Gesichtsverlust

Gesichtsverlust: Kann der Kampf gegen die Totalverschleierung Frauen befreien?

Kann der Kampf gegen die Totalverschleierung Frauen befreien?

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Fluten steigen und steigen, bis man schließlich in ihnen versinkt, und jeder sollte dankbar sein, davor gewarnt zu werden, ehe es zu spät ist. Jetzt ist es so weit, und niemand soll später sagen, er habe es nicht gewusst: Eine „schwarze Flut“ bedrohe uns, formulierte in aller Eindringlichkeit André Gerin, und seine Worte haben einiges Gewicht, schließlich ist er der Vorsitzende einer parlamentarischen Kommission zur Frage des Burka-Verbots in Frankreich.
Die „schwarze Flut“, das sind Frauen, die sich zur Gänze verschleiern, meist mithilfe eines schwarzen Niqab, eines Kleidungsstücks, das nur die Augenpartie frei lässt, und auch die wird manchmal mit einem durchsichtigen Tuch verhängt. Seltener, aber dem Begriff nach in Europa bekannter, ist die aus Afghanistan stammende Burka, ein blauer Ganzkörperschleier mit einem Stoffgitter vor den Augen.
Nicht nur in Frankreich löst die „schwarze Flut“ Unbehagen aus. In Dänemark überlegt die Regierung seit Längerem ein Burka-Verbot, die italienische Frauenministerin denkt genauso, in den Niederlanden scheiterte ein entsprechendes Gesetzesvorhaben vorerst an der Verfassung. Und in Österreich ist Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek bereits auf der Hut und kann sich ein gesetzliches Verbot vorstellen, „wenn es zu einem Problem wird“. Von der deutschen Feministin Alice Schwarzer über den katholischen Bischof Egon Kapellari bis zu rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ oder der britischen United Kingdom Independence Party (UKIP) wollen alle die Burka aus Europa verbannen – manche auch deren Trägerinnen.
Fragt sich bloß: Gibt es die Flut, gegen die überall Dämme errichtet werden, tatsächlich?
Wenn die Gefahr der um sich greifenden Totalverschleierung quantifiziert werden soll, macht sich meist Betretenheit breit. In Frankreich, dem Land mit der größten moslemischen Minderheit in Europa, ermittelte das Innenministerium die Zahl von „unter 2000 Frauen“, die Körper und Gesicht verschleiern. Dieses Ergebnis beruht auf Berechnungen, die von der Anzahl der fundamentalistisch orientierten Moscheen auf französischem Staatsgebiet ausgingen. 2000 Frauen, das entspricht etwa 0,006 Prozent der weiblichen Bevölkerung. Schätzungen in den Niederlanden ergaben rund 300 voll verschleierte Frauen, in Dänemark sollen es zwischen 100 und 200 sein. Das klingt eher nach Ebbe denn nach Flut.
Sollte die Verbreitung des Niqab und der Burka ein Indiz für das Anschwellen des Islamismus in Europa sein, so kann man wohl Entwarnung geben. Doch die Frauen, die hinter schwarzem Tuch unkenntlich werden, lösen aus vielen Gründen bei Europäern Ängste, Zorn und Ablehnung aus. Ein solches Gewand sei eine Art „ambulantes Gefängnis“, urteilte André Gerin, und Staatspräsident Nicolas Sarkozy tat seine Ansicht darüber in einer pompösen Erklärung auf Schloss Versailles kund. „Die Burka ist kein religiöses Zeichen, sie ist ein Zeichen der Unterdrückung, der Unterwerfung der Frauen“, sagte der Präsident und verkündete: „Die Burka ist auf unserem Staatsgebiet nicht willkommen.“

Abgelehnt
Damit war der Auftrag an das Parlament klar, und schon bald soll ein Gesetz beschlossen werden, das es unter Strafe stellt, gänzlich verschleiert öffentliche Ämter, Schulen, Spitäler zu betreten oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Außerdem sollen weder Frauen, die eine Burka tragen, noch deren Männer die französische Staatsbürgerschaft erlangen. Vergangene Woche statuierte die Regierung ein Exempel an einem Paar, das sich dazu besonders gut zu eignen schien. Éric Besson, der Minister für Integration, verweigerte per Dekret einem Marokkaner die Einbürgerung, „der seine Frau zwingt, die Burka zu tragen“. Das mit der Angelegenheit befasste oberste Verwaltungsgericht gab für diese Entscheidung grünes Licht, und auch Premierminister François Fillon bekundete sein Einverständnis.
Der Präzedenzfall sollte wohl als Rechtfertigung für das kommende Gesetz dienen: Ein Mann, der seine Frau zwingt, sich zu verschleiern, diskriminiert sie auf diese Weise, beraubt sie ihrer Freiheit und verstößt gegen Grundsätze der westlichen Demokratie – besonders gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Ein entsprechendes Gesetz könnte solche Frauen befreien, so das Argument der Befürworter eines Burka-Verbots.
Doch bei genauerer Betrachtung ist die Sache dann doch komplizierter. Der Marokkaner verlangt zwar tatsächlich von seiner Frau, sich zu verschleiern, sobald sie das Haus verlässt, doch er muss sie offenbar nicht dazu zwingen. Die Tageszeitung „Le Figaro“ konnte Einsicht in den Akt nehmen und berichtete, die Ehefrau des Marokkaners sei eine Französin, die zum Islam übergetreten sei und gemeinsam mit ihrem Mann eine fundamentalistische Spielart der Religion praktiziere. Bei ihrer Befragung befürwortete sie die strengen Regeln, die sich am Leben des Propheten Mohammed orientierten, darunter auch das Gebot der Verschleierung. Dennoch urteilte das oberste Verwaltungsgericht, es läge ein Fall von Zwang und Sexismus vor; das Tragen des Schleiers wurde in dem Erkenntnis nicht erwähnt, wohl aber das Verhalten des Ehegatten, das „inkompatibel“ mit den Werten der Republik sei.
So kann der marokkanische Gatte nicht Franzose werden, seine Ehefrau aber lässt keinen Zweifel daran, dass sie weiterhin gänzlich verschleiert leben wird. Die Frage ist: Wer wurde hier eigentlich befreit?
Nach Schätzungen ist jede vierte Burka-Trägerin in Frankreich eine zum Islam übergetretene Französin. Bei dieser Gruppe dürfte Zwang meist keine Rolle spielen. Die wenigen Burka-Frauen, die sich bisher in den Medien zu Wort meldeten, waren allesamt Konvertitinnen, die ihr Recht, sich ganz zu verschleiern, gegen erhebliche Widerstände in der Familie durchsetzen mussten. Christelle-Soraya, eine 36 Jahre alte Französin, bekannte in „Le Monde“, ihr Niqab sei kein politischer Akt, sondern ihr Versuch, den Frauen des Propheten Mohammed nachzueifern.
Auch die Österreicherin Mona S., die 2009 wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde, erklärte im vergangenen Jahr gegenüber profil, sie sei als Einzige in der Familie zur Überzeugung gelangt, dass der Islam die Totalverhüllung der Frau gebiete. Ihre Eltern seien anfangs dagegen gewesen, und einen Mann hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt.

Flucht
Der Philosoph und Islam-Experte Abdennour Bidar argumentiert in einem Kommentar für die Tageszeitung „Le Monde“, die Frauen, die sich mit Burkas verhüllen, flüchteten auf ihre Weise vor ­einem Gesellschaftssystem, mit dessen Modernität sie nicht klarkämen. Ihr Weg möge auf pathologische Weise religiös und rückwärtsgewandt sein, unterscheide sich aber ansonsten nicht vom selbst gewählten
Außenseitertum etwa der Grufties. Die Burka-Frauen fänden ihren Sinn im Leben, indem sie alle Äußerlichkeit aufgeben und in der bedingungslosen – wenn auch nach allgemeiner Auffassung missverstandenen – Islam-Treue eine Gegenwelt aufbauen.
Das mutet höchst abstrus an, aber muss deshalb die Polizei einschreiten?
Man kann einwenden, dass sich die Frauen, die zum Tragen einer Burka gezwungen werden, eben nicht äußern können. Allerdings ist deshalb der Generalverdacht, alle Frauen stünden unter Zwang, noch lange nicht zulässig.
Rechtsexperten zerbrechen sich längst den Kopf, welche juristische Begründung ein Burka-Verbot in öffentlichen Gebäuden rechtfertigen könnte. Die Freiheit der Frau, respektive die Unterwerfung durch den Mann, gilt als kaum haltbarer Grund für ein Verbot, da es unmöglich ist zu entscheiden, ob eine Frau selbst von ihrer Freiheit Gebrauch macht und sich deshalb verschleiert oder ob der Druck des Mannes dahintersteckt. Mit seinem eigenen Körper kann man jedoch weitestgehend tun, was man möchte. Sich selbst den Finger abzuschneiden ist keine Straftat.
Eine Überlegung besteht darin, das Tragen der Burka als Ärgernis zu definieren, vergleichbar mit der Nacktheit. Doch was an einer Burka, die in vielen Teilen der Welt – auch in westlichen Staaten – akzeptiert ist, so schockierend sein soll, ist juristisch schwer zu fassen. Deshalb dürfte letztlich das Argument der öffentlichen Sicherheit vorgebracht werden: Eine Person, mit der man im öffentlichen Raum in Kontakt tritt, müsse identifizierbar sein.
Selbst wenn ein Burka-Verbot verfassungsgemäß formuliert werden kann, bleiben massive Einwände. Martine Aubry, die Chefin der französischen Sozialisten, warnt, die Burka tragenden Frauen blieben dann eben zu Hause, „und wir sehen sie nicht mehr“. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch meint, ein solches Gesetz würde „die Frauen, die Burka tragen, nur stigmatisieren“.
Besonders heftige Kritik kommt aus den USA. Die „New York Times“ wettert in einem Leitartikel mit dem Titel „Die Taliban würden applaudieren“, dass ein Gesetz zum Verbot der Burka ebenso die Rechte der Frau beschneide wie ein Gesetz, das zum Tragen einer Burka verpflichte. „Leute müssen die Freiheit haben, solche Entscheidungen selbst zu treffen, und nicht Regeln von einer Regierung aufgezwungen bekommen, die von der Polizei vollstreckt werden“, so das Editorial.

Zulässig
Auch in Großbritannien herrscht mehrheitlich die Überzeugung, dass der Staat sich nicht in Kleidungsfragen einmischen soll, seien sie auch noch so extrem. Die Elite-Universität Cambridge entschied im vergangenen Oktober, das Tragen einer Burka bei der Diplomfeier sei zulässig.
In der Frage der Burka sind Parteizugehörigkeiten offenbar kein Urteilsbehelf. Linke Feministinnen und rechte Ausländerhasser teilen dieselbe Meinung wie französische Konservative und österreichische Sozialdemokraten. Es sind tiefer liegende, kulturell bedingte Einstellungen, die das Urteil beeinflussen. Aus der Perspektive des französischen Republikanismus ist die Burka als Symbol für die Unterwerfung oder Selbstunterwerfung der Frau eine Attacke auf die gesellschaftlich unveräußerlichen Werte – die Republik muss sich zur Wehr setzen. Der angelsächsische Liberalismus hingegen sieht in dem abnormen Verhalten keine Gefahr für die Allgemeinheit und deshalb auch keinen Grund zur Reglementierung.
Dass mit dem Drangsalieren von fundamentalistischen Moslems auch rechte Wähler angesprochen werden können, ohne deshalb Gefahr zu laufen, linke zu verlieren, ist ein taktisches Kalkül, das bei der herrschenden Xenophobie nie außer Acht gelassen werden kann. Es ist wohl kein Zufall, dass etwa die französischen Konservativen zur selben Zeit, da das Burka-Verbot debattiert wird, auch die Frage der „nationalen Identität“ zum Thema machen.
Seltsamerweise ist ausgerechnet in Israel, wo mit dem Judentum die nationale Identität sehr explizit festgelegt ist und wo
Sicherheitsbedenken so ziemlich jeden
Eingriff des Staates rechtfertigen, ein Burka-Verbot kein Thema. Schließlich gibt es in Tel Aviv einen Strand, wo ultraorthodoxe Jüdinnen von Kopf bis Fuß bedeckt baden gehen, während moslemische Frauen an ihrem Strand in jede Menge Tücher gehüllt dasselbe tun. Das Burka-Verbot sei „eine französische Obsession“, spottet die ­israelische Tageszeitung „Haaretz“.
Vielleicht stimmt das. Alle Welt ist auf den Islam fixiert. Nach dem 11. September 2001 vermutete man überall „Schläfer“, die auf ihren Einsatz als Selbstmordattentäter warteten, zuletzt wurden Minarette als bedrohliche Siegessäulen des Islam über die westlichen Werte interpretiert, und jetzt soll die Polizei Burka-Trägerinnen abstrafen – zu ihrem Besten.
Europa, der am meisten säkularisierte Kontinent, scheint von einer Art religiösem Eifer getrieben, wenn es um seine moslemische Minderheit geht.

Mitarbeit: Valerie Prassl

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur