Häftling Nummer 100.000

Panik, Demütigung, Gewalt: Was ein Drogendealer in Haft erlebt

Gefängnis. Panik, Demütigung, Gewalt: Was ein Drogendealer in Haft erlebt

Drucken

Schriftgröße

"Wissen Sie, warum wir hier sind?“, hatten die Herren gefragt, die seine Hanfplantage hinaustrugen. Herwig Gauhs* hatte durchaus eine Idee. Im Haus hatten die Besucher alles, was sie in Kästen und Laden gefunden hatten, auf den Boden geworfen. Kurze Zeit später rasten sie mit ihm zum Wachzimmer Wien-Meidling - "Vollgas, als würden überall Gangster lauern, um mich zu befreien.“

Herwig Gauhs, ein großgewachsener Mann Anfang 50, arbeitete als Architekt. Seit er vor dreieinhalb Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis kam, darf er weder Gebäude entwerfen noch wählen gehen. 200 Cannabispflanzen, künstlich besonnt von einem Dutzend Lampen, hatte die Polizei beschlagnahmt - und ihren Besitzer verhaftet.

In der ersten Nacht im Arrest spürte Gauhs, wie ihm die Kontrolle entglitt. Seine Freiheit, der Garten am Stadtrand, seine Familie, alles, was er im Leben erreicht und noch vorgehabt hatte, war ruiniert. Als er im Herbst 2009 in die Justizanstalt Wien-Josefstadt eingeliefert wurde, humpelte er. Er hatte versucht, sich zu erhängen, und war am Leben geblieben. Nur sein Fuß war gebrochen.

Die Debatte über Mängel im Vollzug, Gewalt unter weggesperrten Jugendlichen und überfüllte Gefängnisse rief alte Erinnerungen in ihm wach. Sieben Jahre Haft hatte die Staatsanwältin für seine Drogengeschäfte gefordert. Die Richterin verurteilte ihn zu drei Jahren. Der Wiener, der heute als Trainer arbeitet, kam nach fünf Monaten auf Bewährung frei und musste sich zu einer Therapie verpflichten: "Das war die Rettung. Ich weiß nicht, was sonst aus mir geworden wäre.“

Keine Spur von Resozialisierung
In der mit über 1000 Plätzen größten Justizanstalt des Landes habe er Gewalt, Panik, Unsicherheit, Demütigungen, sinnlose Bestrafungen und, ganz selten, auch Menschlichkeit erfahren - "aber keine Spur von Resozialisierung“. In Österreich kommen auf 100.000 Einwohner 102 Häftlinge. In Deutschland sind es 86. Ein Drittel der 26 heimischen Gefängnisse ist überbelegt. Sinnvolle Beschäftigung sei nicht mehr möglich, Aggressionen und Gewalt nehmen zu. Das sagen nicht nur Experten, das sagt auch Gauhs, der es am eigenen Leib erfahren hat.

"Achso, den ersten Tag da und schon beschweren?“, feixten die Beamten im "Landl“, als Gauhs über seine Schmerzen im Fuß klagte: "Stecken wir ihn gleich einmal auf C2.“ Der erste Eindruck von der Viererzelle, die seine Unterkunft werden sollte, waren drei Gestalten und viel Qualm. Die Männer - ein Totschläger, ein Menschenhändler und ein Autodieb - wuzelten ihre Zigaretten mit Zeitungspapier. "Man hat mich zu ihnen gesteckt, um mich zu disziplinieren.“

"Sind Sie wahnsinnig?“
Das Fenster ließ sich bloß einen Spaltbreit öffnen, seit irgendjemand irgendetwas in den Hof geworfen hatte. Manchmal fiel der Strom aus, weil ein Insasse einen Kleiderhaken in eine Steckdose gehalten hatte, um Wasser zu wärmen. Bei jedem Störfall, für den kein Schuldiger auszumachen war, büßten alle für einen. Zwei Wochen lang musste Gauhs bitten, bis er einem Arzt vorgeführt wurde. Der Mann im weißen Kittel roch nach Alkohol und drückte auf die schmerzende Stelle, bis der Patient schrie: "Sind Sie wahnsinnig?“ Die Gipsbandage war so fest angezogen, dass sich seine Zehen dunkel verfärbten.

"Ausziehen!“ - "Raus auf den Gang!“
Hilfe sei prinzipiell zögerlich gekommen. Umso schneller waren die Beamten fürs Grobe zu begeistern. Als Gauhs die Schmerzen nicht mehr aushielt und Dutzende Mal auf den grünen Knopf in der Zelle gedrückt hatte, ohne dass sich etwas regte, habe er den roten Knopf betätigt, den man "nie, nie, nie drücken darf, weil dann das Einsatzkommando ausrückt“. Eine halbe Minute später sei die Zelle voll mit Bewaffneten und brüllenden Kommandos gewesen: "Ausziehen!“ - "Raus auf den Gang!“ Ein anderes Mal habe man ihn und seine Mithäftlinge um drei Uhr morgens aus dem Bett geschleift. Ein Nachtwächter hatte Alarm geschlagen und eine falsche Zellennummer angegeben. Das Einsatzkommando warf Nudeln, Kekse und Kaffee auf den Boden, schmiss Bettzeug und Gewand darüber und weichte das Gebirge mit Fruchtsäften und Wasser ein. "Zellenkontrolle“ hieß die Prozedur.

Er war erst wenige Tage in Haft, als er ein Mobiltelefon angeboten bekam. 200 Euro sollte er zahlen. Es lockte Gauhs, ein paar Abnehmer und "Erntehelferinnen“ zu warnen, "aber das habe ich bleiben lassen“. Wärter pflegten mit Ortungsgeräten nach Handys zu fahnden. Auch Drogen kursierten. Gauhs erinnert sich an einen dünnen, blassen Burschen um die 20, der zwei Mal wegen Grasbesitzes eingesessen hatte. Nun war er zum dritten Mal hier, weil ein Insasse behauptet hatte, er habe Häftlinge mit Stoff versorgt. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, ein Komplize des wahren Täters habe ihn zu Unrecht vernadert: "Der Kleine war fix und fertig und ist in eine Suizidzelle verlegt worden.“

"Mitkommen!“ Eines Tages lotste ein Wärter Gauhs über Stiegen und Gänge, redete etwas von "Spezialgast“ und "Feuerwerk“ und öffnete eine Zellentür: "Tatataaa! Häftling Nummer 100.000!“ Seit der Einführung der Integrierten Vollzugsverwaltung (IVV) im Jahr 1999 erhält jeder Gefangene in Österreich eine Nummer. Gauhs hatte die runde Zahl erwischt.

Ansonsten gab es wenig zu lachen. Das Personal sei durchgängig respektlos gewesen. Löbliche Ausnahmen blieben ihm lebhaft im Gedächtnis: der Aufseher des Trakts B3, der die Zellen in der Früh mit einem "Guten Morgen, Burschen!“ aufsperrte, und die Leiterin der Anstaltsbibliothek, die ihn fragte, ob er in der Bücherausgabe arbeiten wolle. "Die beiden haben es geschafft, in dieser Umgebung menschlich zu bleiben. Sie hätten den Friedensnobelpreis verdient.“

Sein Job als Bibliothekar war mit einem Umzug verbunden. Gauhs teilte sich eine Zelle mit einem Messerstecher, einem Kokain-Großhändler, einem Fälscher und einem Betrüger. Was sie einte, war, dass sie einer Beschäftigung nachgingen, im Grauen Haus ein seltenes Gut. Die meisten Häftlinge drehten am Hof ihre Runden und saßen den Rest des Tages herum, was erheblich zur gereizten Stimmung beitrug.

Fitnessräume wären vorgesehen, doch die meisten sind zu Zellen umgewandelt worden, um Platz für mehr Häftlinge zu schaffen. Um im Leerlauf nicht durchzudrehen, iniitierte Gauhs einen Yogakurs, der mangels Nachfrage wieder einschlief, oder er spielte Schach. Zu seinem Gegner am Brett gehörte Ex-Bawag-Chef Helmut Elsner, "der immer schlechte Laune hatte, wenn er verloren hat“.

Von Vergewaltigungen habe er während seiner Zeit im Grauen Haus nichts mitbekommen. Aggressive Ausbrüche jedoch seien alltäglich gewesen. Das erzwungene Nebeneinander konnte aus nichtigem Anlass in Gewalt umschlagen. Er selbst habe sich eines Tages unversehens auf dem Boden wiedergefunden, den Fuß des Koksdealers im Genick, weil er es gewagt hatte, von Kronehit, dem bevorzugten Radiosender seiner Zellengenossen, auf FM4 umzustellen.

Gauhs gewöhnte sich an, die Chronikseiten der Boulevardmedien durchzublättern. Wenn er vom Sikh las, der einen Guru erdolcht hatte, von albanischen Räubern, die Innenstadt-Juweliere überfallen hatten, oder der chinesischen Prostituierten, die ihren Freier erdrosselt hatte, traf er die Protagonisten bald darauf im Grauen Haus. Sein Bücherjob verschaffte ihm die Bekanntschaft des Neonazis Gottfried Küssel. Gauhs machte sich einen Spaß daraus, dem eifrigen Leser historischer Werke "versehentlich“ Ratgeber wie "Plätzchen backen für Weihnachten“, "Pudelpflege“ oder "Stricken für Anfänger“ unterzujubeln. Gewalttäter pflegte er mit Einführungen in die Zen-Meditation und Erich Kästner zu beglücken.

Die kleinen Racheakte "am System“ hielten ihn aufrecht. Besuche von Anwälten oder Verwandten waren ihm ein Gräuel. Drei bis vier Stunden mussten bis zu 20 rauchende Häftlinge in einem Kammerl ausharren - "mit 2,70 Mal 3,20 Meter nicht viel größer als ein King-Size-Bett, und das ohne Fenster und Lüftung“ - bis sie vorgelassen wurden. Einmal legte sich Gauhs in Panik auf den Boden und rang nach Luft. Die Tür blieb trotzdem zu. Die Wartenden durften nicht einmal eine Toilette aufsuchen. Gauhs sagt, in den Gefängnissen brauche es nicht mehr Bewaffnete und Uniformierte, sondern mehr Platz, sinnvolle Beschäftigung, da und dort eine Lüftung, einen respektvollen Umgangston: "Das würde viel entspannen.“

Nach 150 Tagen kehrte er dem Landl den Rücken. Es dauerte Wochen, bis er wieder U-Bahn fahren oder ein Kino besuchen konnte. Türen, die von außen geschlossen werden, machten ihn panisch. Wenn er heute am Grauen Haus vorbei-spaziert, versucht er, die Männer zu hören, die sich über den Hof hinweg zubrüllen: "Was sagt der Anwalt?“ - "Was gibt es Neues?“ Als ihm drinnen das albanisch-deutsch-türkisch-rumänische Durcheinander zum ersten Mal um die Ohren schlug, jagte es ihm Angst ein. Es wundert ihn jedes Mal, dass nichts davon nach draußen dringt.

* Name von der Redaktion geändert

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges