Foltergeister

Das Leid der Kinder traumatisierter Flüchtlinge

Opfer. Das Leid der Kinder traumatisierter Flüchtlinge bleibt oft unentdeckt

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Die Kinder sind gegangen und haben ein chaotisches Universum aus Farben, Fetzen, Pinseln und Zeichnungen hinterlassen - und zwei Therapeutinnen, die sich nun hinsetzen und aufschreiben, was in den vergangenen eineinhalb Stunden passiert ist.

Heute hat der iranische Bub zum ersten Mal das afghanische Mädchen begrüßt. Dafür hat sie ihm ein Lächeln und ein Zuckerl geschenkt. Wer nicht weiß, was die Kinder erlitten und überlebt haben, kann die Bedeutung dieser kleinen Szene nicht ermessen. "Das war ein Durchbruch“, sagen die Therapeutinnen.

Cecilia Heiss leitet den Verein Hemayat. Fast 700 traumatisierte Asylwerber und Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr in seinen freundlichen Erdgeschoss-Räumlichkeiten in der Nähe der Wiener Volksoper behandelt. 200 warten noch auf einen Therapieplatz - ein Viertel davon sind Kinder.

In ihren Akten ist von Folter und Demütigungen zu lesen, die selbst für professionelle Helfer kaum zu ertragen sind: Ein vierjähriger Tschetschene war Wochen lang in einen Zwinger gesperrt. Der Bub wurde von Hunden angefallen und musste immer wieder das Video von der Erschießung seines Onkels ansehen. Das kleine Mädchen aus Afrika erlebte über Monate hinweg, wie seine Mutter in einem Bordell gequält wurde. Während der Vergewaltigungen lag das Kind unter dem Bett.

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Ohnmacht und Panik
Dann gibt es noch den Buben des iranischen Dissidenten, der mit Pfefferspray misshandelt wurde, wenn er vor Angst schrie. Und den Afghanen, der im Alter von neun Jahren um sein Leben lief. Ein Jahr lang war er auf der Flucht. Alleine. Und die vielen Kinder, die mit der Ohnmacht und Panik ihrer traumatisierten Eltern irgendwie zurechtkommen müssen. Sie übersetzen im Krankenhaus schlimme Diagnosen, hüten ihre jüngeren Geschwister, schlüpfen in die Rolle von Familienoberhäuptern und gehen dabei unter - manche von ihnen nach außen hin brav und angepasst, andere gewalttätig und laut.

Sie alle brauchen Hilfe, doch bis sie bei Hemayat an die Reihe kommen, kann ein Jahr vergehen. Der Verein könnte sofort die dringend nötigen Therapieplätze schaffen, scheitert aber am Geld, klagt Heiss: "Das macht uns enorm zu schaffen, denn je länger man mit der Behandlung zuwartet, umso schwieriger wird sie.“ Die Leiden der Menschen verfestigen sich, sie bilden körperliche Symptome aus, irren jahrelang im Gesundheitssystem herum und lassen teure Untersuchungen und Operationen über sich ergehen, die nichts bringen, "nur weil aufgrund sprachlicher Hürden ihre Beschwerden nicht verstanden werden.“ (Heiss).

"Schwierige Fälle"
Das gilt erst recht für Kinder. Als Opfer von Krieg, Folter und Gewalt fallen sie oft erst auf, wenn sie auf andere losgehen, in der Nacht ins Bett machen, auf nichts mehr neugierig sind oder aufhören zu sprechen. Jede Woche melden sich bei Hemayat Kindergarten-Pädagoginnen und Volksschullehrerinnen, die sich mit "schwierigen Fällen“ nicht mehr zu helfen wissen. Vor wenigen Monaten startete der Verein deshalb zwei Therapiegruppen für Kinder. Sie sind zwischen vier und zwölf Jahre alt, ihre Eltern kommen aus Bosnien, Tschetschenien, Afghanistan, Armenien und dem Iran.

"Jedes Kind ist auf seine Weise auffällig“, sagt Kunsttherapeutin Edita Lintl. Kürzlich schmiss sich ein Bub auf den Boden und tobte wie von Sinnen. Die anderen Kinder spielten dann auch Wut, boxten in die Luft und stampften rhythmisch mit den Füßen: "So! Ein! Mist!“ Am Ende der Stunde schlugen die Therapeutinnen vor, Regeln für die Gruppe aufzustellen. Sie schrieben auf ein Blatt, was den Kindern am Herzen lag, und hängten es im Therapieraum auf: "Nicht schreien! Nicht stoßen! Nicht töten“- das steht auch darauf.

Die Kinder brauchen einen Raum für Entladungen, sagt Co-Therapeutin Birgit Koch. Zu Hause müssen sie auf Zehenspitzen gehen. Ihre Eltern ertragen weder ihren Lärm noch ihre Fragen. Alltägliche Situationen können traumatisierte Menschen in Panik versetzen, die Gesichter von Unbekannten in der U-Bahn die Erinnerung an Peiniger wachrufen. Sowohl die Kinder als auch ihre Eltern bräuchten Stabilität und Sicherheit, um mit vergangenen Schrecken fertigzuwerden. Stattdessen erleben sie neue Unsicherheiten: die Angst, die Wohnung zu verlieren, als Opfer nicht anerkannt zu werden, abgeschoben zu werden.

"Politisch Verfolgte klammern sich an die Hoffnung, dass ihnen in Österreich Gerechtigkeit widerfährt, und zerbrechen fast daran, wenn man ihnen im Asylverfahren nicht glaubt“, erzählt Sonja Brauner. Die Familientherapeutin behandelt traumatisierte Kinder und erwachsene Folteropfer. So schutzlos, wie die Eltern selbst sind, schafften sie es nicht mehr, ihren Kindern Geborgenheit zu vermitteln.

Zu Brauners Klientinnen gehört ein zehnjähriges Mädchen aus Tschetschenien: In ihrer Klasse ist sie eine der Besten. Zu Hause stützt sie ihre depressive, schwer gefolterte Mutter, versucht ihre teilnahmslose Schwester aufzumuntern und ihren Vater zur Räson zu bringen, wenn er wieder einmal emotional ausrastet. Sie ist die Einzige in der Familie, die immer funktioniert.

Eines Tages brach das Kind zitternd und in Todesangst zusammen, weil ihr Vater keinen Fahrschein gelöst hatte. Das Mädchen konnte an nichts anderes mehr denken, als dass man ihn erwischen, nach Tschetschenien abschieben und umbringen würde.

Je früher die kindlichen Opfer professionelle Hilfe bekommen, umso weniger Gewalt gibt es in den Klassenzimmern und Familien, umso weniger Jugendliche fliegen später aus dem Bildungssystem, umso eher glücken ihre Lebenswege am Ende doch noch. "Jeder Euro, den man hier spart, rächt sich bitter“, sagt Heiss.

Muna, 4, kam im Flüchtlingslager Traiskirchen zur Welt.
Ihre Mutter war hochschwanger, als sie mit ihrem Mann, einem georgischen Oppositionellen, flüchten musste. Mit drei Jahren ging das Mädchen in Wien in den Kindergarten. Ein Jahr lang sprach sie kein Wort, sie lachte nie und achtete nicht auf die anderen Kinder. Auch zu Hause blieb sie stumm.

Eine Ärztin diagnostizierte die Kommunikationsstörung Mutismus und überwies sie zu Hemayat. In den ersten Stunden saß Muna auf dem Schoß ihrer Mutter und schaute ihre Therapeutin Brauner mit großen Augen an. Danach begann sie - zunächst leise - auf Deutsch und Georgisch zu sprechen. Ein paar Wochen später meldete die Kindergärtnerin, Muna habe zum ersten Mal mit anderen gespielt. Heute geht das Mädchen in eine öffentliche Volksschule und tanzt in einer Ballettgruppe. Ihre Eltern haben subsidiären Schutz bekommen, eine Wohnung und Arbeit gefunden.

Manchmal bleiben gefolterte Menschen für den Rest ihres Lebens in ihrem Gefängnis aus Angst und Depression eingesperrt. Manchmal aber kann wenig ganz viel bewirken, gerade bei Kindern, sagt Brauner: "Muna ist der Beweis, wie schnell es bergauf gehen kann.“


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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges