Elias Bierdel rettete 37 Flüchtlinge

Elias Bierdel rettete 37 Flüchtlinge: Jetzt soll Chef von Cap Anamur ins Gefängnis

Jetzt soll Chef von Cap Anamur ins Gefängnis

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Von Edith Meinhart

Ein kleiner gelber Fleck auf offener See. Es gibt ein Foto von dem Moment, als er zum ersten Mal auftauchte. Die Besatzung des Hilfsschiffs Cap Anamur tippte auf Arbeiter, die zu einer Ölplattform unterwegs sind. Ein paar Minuten später drückte der Fotograf erneut ab. Auf dem nächsten Bild sieht man ein Schlauchboot, in dem 37 dunkelhäutige Männer dicht aneinander gedrängt sitzen.

Elias Bierdel hat Kaffee gemacht und seinen Laptop in die Gartenlaube getragen. Es ist ein ruhiger friedlicher Sonntag in Pinkafeld, ein sonniger Tag. Das Schlauchboot auf dem Bild wirkt auf groteske Art harmlos. Man muss etwas von der See verstehen, um nachvollziehen zu können, was Stefan Schmidt, dem Kapitän, durch den Kopf schoss, als das Gummiboot am 20. Juni 2004 vor seinen Augen auftauchte: Es ist überladen. Und es hat zu wenig Luft. Sobald die Wellen höher schlagen, drücken sie den Bug unter Wasser. Oder der eingelegte Holzboden bricht auseinander und durchbohrt die Luftkammer. Die Passagiere sind – so oder so – in Lebensgefahr.

Also nahm die Cap Anamur die 37 Männer an Bord. Dafür sollen nun Elias Bierdel, damals Chef des Vereins, dem die Cap Anamur, ein zu einem Hilfs- und Rettungsschiff umgebauter ehemaliger Frachter, gehörte, und Kapitän Stefan Schmidt bestraft werden. Seit November 2006 wird den Männern in Sizilien der Prozess gemacht – wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise in einem besonders schweren Fall“, weil es um mehr als sechs „Eingeschleppte“ geht. Der Tatverdacht erfüllt zwar nicht annähernd die im Protokoll der Palermo-Konferenz genannten Kriterien für Schlepperei – die afrikanischen Flüchtlinge wurden weder heimlich noch zum Zweck des Gelderwerbs an Bord genommen –, dennoch forderte der Staatsanwalt vier Jahre Haft und 400.000 Euro Geldstrafe.

Bereits zu Beginn des Prozesses hatte die Oberstaatsanwaltschaft klargemacht, dass an den beiden Angeklagten ein Exempel statuiert werden soll: „Die Staatsanwaltschaft ist in rechtlicher und politischer Hinsicht dazu gezwungen, die Wiederholung solcher Aktionen zu verhindern, auch wenn sie in edler Absicht geschehen. Wir riskieren sonst, trojanische Pferde hereinzulassen, mit denen tausende Leute zu uns kommen könnten.“ Am Mittwoch dieser Woche sollte das Urteil gesprochen werden. Die Verhandlung wurde jedoch um zwei Wochen vertagt. Der lange Prozess zerrt an seinen Nerven. Doch für Bierdel ist er bloß ein „matter Widerschein für das viel größere Unrecht, das sich auf den Meeren vor Europa ereignet“.

Die Cap Anamur habe den Finger in eine „europäische Wunde“ gelegt und Italien habe darauf mit einer „ungeheuren Brutalisierung“ reagiert, konstatiert Karl Kopp, Europareferent der deutschen NGO Pro Asyl.
Jeden Tag steuern Menschen in seeuntüchtigen Schlauchbooten die südlichen Küsten Europas an, und tausende sterben jedes Jahr bei dem Versuch, sie zu erreichen. Seit mehr als zehn Jahren zählen Nichtregierungsorganisationen wie Europe Fortress die meist namenlosen Toten. Rund 16.000 stehen auf ihrer Liste. Völlig im Dunkeln liegt die Zahl jener, die das Wasser spurlos verschluckt.

Gummifetzen. Zu Ostern besuchte Bierdel die Insel Lesbos und fand dort „am Strand quasi alle dreißig Meter Fetzen von Schlauchbooten und Schwimmwesten“. Schon vor Jahren sei ihm an einem griechischen Strand ein Gummiwrack untergekommen, das aussah, „wie von einem Laserschwert in der Mitte durchgetrennt“. Bierdel fotografierte den Fund und zeigte das Bild Karl Kopp. Dieser initiierte einen Bericht, der 2007 in Brüssel und Athen vorgestellt wurde und international hohe Wellen schlug. Das griechische Parlament berief eine Sondersitzung ein, die Regierung zeigte sich entsetzt, der Chef der Küstenwache wurde in Pension geschickt. An die hundert in Griechenland gestrandete Flüchtlinge waren interviewt worden. Fast alle erzählten von Misshandlungen. Ein Palästinenser, der es von Libyen nach Chios geschafft hatte, berichtete, er sei auf ein Boot der Küstenwache gestiegen und habe gedacht, nun sei er in Sicherheit. Weil er den Beamten das Schiff nicht beschreiben wollte, in dem er übergesetzt hatte, hätten sie einen Eimer geholt und seinen Kopf mehrmals unter Wasser getaucht. Danach hätten sie ihm eine Pistole an den Kopf gesetzt und abgedrückt. Die Waffe war ungeladen.

In manchen griechischen Häfen lägen graue Gummiboote vor Anker, so Bierdel. Touristen fallen sie nicht auf, aber ihm stächen sie sofort ins Auge. Sie trügen keinen Namen, keine Nummer, keine Flagge und gehörten einer Spezialeinheit der griechischen Küstenwache, die zur Terrorabwehr gegründet worden sei: „Niemand weiß, wo sie auf ihren nächtlichen Einsätzen herumfahren und was diese Spezialeinheiten machen, wenn es finster ist.“

Die Einheimischen verbrennten Plastikfetzen, die sie am Strand fänden, wie Müll. Und die Fischer, erzählt Bierdel, fertigten Karten an, auf denen sie mit Totenköpfen jene Stellen im Meer markierten, wo sie besser nicht mehr fischten, „weil man da auch Überreste von Menschen aus dem Wasser zieht, Sachen, die man nicht sehen will“. Vor Kurzem habe er mit einer Deutschen gesprochen, die auf Lanzarote ein Ferienhaus besitzt: „Die kennt das seit Jahren, dass morgens Leute vom Meeresufer hochkommen und sie macht ihnen Tee.“ Oft wüssten die Gestrandeten nicht, wo sie sind. Vorigen Sommer sei ein hohlwangiger Afrikaner auf sie zugewankt, habe ihre blonden Haare gesehen und gefragt: „Are we in Holland?“

Die Dramen, die sich jeden Tag ereignen, sind kleine Notizen im Chronikteil von Tageszeitungen. „Wir müssen genauer hinschauen“, sagt Bierdel, der den Verein borderline europe (www.borderline-europe.de) mitbegründete, eine Art Watchdog für die europäische Außenmauer. Selten wird aus den täglichen Nachrichtensplittern eine große europäische Geschichte. Am 28. Mai 2007 druckte die britische Tageszeitung „The Independent“ auf ihrer Titelseite das Foto eines Fischpools ab, an den sich 27 Schiffbrüchige klammern. In dem riesigen Behältnis werden normalerweise lebende Thunfische transportiert. Als vor Lampedusa ein Boot sank, zog ein Frachter gerade mit dem Fischpool vorbei. Die Ertrinkenden hielten sich daran fest und mussten drei Tage und drei Nächte lang in dieser Lage ausharren, weil kein Land sich ihrer annehmen wollte. „Europe’s shame“ schrieb „The Independent“ unter das Bild.

Ende März dieses Jahres sanken mehrere Flüchtlingsboote in stürmischer See auf dem Weg von Libyen nach Italien. Fast 300 Menschen kamen dabei ums Leben. Es war die bis dato größte Flüchtlingskatastrophe in der Geschichte der Europäischen Union. Kurz darauf rettete ein türkischer Frachter 140 Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer. Niemand wollte sie an Land lassen. Fünf Tage lang trieb das Schiff auf dem Meer ­herum. Die Geretteten mussten ohne Versorgung auf offenem Deck ausharren. Wasser, Essen, Platz sind knapp kalkuliert: „Da bricht schon nach kürzester Zeit der Notstand aus“, sagt Bierdel.

Die italienische Regierung hatte zu dieser Zeit schon die nächste Eskalationsstufe anvisiert: Seit zwei Wochen werden Flüchtlingsboote auf hoher See mit Kriegsschiffen nach Libyen zurückgedrängt, in ein Land, das weder die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat noch über ein funktionierendes Asylwesen verfügt. Ministerpräsident Silvio Berlusconi verteidigte den brachialen Bruch internationalen Rechts mit dem Argument, man wolle nur echte Schutzsuchende an Land lassen. Das war selbst in den Reihen der nicht als zimperlich bekannten Guardia di Finanza manchen zu viel. Anonym vertrauten Beamte einem italienischen Journalisten an: „Wir haben den Befehl durchgeführt, doch wir schämen uns dafür.“

An Bord der Cap Anamur gab es – anders als auf normalen Frachtschiffen – Hilfsgüter und medizinische Einrichtungen. ­Darauf konnte die Besatzung zurückgreifen, als sich herausstellte, dass kein europäisches Land die schiffbrüchigen Afrikaner aufnehmen wollte. Wochenlang wurde das Schiff von Hubschraubern umflogen, von Militärs gefilmt, von Polizeibooten flankiert und von der Küste ferngehalten.

Nach elf Tagen wurde die Lage auf der Cap Anamur prekär. Die geretteten Afrikaner traten in einen Hungerstreik, und Einzelne drohten, sich ins Meer zu stürzen. Kapitän Stefan Schmidt erklärte das Schiff ­daraufhin zum Notfall, hisste die Flagge der Friedensbewegung und nahm Kurs auf den italienischen Hafen Porto Empedocle. Als Elias Bierdel am 12. Juli 2007 von Bord ging, sah er Menschen, die ihm zujubelten. Die Anspannung der vergangenen Wochen fiel von ihm ab. Er grüße die Menge am Ufer, riss die Arme hoch, lachte. Auch von diesem Moment gibt es ein Foto. Die Medien druckten es und schrieben, er habe „wie ein Triumphator“ ausgesehen. Es ging ihm lange nicht aus dem Kopf, dass ausgerechnet Medienleute ihm den Vorwurf einer „Inszenierung“ machten: „Als hätten wir die Menschen in ein Boot gesetzt, damit wir sie danach retten können.“

Präzendenzfall. Die Küstenwache nahm die Afrikaner mit Gummihandschuhen, Mundschutz und Pistolen in Empfang. Die geretteten Männer landeten im Abschiebegefängnis San Benedetto, das später – nach harscher Kritik des Europaparlaments – geschlossen wurde. Kurz darauf wurden die Afrikaner, die bis auf wenige Ausnahmen behaupteten, Sudanesen zu sein, nach Ghana abgeschoben. Bierdel und Kapitän Schmidt kamen ins Gefängnis und wurden erst nach vier Tagen und heftigen internationalen Protesten freigelassen. Die Vorerhebungen zogen sich über zwei Jahre hin. Im November 2006 begann der Prozess wegen Schlepperei.
Von ihrem eigenen Land bekamen die deutschen Staatsbürger Bierdel und Schmidt zunächst wenig Rückendeckung. Der damalige Innenminister Otto Schily erklärte – gemeinsam mit seinem italienischen Amtskollegen Beppe Pisano – am Rande einer EU-Konferenz, es gehe nun darum, „einen gefährlichen Präzedenzfall“ zu verhindern. Europa fühlte sich angegriffen.

„Komisch nur, dass ich auch immer das Gefühl hatte, Europa verteidigen zu müssen“, sagt Bierdel. Er wuchs im Westteil von Berlin auf, im fünften Stock eines Plattenbaus, fünfzig Meter von der Mauer entfernt. Sein Schulweg führte an ihr entlang. Mit zehn zog die Familie ins Rheinland. Bierdels Urgroßvater und Großvater waren in den beiden Weltkriegen gefallen. Sie liegen in Frankreich begraben. Elias Bierdel, Jahrgang 1960, zog es als Jugendlichen jede freie Minute über die Grenze nach Frankreich. Er habe eine neue Ära heranbrechen sehen: „Damals ist der Europäer in mir wach geworden.“ Wenn er heute die Bilder von den verminten, mit Stacheldraht und Überwachungstechnik gesicherten Außengrenzen Europas sieht, denkt er an die „Mauer, die man in Berlin nicht mehr sieht. Sie wurde weiter draußen hochgezogen. Aber sie sieht genauso aus wie die damals.“

Am Fließband bei Renault, wo Bierdel als junger Mann im Akkord Radaufhängungen fabrizierte, beschloss er, „etwas Gescheites“ zu lernen. Er studierte Wirtschaft und verdiente sich mit elegischen Kritiken über Orgelabende ein Zubrot. Später wurde Bierdel ARD-Korrespondent, berichtete von Wien aus über den Balkan und reiste oft in den Kosovo. Doch mit den Jahren erfüllte es ihn immer weniger, einem Mann, dessen toter Onkel gerade aus dem Brunnen geholt worden war, „wie das eben so ist, im Krieg“, das Mikrofon hinzuhalten. Er wollte helfen. Eines Tages stellte er fest, dass er jede Menge Hilfsgüter in sein Auto gepackt hatte, aber kein Aufnahmegerät. Da bewarb er sich beim deutschen Komitee Cap Anamur – einer Initiative des Journalisten Rupert Neudeck und des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll. Mit dem gecharterten Frachtschiff Cap Anamur und anderen Schiffen waren zwischen 1979 bis 1986 mehr als 10.000 vietnamesische Flüchtlinge aus dem chinesischen Meer geborgen worden.

Widerstand. Bierdel half, Schulen in Afghanistan aufzubauen, und wurde 2002 zum Vorsitzenden des Vereins. Er war es, der die Idee hatte, ein eigenes Schiff anzuschaffen, um Hilfsgüter zu verteilen und Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen zu transportieren. Dass das Schiff im Juni 2004 die afrikanischen Männer aus Seenot rettete, hat ihm einen nach dem erfolglosen Hitler-Attentäter Georg Elser benannten Menschenrechtspreis eingetragen. Ganz glücklich ist er nicht darüber, in das „Oberhaus des deutschen Widerstands einsortiert“ zu werden. Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse habe ihm den Preis überreicht wie einen Lutscher: „Hier, weil du so tapfer warst!“ Dabei sei es die natürlichste Sache der Welt, Menschen in Seenot zu helfen.

Lange Zeit hatte Bierdel sich daran festgehalten, dass niemand im Ernst ihn und Kapitän Schmidt für Schlepper hielt – nicht einmal der Staatsanwalt in Sizilien. Tatsächlich scheint die italienische Justiz jedoch wild entschlossen, die Männer ins Gefängnis zu bringen. Bierdel und Schmidt wollen „keinerlei Strafe akzeptieren“. Nicht nur, „weil wir selbstverständlich keine Kriminellen sind, sondern weil wir uns in der Mitverantwortung sehen für andere“.

Er denkt dabei zum Beispiel an die sieben tunesischen Fischer, die er bei seinen Gerichtsterminen in Sizilien immer trifft, weil sie vor denselben Richtern stehen. Ihre Boote waren beschlagnahmt worden und wurden ihnen bis heute nicht zurückgegeben. Die Fischer dürften nicht auf der Anklagebank sitzen. Sie werden, so Bierdel, wie monströse Verbrecher in Metallkäfigen vorgeführt. Schlepper seien sie so wenig wie die Männer von der Cap Anamur. Die Fischer hätten bloß das Pech gehabt dazuzukommen, als ein Boot mit 44 Flüchtlingen gerade dabei war zu sinken.

Daraufhin hätten sie die Küstenwache auf Lampedusa angerufen und die Order bekommen: „Nichts anfassen, wir kümmern uns darum.“ So lange hätten sie gewartet, bis es für jede Hilfe fast zu spät war, erzählten sie. Dann hätten sie die Schiffbrüchigen, manche von ihnen bereits bewusstlos, auf ihren schwankenden Kutter gezogen. „Man muss sich das vorstellen, so eine Rettung auf See, die Menschen in Panik“, sagt Bierdel. Er halte Vorträge, rede mit Journalisten. Zu den Fischern hingegen kämen nie Reporter, und niemand frage, wovon ihre Familien nun leben sollen: „Wenn sie verurteilt werden, wird nie wieder ein Fischer einem Ertrinkenden helfen. Es schauen jetzt schon viele weg. So weit ist Europa gekommen.“ Sein mitangeklagter Freund, Kapitän Stefan Schmidt, unterrichtet in Lübeck und Hamburg Schiffssicherheit. Mehrmals schon hätten ihm Kollegen erzählt, Reedereien würden ihre Leute mündlich anweisen, Flüchtlingsboote zu übersehen, sagt er. Schmidt selbst hat noch nie von einem Kreuzfahrtdampfer gehört, der Flüchtlinge aufgelesen hätte. Er könne sich durchaus vorstellen, dass Kreuzfahrtschiffe, die in der Nacht Meilen machen müssen, um am nächsten Tag das Landprogramm zu schaffen, „auch manchmal über so ein kleines Plastikboot drüberfahren, ohne es zu merken“.

Eine grausige Vorstellung. Hätte die Besatzung der Cap Anamur damals weggeschaut, hätten sich die Verantwortlichen des Schiffs einiges erspart. Doch Bierdel weiß, dass es ihm heute noch schlechter ginge: „Es hätte mich krank gemacht. Man tut das ja immer auch für sich, wenn man was für andere tut.“