sind, die vor Jahrzehnten widerrechtlich Grund und Boden an sich gerissen hat.

In manchen Orten hat das Tauziehen Züge einer Groteske angenommen. Maria Zwölfer, Bürgermeisterin in Lermoos und die erste Frau in dieser Funktion in einem Tiroler Dorf, muss sich als „Enteignerin und Kommunistin“ verunglimpfen lassen, weil die Agrargemeinschaften nicht akzeptieren, was „bescheidmäßig schon festgestellt ist: nämlich, dass es sich bei ihren Besitztümern um Gemeindegut handelt“. Ihre Widersacher spielen auf Zeit: Zuerst weigerten sie sich, getrennte Rechnungskreise zu führen. Dann stellten sie den Rechnungskreis II, wo das Geld für die Gemeinde ausgewiesen sein muss, frech auf null. Erst als ein Sachwalter des Landes vor der Tür stand, verlegten sie sich auf eine ordentliche Buchführung. Allerdings verlangten sie den „Mehraufwand“ prompt von der Gemeinde zurück. Zwölfer erklärte sich bereit, 160 Euro pro Monat beizusteuern. Fazit: Die Bürger von Lermoos zahlen bis heute brav Pacht für eine Biokompostanlage, die ihnen ohnedies gehört. Von den Einnahmen der Agrargemeinschaft aus Verpachtungen – jährlich rund 50.000 Euro – haben sie umgekehrt noch keinen Euro bekommen, natürlich auch nicht von den Rücklagen, die von den Agrargemeinschaften angehäuft wurden. Dafür wurde Bürgermeisterin Zwölfer bereits dreimal gemahnt, 5000 Euro zu bezahlen. So viel stellen die Agrargemeinschaften für ihren bürokratischen Mehraufwand in Rechnung. Auch die Causa Lermoos liegt bei den Höchstrichtern. Zwölfer: „Ich hoffe, dass ihr Erkenntnis bald da ist. Dieses Hin und Her ist unerträglich.“

Boykott.
In einem Rechtsstaat steht es jedem frei, alle Mittel auszuschöpfen. „Aber wenn es einmal nur noch darum geht, die Umsetzung eines VfGH-Erkenntnisses zu vereiteln, muss der Gesetzgeber einschreiten“, fordert Georg Willi, Chef der Tiroler Grünen. Wie sehr sich die Lage in den Dörfern zuspitzt, erkennt er daran, dass sich inzwischen auch bei ihm „kreuzbrave ÖVP-Bürgermeister“ melden: „Und für sie bin ich sicher nicht die allererste Adresse.“ Die Opposition will nun gesetzliche Änderungen, die ohne Stimmen von ÖVP- und SPÖ-Mandataren aber nicht durchzubringen sind. Im Tiroler Landtag sitzen sieben Bürgermeister, deren Gemeinden vom Thema Agrargemeinschaften betroffen sind. Auf sie setzt Fritz Dinkhauser vom Bürgerforum Tirol – Liste Fritz: „Vor Ort erklären sie großartig, dass sie für die Bürger sind. Jetzt können sie zeigen, ob sie wirklich ihre Vertreter sind – oder Verräter.“ Zwei Anträge warten darauf, im Landtag behandelt zu werden. Einer stammt aus der Feder des Gemeindeverbandschefs Schöpf und wird von den Grünen unterstützt. Er zielt darauf ab, dass in den Agrargemeinschaften künftig Gemeindevertreter das Sagen haben. Der zweite stammt vom Liste-Fritz-Agrarrechtsexperten Andreas Brugger: Er will den Kommunen das „atypische Gemeindegut“ zurückgeben und die Grundbücher umschreiben lassen. Dinkhauser: „Früher gab es Raubritter, jetzt haben wir Agrarritter. Mit Einsprüchen, die nur dazu dienen, Zeit zu gewinnen, und Vereinbarungen, bei denen Bürger über den Tisch gezogen werden, muss Schluss sein.“

Gotthard Jenewein
, Obmann der Agrargemeinschaft Mieders, erzählt naturgemäß eine andere Version der Geschichte: Man hätte sich mit der Gemeinde Mieders bereits geeinigt, wäre nicht Gemeindeverbandspräsident Schöpf dazwischengetreten, der sich „ja nur politisch profilieren“ wolle.

Auch darauf antwortet Bürgermeister Leitgeb mit der Übersicht des Drachenfliegers: „Sein Angebot war weit weg vom VfGH-Erkenntnis. Ich muss auf die Gemeinde schauen, sonst mache ich mich strafbar.“ Laut Gemeindeverband werden etwa 30 Tiroler Gemeinden das laufende Jahr mit einem Minus abschließen. Einige davon wären ihre Sorgen „auf einen Schlag los, wenn sie das Geld, das ihnen zusteht, auch bekommen“, sagt Schöpf. Die kleine Gemeinde Mieders am Beginn des Stubaitals wird 2011 über die Runden kommen. Doch, so Bürgermeister Leitgeb: „Investitionen für die Zukunft sind für uns nicht drin.“

Foto: Michael Rathmayr

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges