Der Ursprung des Menschen
Von Tina Goebel und Anna Goldenberg
Die Frage beschäftigt die Wissenschaft seit jeher: Wie sehr ähnelten unsere Vorfahren bereits dem modernen Menschen? Und was war das Erfolgsrezept des Homo sapiens, das ihm seinen Siegeszug um den Erdball ermöglichte und ihn zu dem formte, was er heute ist? Gerhard Weber vom Wiener Institut für Anthropologie ist überzeugt, dass unsere Urahnen sich von uns auf den ersten Blick gar nicht so stark unterschieden haben: Säßen wir heute mit einem frühen Vertreter der Gattung Homo am Tisch, würden wir ihn für einen kernigen Naturburschen aus einem der hinteren Täler Österreichs halten. Er sähe uns sehr ähnlich.
Dennoch müssen sich im Laufe der Evolution des Homo sapiens einschneidende Ereignisse und Veränderungen zugetragen haben, die ihn dermaßen erfolgreich und anpassungsfähig werden ließen, dass er binnen weniger Jahrtausende auf die evolutionäre Überholspur ausscherte und alle anderen menschenähnlichen Wesen in jeder Hinsicht weit hinter sich ließ.
Dabei sind noch überraschend viele Fragen bis heute ungeklärt oder zumindest umstritten. Von welchem der bislang gefundenen Vormenschen der moderne Mensch abstammte, wird beispielsweise in Wissenschaftskreisen heftig debattiert. Ebenso, wie und warum der Homo sapiens vor ungefähr 100.000 Jahren von Ostafrika aufbrach und nach Maßstäben der Evolution in kürzester Zeit die ganze Welt bevölkerte. Welche Umstände waren es, die den Homo sapiens so erfolgreich und schließlich zum modernen Menschen machten? Manch ein Forscher nimmt den bisherigen Erfolg der humanen Spezies gar zum Anlass für Projektionen in die Zukunft: Sind wir dank des stetigen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts so gut angepasst, dass wir ewig fortbestehen werden? Oder droht dem Homo sapiens früher oder später ein ähnliches Schicksal wie seinen glücklosen Vorgängern?
Diese alte wissenschaftliche Debatte wird nun in ein neues Licht gerückt. Eine aktuelle Untersuchung der Universität Cambridge, die kürzlich im renommierten Wissenschaftsjournal Science erschien, kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen. Ein Forscherteam rund um den international angesehenen Archäologen Sir Peter Mellars ging einer der großen Fragen der menschlichen Evolution nach: Warum wurde der Neandertaler nach 300.000 Jahren Vorherrschaft in Europa binnen weniger Jahrtausende vom Homo sapiens verdrängt und starb aus?
Zahlreiche Theorien kursieren in Forscherkreisen zu diesem Thema: Die zur Diskussion gestellten Varianten reichen dabei von klimatischen Schwankungen, an die sich der Neandertaler nicht rasch genug anpassen konnte, über kämpferische Auseinandersetzungen zwischen Homo sapiens und Neandertaler bis hin zu Vermischungen der beiden Arten, wobei am Ende nur der Homo sapiens im Genpool zurückblieb.
Die Cambridger Studie fördert nun jedoch Ergebnisse zutage, die eine neue und durchaus plausible Erklärung für das Aussterben des Neandertalers liefert. Die Forscher analysierten Funde der Region Périgord im Südwesten Frankreichs, wo Menschen- und Neandertalerpopulationen höchst konzentriert auftraten. Die Ergebnisse werteten sie schließlich statistisch so exakt wie möglich aus und stellten fest, dass bei gleich alten Funden die Menge der menschlichen Überreste auffallend deutlich überwogen.
Das Fazit der Wissenschafter: Als der Homo sapiens von Ostafrika aufbrach und über Israel nach Europa kam, überschwemmte er den Kontinent förmlich in einer zehnfach größeren Population als jener des hier bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Neandertalers.
Dass der moderne Mensch bereits damals in einer solch großen Anzahl auftrat, ist für Studienleiter Mellars eine grundlegend neue Erkenntnis: Ich stelle mir die Frage, warum der Homo sapiens binnen kürzester Zeit eine derart hohe Population erreichen konnte und der Neandertaler in all den Tausenden Jahren davor im gleichen Lebensraum nicht. Für mich zeigt die Untersuchung einmal mehr, dass der Unterschied zwischen den beiden Spezies viel größer gewesen sein muss, als bislang angenommen wurde.
Denn wie sonst hätte sich die neue Spezies so schnell ausbreiten können, während die Neandertalerpopulation über Jahrtausende hinweg konstant blieb?
Wie intelligent und sozial organisiert der Neandertaler tatsächlich war und ob er beispielsweise die Sprache beherrschte, liegt allerdings weitgehend im Dunkeln. Bislang wurde angenommen, dass er wohl nicht allzu dumm war. Auch der Sprache dürfte er bereits mächtig gewesen sein, denn im Jahr 2007 gaben Forscher bekannt, das FOXP2-Gen aus Neandertalerfossilien rekonstruiert zu haben ein Gen, das für die Sprachfähigkeit eine wichtige Rolle spielte. Außerdem war das Gehirn des Neandertalers sogar größer als jenes des modernen Menschen. Dies könnte allerdings auch auf die Kälteanpassung zurückgeführt werden, der größere Schädel bot demnach eine bessere Isolierung.
Die beachtlich kleinere Neandertalerpopulation deutet jedenfalls darauf hin, dass der untersetzte und kräftige Vormensch dem Eindringling aus Afrika wohl nicht Paroli bieten und sich nie so gut mit Nahrung versorgen konnte wie der Eindringling der ihm nun noch dazu buchstäblich in Scharen den Lebensraum streitig machte.
Freilich passen noch längst nicht alle Forschungssplitter in dieses Modell. Zwar ist die Theorie obsolet, dass der moderne Mensch vom Neandertaler abstammen könnte, doch dass die beiden intim miteinander wurden, scheint gesichert zu sein. So verkündete das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Jahr 2009, dass ihnen die Sequenzierung eines Neandertaler-Genoms gelungen sei, die eindeutig auf eine Vermischung der beiden Spezies hindeutete. Sex zu haben ist eine Sache. Doch fruchtbare Nachkommen zu zeugen ist spektakulär, urteilt Philip Gunz vom Leipziger Institut. Doch auch wenn der frühe Mensch und der Neandertaler sogar so nahe miteinander verwandt waren, dass sie theoretisch gemeinsame Nachkommen zeugen konnten alle an modernen Menschen getätigten Genanalysen weisen eindeutig auf einen Urahnen aus Afrika hin.
Auch geht die Forschung heute davon aus, dass der Eindringling Homo sapiens nicht, wie zuerst angenommen, die ältere Spezies in kriegerischen Auseinandersetzungen bekämpfte. Der Neandertaler wäre ohnehin vom Erdboden verschwunden, erklärt Gisela Grupe, Direktorin der Münchner Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie: Das Aussterben des Neandertalers war ein normales demografisches Geschehen. Wenn der Homo sapiens auf Dauer eine höhere Geburtenrate und niedrigere Sterberate als der Neandertaler hatte, blieben einfach irgendwann keine Neandertaler übrig.
Im demografischen Jargon fällt das unter normale Bevölkerungsverschiebung. Gegen die These der aktiven Verdrängung des Neandertalers durch den Menschen spricht auch die Tatsache, dass beide Gattungen noch mindestens 10.000 Jahre koexistierten. Doch was verschlug den Menschen überhaupt in das eher unwirtliche Europa?
Möglicherweise wurden in Afrika wegen klimatischer Veränderungen die Ressourcen knapp. Die jüngsten Untersuchungen aus Cambridge legen zusätzlich aber nahe, dass der Mensch bereits dort so viele Nachkommen produzierte, dass die Nahrung für alle bald zu knapp wurde und der Homo sapiens gezwungen war, neue Lebensbereiche zu erschließen. Wie alles, was erfolgreich ist, expandierte der moderne Mensch, folgert daraus der Wiener Anthropologe Gerald Weber. Der Exodus aus Afrika könnte demnach auch auf Basis der Erfolgsbilanz des Homo sapiens erfolgt sein.
Eine ganz andere Sicht der Dinge vertritt indes Richard Durbin, Leiter der Gruppe für Genominformatik am Sanger Institut in Cambridge. Wir haben immer das Bild einer Gruppe Pioniere vor Augen, die auszogen, um die Welt zu besiedeln, erklärt Durbin. Er verglich das X-Chromosom afrikanischer und europäischer Männer, was Rückschlüsse auf entfernte maternale Verwandtschaft zulässt. Die Ergebnisse wurden diesen Juli in der Zeitschrift Nature publiziert. Durbins Erkenntnis: Wir konnten sehen, dass Afrikaner und Europäer noch lange Kontakt hatten. Der Auswanderungsprozess verlief also langsam und stückweise. Es könnte jedoch sein, dass sich verstreut lebende Individuen wieder zu größeren Gruppen zusammenschlossen. Dies spreche dennoch gegen eine zwingend nötige, rasche Flucht aus dem Urkontinent, der etwa durch Dürre unliebsam geworden war.
Durbin will außerdem genetische Belege gefunden haben, die darauf hindeuten, dass der moderne Mensch trotz seiner extremen Anpassungsfähigkeit den längsten Teil seiner Geschichte vom Aussterben bedroht war. Durbin vermutet, dass während der letzten Eiszeit nicht mehr als 200.000 Menschen in ganz Europa lebten. Vor dem Exodus könnten es in Afrika sogar nur knappe 1500 Individuen gewesen sein eine reichlich kleine Gruppe, von der die gesamte heutige Weltbevölkerung abstammen soll.
Diese Theorie wird von vielen Forschern daher äußerst kritisch beurteilt, so auch von der Münchner Anthropologin Grupe. Die DNA von einzelnen Fossilien zu extrahieren und daraus auf Populationen zu schließen führt nicht unbedingt zu plausiblen Ergebnissen, meint Grupe diplomatisch.
Die Debatte zwischen Genetikern und Archäologen um die Frage, woher der Mensch kam und was ihn über die Grenzen des Urkontinents trieb, spiegelt auch das generelle Problem prähistorischer Forscher wider: Beide verfügen über viel zu wenig Funde, um ihre Thesen eindeutig zu untermauern. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Knochen versteinert, liegt bei eins zu einer Million. So werde die Geschichte des Menschen auf einem dünnen Netz einiger weniger Funde aufgebaut, erklärt Anthropologe Weber: Es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es sind wenige Fossilien erhalten geblieben, und noch vieles ist unentdeckt. Und zu den wenigen Fundstücken gibt es zahlreiche Theorien.
Außerdem wurde jeder neue Fund oftmals gleich auch als neu entdeckte Spezies bejubelt und in eine Zeitreihe gezwängt, wobei es sich oft um so genannte Chronospezies wie eben den Neandertaler und den Menschen handelt, die nicht nacheinander, sondern auch nebeneinander lebten. Letztlich ist jeder Stammbaum hypothetisch, und Verbindungslinien zwischen verschiedenen Spezies lassen sich leicht ziehen.
Aus diesem Grund ist auch die Entstehung des modernen Menschen vor 200.000 Jahren nach wie vor durchaus umstritten. Die Einschätzungen beruhen auf den ältesten menschlichen Funden aus Ostafrika, wo die Plattentektonik die Konservierung von Fossilien begünstigte. In tropischen Klimazonen hingegen halten sich Fossilien kaum. Doch wie weit kann der evolutionäre Weg des Homo sapiens und seiner Urahnen nun wirklich zurückverfolgt werden?
Das Skelett des wohl berühmtesten Vormenschen, Lucy, wurde 1974 gefunden. Es wurde von seinem Entdecker nach dem Beatles-Song Lucy in the Sky with Diamonds benannt. Es wird auf rund 3,2 Millionen Jahre geschätzt und der Spezies Australopithecus zugeordnet. Dieser Vormensch ging zwar bereits auf zwei Beinen, glich ansonsten aber noch eher einem Affen.
Aus dem Australopithecus, so vermutet man, entstanden Homo habilis und Homo rudolfensis. Beide entwickelten sich nebeneinander und gelten als erste Urmenschen, da sie bereits mit Werkzeug hantieren konnten und ihr Hirn doppelt so groß war wie jenes von Lucy und ihren Artgenossen. Aus einer dieser beiden Spezies, die einander sehr ähnlich sind, entwickelte sich vor rund zwei Millionen Jahren dann das erste hominide Erfolgsmodell, der Homo ergaster. Der kräftige, 1,85 Meter große Urmensch wanderte bereits aus Afrika aus und besiedelte Asien. Asiatische Funde dieser Spezies sind zumeist als Homo erectus katalogisiert. Seine Nachfahren starben vor 30.000 Jahren aus.
Der moderne Mensch, der einen runderen Schädel sowie ein kleineres Gesicht und Gebiss als seine Vorfahren besaß, entwickelte sich vermutlich aus dem Homo ergaster. Weniger stämmig und behaart und somit fragiler als andere Hominiden hatte er einen entscheidenden Vorteil: Er war anpassungsfähig und intelligent. So stieß er nach seinem Auszug aus Afrika und der Durchquerung Israels vor rund 45.000 Jahren auf den Neandertaler in Europa. Nur wenige tausend Jahre später blieb er als einziger Hominide auf dem Erdball übrig.
Um diese Vormachtstellung zu erreichen, musste der moderne Mensch in vier Bereichen besser werden als seine Vorgänger: Sein Gehirn musste besser arbeiten, er benötigte ein differenzierteres Sprachsystem, aufwändigere Werkzeuge und Waffen sowie eine komplexe soziale Organisation. Der Mensch ist ein ewiger Opportunist, erklärt Anthropologin Gisela Gruppe. Er passte sich an neue und wechselnde Lebensbedingungen schneller an als andere, was zu einem sich positiv verstärkenden Prozess führte.
Aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit hat der Mensch bislang fast alle ökologischen Widrigkeiten überstanden. Im Oktober soll die 7-Milliarden-Schwelle der Weltbevölkerung überschritten werden. Heute befinden wir uns in einem evolutionären Ausnahmezustand, sagt der Leipziger Forscher Philip Gunz.
Wie es mit der Spezies Homo sapiens weitergehen wird, können Experten wie der Wiener Genetiker Markus Hengstschläger naturgemäß nur vermuten: Eine verbreitete Meinung ist, dass die Evolution so langsam verläuft, dass wir sie erst in Jahrtausenden bemerken. Doch das stimmt nicht. Wir können heute sehr klar sehen, dass sich die Gene bereits während unserer Lebzeiten verändern.
Und auch wenn der Mensch durch Technik und Medizin immer mehr Kontrolle über die natürliche Selektion hat, so gibt es eine Komponente, die er nie ausschalten kann: den Zufall. Der britische Zoologe Richard Dawkins bezeichnet die Evolution als blinden Uhrmacher: Es wird Stück für Stück zusammengefügt, ohne das Endergebnis zu kennen. Der Homo sapiens mag zwar eine geniale Konstruktion sein die 200.000 Jahre, die er auf dem Buckel hat, sind dennoch nur ein kurzer Atemzug in der Geschichte des 4,2 Milliarden Jahre alten Planeten Erde.
Unter Forschern erzählt man sich jedenfalls gerne folgenden Witz: Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: Du, mir gehts so schlecht, mich juckt es überall, und mir ist wirklich übel. Sagt der andere: Das sind nur Menschen. Das hatte ich auch mal. Das vergeht.