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Fukushima: Die Langzeitfolgen der Tsunami-Katastrophe

Japan. Die Langzeitfolgen der Tsunami-Katastrophe

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Eiko Ara kichert verlegen und schüttelt den Kopf. „Nein, lieber nicht“, sagt sie. „Es ist nicht schön, und ich habe auch nicht aufgeräumt.“ Dann lässt sie sich doch überreden und bittet in den Container, der seit zwei Jahren ihr Zuhause ist. Eine Küche, ein Bad, zwei winzige Zimmer: Mehr als 30 Quadratmeter sind es nicht, die Eiko Ara und ihr Mann zur Verfügung haben. Von der Decke im Wohnzimmer baumeln selbst gebastelte Mobiles, vor dem Container stehen Blumentöpfe. Es ist der Versuch, an einem unwirtlichen Ort so etwas wie Gemütlichkeit zu erzwingen. Doch viele Unzulänglichkeiten des Domizils lassen sich mit Zierat nicht beheben. Im Winter sind die Behausungen ein Kühlschrank, im Sommer ein Backofen. Durch die kleinen Fenster dringt wenig Tageslicht. Und so etwas wie Privatsphäre ist, Blechwand an Blechwand mit den Nachbarn, auch kaum herstellbar.

Die provisorische Siedlung steht am Stadtrand von Shinchi, etwa 300 Kilometer nördlich von Tokio. Bewohnt wird das Containerdorf von Menschen, die es eigentlich nicht nötig hätten, wie arme Flüchtlinge zu hausen. Alle hier hatten einmal ein eigenes Haus, viele mit Blick auf das Meer. Doch dann kam der 11. März 2011, ein Erdbeben der Stärke 9 und danach der Tsunami. Obwohl es einen stabilen Damm gab, steht von den Einfamilienhäusern auf der Küstenseite der Durchzugsstraße fast keines mehr.

Wochenlang hatte die Katastrophe an der japanischen Pazifikküste die Nachrichten auf der ganzen Welt dominiert. Etwas mehr als zwei Jahre danach ist das Unglück aus den internationalen Medien verschwunden. Die Aufräumarbeiten wurden großteils abgeschlossen, das beschädigte Kernkrafwerk Fukushima Daiichi scheint halbwegs unter Kontrolle zu sein. Einzelschicksale sind nur noch Zahlen in der Statistik: 19.000 Menschen wurden getötet, mehr als 300.000 Gebäude zerstört, ganze Städte entvölkert.

+++ Kommentar von Gernot Bauer: Warnung, AKW kann Leben retten! +++

Nachhaltige Schäden
Doch für die Bewohner der betroffenen Landstriche ist die Tragödie längst nicht vorbei. Auf einer Reise durch die Präfektur Fukushima wird schnell klar, dass der März 2011 Schäden hinterlassen hat, die sich auch in einem reichen Land wie ­Japan nie mehr ganz reparieren lassen. Und während im Ausland fast nur über die atomare Gefahr berichtet wurde, kämpfen die Japaner bis heute mit einem mindestens so zähen Gegner: dem Wasser.
Der Nordosten der japanischen Hauptinsel Honshu galt früher als die Reiskammer des Landes. Dann überspülte die an manchen Stellen bis zu 20 Meter hohe Welle die Anbauflächen an der Küste. Das Salzwasser kontaminierte die Böden so stark, dass an eine Bewirtschaftung erst wieder in ein paar Jahren zu denken ist. Mehrere Kilometer breit ist das Areal, das der Ozean buchstäblich verschluckt hat. Auf dem Flughafen der Stadt Sendai veranschaulicht eine Tafel, was man sich heute nur noch schwer vorstellen kann: Drei Meter hoch stand das Wasser in der Ankunftshalle.
Berge von Schutt und Müll wurden mittlerweile entsorgt. Zurück blieb ein Niemandsland, das im düsteren Licht eines kalten Frühlingsnachmittags wie das Ende der Welt aussieht. Hier gibt es keine Bäume mehr, keine Häuser, keine Menschen. Übrig blieben nur ein paar Ruinen, wie jene der Fischmarkthalle am Hafen. Gleich neben dem zerstörten Gebäude rostet ein Autowrack vor sich hin, für das sich bisher niemand zuständig fühlte. Die Müllverbrennungsanlagen laufen auf Hochbetrieb. Doch an ein paar Stellen musste die berüchtigte japanische Ordnungsliebe vor dem Ausmaß der Zerstörungen kapitulieren.

Noriyuki Miyake sitzt im Gemeinschaftsraum des Containerdorfs in Shinchi, trinkt grünen Tee und zeigt Fotos der zwei Epochen seines Lebens: Vor dem Tsunami war der Küstenabschnitt seiner Heimatstadt ein Villenvorort mit schmucken Parks, Spazierwegen und Kinderspielplätzen. Jetzt ist dort nur noch schlammbraune Ödnis. „Mein Haus war gut versichert“, sagt Myake. „Ich könnte mir ein neues leisten. Aber es gibt im Moment keine Grundstücke.“ Der Wiederaufbau in Strandnähe wurde bis auf Weiteres verboten – so unwahrscheinlich es auch sein mag, dass der Ozean noch einmal eine Riesenwelle schickt. Die Stadtverwaltung lässt derzeit Tonnen von Erdreich aufschütten; erst wenn sich diese künstlichen Hügel gesetzt haben, darf wieder gebaut werden.

Viele Bewohner der Gegend wollen darauf nicht warten und sind weggezogen. Besonders schlimm erwischte es die Kleinstadt Minamisoma. Das Rathaus blieb unversehrt, aber für den Bürgermeister hat sich trotzdem alles verändert. Katsunobu Sakurai sitzt in seinem schmucklosen Büro und zieht, selbst dabei noch höflich lächelnd, ein bestürzendes Resümee: „Vor dem Tsunami hatten wir 70.000 Einwohner, jetzt sind es nur noch 45.000.“ Mindestens 6000 davon seien wohl für immer weg. Der Rest werde vielleicht eines Tages zurückkommen, hofft der Politiker.

Nicht nur der Verlust ihrer Häuser trieb die Menschen fort. Es war wohl auch das Gefühl, in der eigenen Heimat nicht mehr sicher zu sein. In diesem Teil Japans bebt die Erde durchschnittlich einmal pro Monat, manchmal stärker, manchmal schwächer. Früher kümmerte das keinen. Man lernt, mit dem nicht ganz so festen Boden unter den Füßen zu leben. Doch mit der Katastrophe vor zwei Jahren wich die Gelassenheit einem permanenten Alarmzustand. „Bei jedem Erdbeben, auch wenn es ganz schwach ist, kommt die Panik zurück“, erzählt Eiko Ara.

Schrecken noch nicht vorbei
Und was ist mit dem kaputten Kernkraftwerk? Die von Erdbeben und Tsunami ausgelösten Störfälle in Fukushima Daiichi hatten einst die ganze Welt schockiert. So groß war die Hysterie, dass sogar im 9000 Kilometer entfernten Österreich kurzfristig die Geigerzähler ausverkauft waren. Doch hier, in direkter Nachbarschaft, sprechen nur wenige von sich aus über das Kraftwerk. Vielleicht liegt das an der Mentalität der Japaner. Es gibt ja schon genug sichtbare Probleme, da muss man nicht auch noch über die unsichtbaren jammern.

Die Auswirkungen des Unfalls in Fukushima waren geringer als ursprünglich befürchtet. Tote durch radioaktive Strahlung gab es bisher nicht – auch nicht unter den Arbeitern, die in den ersten Tagen im Werk Dienst versahen. Langzeitfolgen für die Gesundheit sind zwar nicht auszuschließen, werden nach Ansicht der Strahlenschutzkomitees der Vereinten Nationen aber voraussichtlich kaum messbar sein. Der Wind hatte den Großteil der radioaktiven Wolke nach Osten getragen, auf das offene Meer. Das war Glück.

Trotzdem ist der Schrecken nicht vorbei. Ein fast 70 Quadratkilometer großes Gebiet musste gesperrt werden, darunter auch ein Teil des Küsten-Highways. Niemand weiß, wie lange das so bleiben wird. Der Fukushima-Betreiber Tepco ist bekannt für seine sparsame Informationspolitik. Immerhin rentiert sich für den Konzern jetzt eine PR-Investition, die er Mitte der 1990er-Jahre in der Kleinstadt Naraha getätigt hatte. Um die Anrainer bei Laune und Widerstand gegen weitere Kernkraftwerke klein zu halten, finanzierte Tepco damals das sogenannte J-Village, Japans größtes Sport- und Trainingszentrum. Zwölf Fußballplätze und ein großes Fußballstadion, Einrichtungen für Rugby, Tennis, Basketball und Volleyball, ein Schwimmbad, ein Kongresszentrum und ein Hotel: Hier fehlte es an nichts.

Doch Fukushima I ist nur 20 Kilometer entfernt – deshalb trainieren im J-Village schon lange keine Athleten mehr. Wenige Tage nach dem Atomunfall wurde das Sportzentrum zum Hauptquartier der Arbeiter im Kernkraftwerk umfunktioniert. Wo früher Fußballplätze waren, parken heute Autos. Mitten im Stadion stehen Wohncontainer für das Personal. Toyoharu Takata, Chef des J-Village, hat auf dem Gelände nicht mehr viel zu bestimmen, Tepco diktiert nun die Hausordnung. „Ich hoffe, dass wir in vier, fünf Jahren hier wieder Fußball spielen“, sagt Takata mit seiner leisen Stimme. „Aber vielleicht bin ich da zu optimistisch.“

Das J-Village ist ein surrealer Ort geworden. An der gläsernen Eingangstür hängt noch ein Plakat der japanischen Fußballnationalmannschaft, rechts oben das Logo des Sponsors Adidas. Wenige Meter davor halten die Busse, die täglich rund 3000 Arbeiter ins Kernkraftwerk und wieder zurück bringen. Die Männer tragen blaue Schutz-Overalls, Mundschutz und Mütze. Sie wirken müde und abweisend. Es ist ihnen verboten, über ihre Arbeit zu reden. Schon die Existenz eines Fotoapparats sorgt für Aufregung. Das J-Village ist üblicherweise für die Öffentlichkeit gesperrt.

In der großen Eingangshalle hängen Solidaritätsadressen von Schulkindern. „Ihr seid der Stolz Japans“, heißt es da. Und: „Passt auf eure Gesundheit auf.“ Gleich daneben vergilben die Fotos der Helden, denen im J-Village früher gehuldigt wurde. Ein Poster hinter Glas zeigt etwa die argentinische Fußballnationalmannschaft, die während der WM 2002 hier ihr Hauptquartier bezogen hatte. Auch Josef Blatter, Präsident des Weltfußballverbandes Fifa, war einmal auf Besuch und hinterließ eine Grußbotschaft.

Sie passen nicht gut zusammen, der Sport und die Katastrophe. Trotzdem versucht Toyoharu Takata, den schwer geprüften Einwohnern von Naraha ausgerechnet mit Leibesübungen zu helfen. Das ­J-Village betreibt im Stadtzentrum seit Kurzem ein provisorisches Fitnesscenter – hauptsächlich für die aus der Sperrzone evakuierten Menschen in den Container-Siedlungen. „Die Leute sind unglücklich“, sagt Takata. „Es tut ihnen gut, wenn man sie ablenkt.“

Infobox

Reisediplomatie
Japan ist ein seltsames Land, und die Japaner ticken – ganz dem Klischee entsprechend – tatsächlich anders. Jedes Gespräch beginnt mit höflichen Verbeugungen und ausführlichen Huldigungen. Doch am Schluss kommt oft das Gegenteil dessen heraus, was man eigentlich wollte. So erging es Georg Pangl, Vorstand der österreichischen Bundesliga. Nach der Katastrophe im Frühling 2011 schickte er ein Mail an die japanischen Fußballkollegen und lud sie zu einem Benefizspiel nach Österreich ein. Daraus wurde nichts. Stattdessen war Pangl nun selbst eingeladen, sich die Region und das J-Village anzusehen. profil nahm die Einladung der Bundesliga gern an, auf dieser Reise dabei zu sein.

Rosemarie Schwaiger