Phettberg über Bernhard

Essay: Dieser schöne Hass

Essay: Dieser schöne Hass

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Ein einziges Mal lief ich Thomas Bernhard über den Weg. Ich war Kanzlist im Amt der niederösterreichischen Landesregierung, solang diese in Wien sich befand. Auf einem meiner Pirschgänge lief ich also einmal Thomas Bernhard über den Weg. Ich war natürlich auch an jenem Tag fürchterlich dick. Und Bernhard verabscheute ja dicke, fettgefressene Leute. Ich wusste es aus seinen virtuosen Interviews und aus seinen Büchern, die ich alle verschlungen hatte.

Und tatsächlich, als Bernhard diesen fettgefressenen Österreicher daherwalzen sah, schon von weitem, bereitete er sich auf diesen schönen Hass vor und schlenderte genüsslich auf die andere Straßenseite, blieb stehen, tat, als wollte er sich Fassaden anschauen. Aber ich spürte genau, dass er hasste. Wir sind alle Radios und empfangen einander. Also wusste ich genau, dass er mich als Beweis des unbeschreiblichen Österreich empfand, dass hier schon so junge Leute so fett- und zu Ende gefressen sein würden, dass ja keine Zukunft vorstellbar sei mit solchen Leuten. Es gelang mir aber trotzdem, seine Pupillen für einen Blitz zu erhaschen. Und ich spürte: Das Jüngste Gericht hat mich verworfen. Wie Gott in der Kindheit mit mir keine Erscheinungen abhielt und mich narzisstisch kränkte, war nun auch das Urteil Bernhards negativ ausgefallen.

Ich passierte ihn und las dabei wortwörtlich mich, wie ich als Roman ablief in ihm. Auch hier in Ungnade gefallen, wie bei allen immer in Ungnade gefallen. Nicht attraktiv genug, um eines fesselnden Menschen schmackhafter Gemahl zu werden. Niemals je. Ständig gewogen und als zu gering erachtet.

Denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits tausende Bücher gestohlen und auch etliche gekauft, also betrachtete ich eine Person, die Bücher zu schreiben imstande war, als unvorstellbar groß. Und Thomas Bernhard hatte so viele Bücher geschrieben. Dass es auch schlechte Bücher geben könnte, dieser Gedanke war mir noch nicht denkbar geworden. Wenn so viele Menschen wegen der Herstellung eines Buches bereit waren, sich zu plagen, dann kann es nicht bedeutungslos sein. Ich hatte noch nicht begriffen, dass es ja um Arbeitsplätze ging und um Wirtschaftswachstum. Hauptsache, etwas geht über den Ladentisch.

Jedenfalls war es mir, von Thomas Bernhard verworfen, nun Jahre hindurch gewiss, es niemals mehr zu vermögen, Laureat zu werden. Es ist nämlich so: Man kann ein ganzes Leben als gefeierter Homme de Lettres verbringen, ohne ein Wort je geschrieben zu haben. Wenn nun also alle Werke Bernhards in einer Gesamtausgabe erscheinen, dann erscheinen damit vieler Leute Werke gleichzeitig als Gesamtausgabe. Viele von uns bringen so auch ihre Gesamtausgaben heraus. Und können nur dadurch weiterleben. Sie wissen das vielleicht überhaupt nicht. Aber eine Gesamtausgabe ist schon etwas Beruhigendes. Auch ich täte mir leichter, bereits verstorben zu sein.

Dazu kommt vor allem, dass Sätze von Thomas Bernhard leserlich sind. Dass ein Mensch es auf sich nimmt, einen Satz zu schreiben, ist ja bei diesem Risiko, gelesen zu werden, eine gewaltige Bereitschaft. Natürlich, besser gesagt: „naturgemäß“, getrieben von diversen Lüsten. Und auch Geld gibt es dafür, vor allem aber Ansehen. Wer ein Buch geschrieben hat, ist schon ein wenig gefestigt. Es gibt natürlich viele andere Festigungsquellen. Einmal begehrt worden zu sein etwa. Oder sozial stark zu sein. Oder im Fernsehen. Irgendeine Burg brauchen wir mindestens, sonst geht es nicht. Ich zum Beispiel vermag keine zehn Sekunden auf einem Fernsehkanal zu bleiben. Vergangenen Sonntag zappte ich abends vier Stunden durch meine 80 Kanäle und fand kein einziges Gesicht mehr, worin ich irgendwas Fesselndes sah, dem ich irgendwas glaubte. Dann ging ich schlafen, so einsam. Ich kann keine Bücher mehr lesen. Zumindest habe ich keinen Mut, es wieder einmal zu versuchen. Ich hatte viele Bücher zu lesen versucht, aber schon auf der zweiten Seite wurde es stets zu mühsam.

Früher hatte ich auch noch die Kraft, dieses dicke „News“ durchzublättern. Jetzt aber setz ich mich nur mehr, wenn ich nicht schlafen muss, hin und zappe im Fernsehen. Umsonst.
Natürlich würde ich am liebsten den ganzen Tag auf einer Bank sitzen, um Leute anzuschauen. Aber dann ist es ja kalt, später will ich essen, daran anschließend muss ich schlafen. Also verlasse ich die Wohnung mit meinen vielen gestohlenen Büchern nicht, in Schwaden hängt der Lurch herunter, ich sitze unter ihm, und es ist nichts im Fernsehen.

Es ist mir also unvorstellbar, aber ich habe ein Dutzend Bücher von Thomas Bernhard gelesen, als er noch lebte. Ich kann mich erinnern, dass ich sein „Holzfällen“ in einer einzigen Nacht gelesen habe. Ich habe dieses Buch dann einen Monat lang täglich wieder gelesen. Dann erschien der Roman „Auslöschung“. Das war schon ein bisschen fad, dieses Buch. Später erschienen noch Gedichte, die ich einmal Traugott Buhre Sonntag früh im Radio, von Musik umrahmt, lesen hörte. Schön zum Weinen. Ich ging bereits zur freudianischen Analyse, täglich, in die Kolingasse zu meinem Dr. Thau. Und dann starb Thomas Bernhard.

Ich hatte die „Auslöschung“ in der frisch erschienenen Taschenbuchausgabe gerade ausgelesen, schon etwas mühsam – und in dem Moment starb Thomas Bernhard. Sie hatten ihn begraben, noch bevor sie uns sagten, dass er gestorben war. Auf seinem Grab würde der Name versperrt gehalten. Da stand in einer Seitengasse meines Psychiaters, als ich von der Analyse heimging, der Autobus der Linie 40A; auf ihm hieß es verlockend: „Döblinger Friedhof“. Ich stieg ein und fuhr zum Grab. Dort bin ich dann gestanden. Es ist absurd, natürlich. Aber ich stand am Grab Bernhards.

Natürlich: Indem ich an seinem Grab stand, stand ich halt generell an der Idee des Grabes. Ich habe nichts empfunden, außer dass es eben sehr wenig hergibt zu sterben. Es kann natürlich auch sein, dass ich ihm nicht verzeihen konnte, mich für so einen Österreicher zu halten, nur weil ich fettgefressen war. Aber ich habe, auch nachdem diese fatale Begegnung stattgefunden hatte, nicht aufgehört, seine Bücher zu lesen. Es war so ähnlich, wie das Kaffeetrinken zu entdecken. Ich war einmal müde, und da habe ich gehört in der Jugend, es soll helfen, Kaffee zu trinken. Und irgendeines Tages war ich so frei in Gedanken, dass ich die Entschlusskraft hatte, in ein Café zu gehen, einen Imbiss zu nehmen, ein Soda – und einen Kaffee. Ich begriff zum ersten Mal, wie der Kaffee mich aufweckte. Seither versuche ich es täglich. Aber nur selten hilft es.

Ich hörte dennoch nicht auf damit. Ging auch nächtens auf Toiletteanlagen, jahrzehntelang, um mich anzuketten, und ab und zu kam wer und nahm mich zum Sklaven. So selten, aber doch, sodass ich es jahrzehntelang tat. Ich las also Thomas-Bernhard-Bücher, weil ich irgendein Einrasten spürte, das mir Lust bereitete. Sei es, weil er im Fernsehen mich so faszinierte, vor allem, weil er vorkam im Fernsehen, stundenlang, in eigenen Sendungen. Was ja undenkbar wäre im heutigen Fernsehen. Es ist alles undenkbar geworden für mich. Ich sitze verstaubt unter verstaubten Büchern, zappe und verwüste mich. Und denke nicht im Schlaf mehr daran, ein Buch zu lesen. Wie ich damals Bücher lesen konnte, verstehe ich heute nicht mehr. Aber ich habe tatsächlich alle Bücher Thomas Bernhards gelesen. Die „Auslöschung“ hatte ich höchstens eine Woche vor seinem Sterben zu Ende gelesen, dann kam die Fahrt zu seinem Grab. Ich entdeckte seinen verschlossenen Namen noch, ging nach Hause und las nie wieder ein Buch seit diesem Tag.

Es ist schön, dass Bernhard ein paar Tage vor seinem Tod noch den Notar aufsuchte, um zu verfügen, dass 70 Jahre lang nichts in diesem schrecklichen Österreich gedruckt, vorgelesen oder gespielt werden dürfe von seinen Texten. Er malt sich das so schön aus in seinem Grab, dass alle wie gebannt diese 70 Jahre warten, erst dann würden sie wieder alle rennen und lesen und spielen. Ich war ja auch ein Hysteriker Peymanns, weil er so ein Theater machte, so einen Wirbel, und mich belebte, die kurzen Momente, wo ich mich nicht zu Tode fraß. Ich war dann maßlos enttäuscht, dass auch er, Peymann, sich mitverschwor, dieses Testament zu schänden. Es waren natürlich auch diese gewaltigen Gestalten: Minetti, Ritter, Dene, Voss, Traugott Buhre. Das ist ja alles festgehalten in Bild und Ton. Wer sollte es besser spielen? Sogar Voss wurde schlecht, nachdem Bernhard gestorben war. Es brach alles zusammen. Und jetzt haben ihm diese Hofschranzen auch noch sein Todsein vergällt.

Mich fesselt kein Text mehr. Aber das Wunder wird sich immer wieder ereignen: Einer hat die Courage, einen Satz zu schreiben, ein anderer wird ihn lesen. Und in den letzten Zügen dann entdecken, dass ja auch das Gegenteil stimmen könnte oder gar nur ein Teil. Und vieles daran nicht. Dann wird er zu Ende gelesen haben, eine Summe bereithalten: Essen, Sex und Warten. Ich habe Thomas Bernhard überwunden und bin jetzt selbst bereit zu leben. Er hat einen Satz geschrieben. Und ich habe mit ihm gespielt. Jetzt genügt jeder Satz. Irgendwo. Zufällig.