Tsunami-Katastrophe: Hilfe!

Hilfe! Auf die Tsunami-Katastrophe folgt die größte Spendenaktion aller Zeiten

Es folgt die größte Spendenaktion aller Zeiten

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Es ist die Stunde der Armeen. Truppen brechen auf, Kriegsschiffe laufen aus, Militärflugzeuge starten. Militärische Einheiten aus aller Welt bewegen sich in den Tagen um den Jahreswechsel aufeinander zu, Zielort: Südasien. Aus Japan rücken drei Marineschiffe aus, die USA positionieren ihren Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ samt Begleitschiffen und 12.000 Mann vor Ort, Frankreich entsendet den Hubschrauberträger „Jeanne d’Arc“ und zwei Fregatten, die deutsche Bundeswehr ihr größtes Schiff „Berlin“, die britische Navy zwei Schiffe und Flugzeuge vom Typ C-17. Indien hat 32 Schiffe im Einsatz, dazu 41 militärische Fluggeräte und 16.000 Soldaten.

Ein Aufmarsch wie vor einem Krieg, an dem sich die ganze Welt beteiligt. Aber tatsächlich handelt es sich um das genaue Gegenteil: Die ganze Welt schickt ihre besten Einsatzkräfte, um zu helfen. Die Flutwellen des 26. Dezember haben die größte Hilfsaktion ausgelöst, die die Welt je gesehen hat. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben so viele Staaten und Völker so viel Geld und Material aufgebracht, um die Folgen eines Unglücks zu lindern. Noch nie allerdings waren so viele Staaten gleichzeitig von einer Naturkatastrophe betroffen (siehe Karte S. 15). Fast 150.000 Menschen sind bereits an den Folgen der Tsunamis gestorben. UN-Generalsekretär Kofi Annan spricht von einer „beispiellosen globalen Katastrophe“.

Nicht nur Armeen, auch Heerscharen von privaten Hilfsorganisationen strömen seit zwei Wochen in die zerstörten Regionen. Zwei Millionen Menschen müssen notversorgt werden, weil sie verletzt, obdachlos und ohne Lebensmittel sind. Erschwert wird die Hilfe dadurch, dass die Betroffenen weit verstreut und zum Teil in schwer zugänglichen Regionen auf Rettung warten. Seuchen drohen auszubrechen. Das Unternehmen „Rettet Südasien“ ist eine gigantische logistische Herausforderung für Organisationen wie UN, Rotes Kreuz, Caritas, Ärzte ohne Grenzen und viele andere.

Und es kostet enorm viel Geld. Aber daran herrscht plötzlich kein Mangel. Mehr als vier Milliarden Euro werden von Regierungen und privaten Spendern auf der ganzen Welt bereitgestellt, und täglich wird es mehr.
Dabei sah es anfangs nicht danach aus.

Entrüstung. In den Tagen nach der Katastrophe stiegen die Opferzahlen stündlich, doch von großzügiger Hilfe war da noch keine Rede. Die USA versprachen zunächst 15 Millionen Dollar – halb so viel Geld, wie die Republikaner für die bevorstehende Amtseinführung des zweiten Kabinetts Bush ausgeben wollen – und erhöhten danach bloß auf 35 Millionen. Doch die Regierung hatte die Emotionen unterschätzt, die die Not im fernen Südasien bei den Amerikanern auslöste. Entrüstung brach los.

„Ich bin an die Decke gegangen, als ich hörte, dass die Regierung sich mit 35 Millionen brüstet. So viel geben wir im Irak jeden Tag vor dem Frühstück aus!“, kritisierte der demokratische Senator Patrick Leahy. Bald darauf war es mit dem Kleckern vorbei, es wurde geklotzt und die Hilfe auf 350 Millionen Dollar verzehnfacht.

Vielen Regierungen erging es ähnlich, und plötzlich wurde die Phase des Knauserns von einem Wettlauf um die höchste Geldzusage abgelöst. Vergangene Woche führte Australien mit 618 Millionen Euro die Top Ten vor Deutschland (500 Millionen), der Europäischen Union (400 Millionen) und Japan (380 Millionen) an. Bernard Kouchner, französischer Ex-Gesundheitsminister und Gründer der NGO Ärzte ohne Grenzen, frohlockte: „Die Regierungen folgen einem Aufschrei der Öffentlichkeit.“

Plötzlich fühlt sich die Erste Welt von der Not in Asien betroffen wie noch nie nach einer Katastrophe. Kommentatoren sprechen bereits von einer „moralischen Globalisierung“. Die Bürger der reichen Länder genießen die Schönheiten der Natur Thailands oder Sri Lankas und fühlen sich deshalb auch stärker verantwortlich für das Schicksal der Einheimischen. Die hohe Zahl an westlichen Touristen unter den Toten trägt zur Betroffenheit wesentlich bei. Der britische Publizist Timothy Garton Ash hält es in einem Artikel im „Guardian“ für möglich, dass die Flutwelle eine nachhaltige Veränderung im Bewusstsein der reichen Ersten Welt bewirken könnte.

Noch hält der karitative Furor jedenfalls an. TV-Stationen aller Länder veranstalten tages- und/oder abendfüllende Spendensendungen, Prominente wie Formel-1-Rennfahrer Michael Schumacher (zehn Millionen Dollar) oder Hollywood-Star Sandra Bullock (eine Million Dollar) überweisen stolze Summen, und die Sprecherin der österreichischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, Gabriele Faber-Wiener, berichtet, dass ohne jedes Spendenmailing eine Million Euro auf dem Konto ihrer Organisation eingetroffen sei, und so etwas, sagt Faber-Wiener, „hat es noch nie gegeben“. Ärzte ohne Grenzen gab vergangene Woche international bekannt, keine weiteren Spenden zur Nothilfe mehr zu benötigen.

Weltweit spendeten Private bereits mehr als eine Milliarde Euro. In Österreich bewegte sich das Spendenaufkommen der Aktion „Nachbar in Not“ Ende vergangener Woche in Richtung der 20-Millionen-Marke, der Beitrag der Regierung hinkte mit acht Millionen nach (siehe Kasten S. 14).

Die Summen, die weltweit gesammelt werden, klingen unermesslich. Doch die Not vor Ort ist es nicht weniger.

In den am stärksten betroffenen Gebieten wie in Banda Aceh auf der indonesischen Insel Sumatra kämpfen die Helfer gegen den Ausbruch von Seuchen, die durch verschmutztes Trinkwasser drohen. Hier haben sich spontan 175 inoffizielle Flüchtlingslager mit jeweils mehr als tausend Menschen gebildet, in einigen der Camps verteilt die Hilfsorganisation Care inzwischen Fläschchen mit Natriumhypochlorid, mit denen eine Familie einen Monat lang ihr Wasser säubern kann.

Neustart. Im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu ist zumindest die Trinkwasserversorgung kein Problem mehr. Doch bis auf ihr nacktes Leben haben die Fischer hier nichts mehr: Auf tausend Kilometer Länge hat der Tsunami ihre Hütten weggerissen und ihr Hab und Gut geschluckt. Ohne Boote und Netze können sich die Fischerfamilien, die in Schulen und Kirchen untergebracht sind, nicht selbst ernähren. Von der Caritas erhalten sie Notpakete für einen Neustart – mit 15 Kilo Reis, drei Kilo Linsen, Öl, Tee, Salz, Aluminiumkochgeschirr und Bettlaken, außerdem einen Sari für die Frauen und eine Hose für die Männer.

„Damit wollen wir 17.000 Familien versorgen“, berichtet die Grazerin Monika Kalcsics, die für die österreichische Caritas durch die Dörfer fährt und den unmittelbaren Hilfsbedarf erhebt. „Wir haben die Hilfsgüter hier in Indien eingekauft. Dadurch sind sie auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt, und wir stärken die angeschlagene regionale Wirtschaft.“ Gemeinsam mit einem Italiener, einem Deutschen und einer indischen Caritas-Mitarbeiterin erstellt die 30-Jährige nun einen Hilfsplan für die nächsten drei bis sechs Monate. Denn sind die allerersten Versorgungsprobleme gelöst, brauchen die Überlebenden neue Dächer über den Köpfen. Materialien für Bambushütten mit Kunststoffdächern, die als Übergangsbehausungen dienen sollen, müssen besorgt werden, bald auch neue Bootsmotoren und Fischernetze. „Im Moment leisten wir nur Katastrophenhilfe. Der Wiederaufbau selbst wird einige Jahre dauern. Ich hoffe, dass da die Hilfsbereitschaft nicht wieder abreißt“, meint Kalcsics.

In Sri Lanka ist die Situation ähnlich desaströs, über 800.000 Menschen sind obdachlos (siehe Reportage S. 16), und der politisch-militärische Konflikt der Zentralregierung mit der Rebellenorganisation der Tamilischen Tiger (LTTE) macht auch die Hilfsaktionen komplizierter. Als das österreichische Bundesheer vergangene Woche mit 77 Mann und einer Trinkwasseraufbereitungsanlage in der Hauptstadt Colombo eintrifft, beginnen die Zollbeamten mit umständlichen Formalitäten, offenbar um sicherzustellen, dass die Maschinen nur ja nicht im Rebellengebiet landen. Auch nach dem Tsunami bleibt das Misstrauen unüberwindbar.

Trinkwasser. Die österreichische Trinkwasseraufbereitungsanlage landet wie geplant am Süßwasserstausee knapp außerhalb der Stadt Galle an der Westküste Sri Lankas. 180.000 Liter Trinkwasser werden pro Tag produziert, die Menge wird für 40.000 Menschen reichen. Auch hier gilt: Das größte Problem ist die rasche Verteilung, denn bei den herrschenden klimatischen Bedingungen ist das Wasser nur 24 Stunden haltbar.

Die ganze Region wimmelt von Helfern. Da kann es trotz sorgfältiger professioneller Planung schon mal zu Koordinationsproblemen kommen. Als der profil-Reporter vor dem Heimflug in Colombo einen ungarischen Vertreter der Hilfsorganisation Hungarian Baptist Aid trifft und ihm von der österreichischen Trinkwasseraufbereitungsanlage erzählt, beginnt der Ungar hektisch mit Budapest zu telefonieren – seine Organisation ist eben im Begriff eine ebensolche Anlage nach Sri Lanka zu transportieren. Ziel: der Süßwasserstausee außerhalb von Galle. Die Anlage wird schließlich anderswo installiert.

Im Fachjargon der Helfer wird auf die derzeitige „Akuthilfe“ die „Überbrückungshilfe“ und danach der „Wiederaufbau“ folgen, erklärt Rotkreuz-Verantwortlicher Bernhard Jany die Phasen des Einsatzes. Die Frage ist, ob der Elan beim Überweisen der angekündigten Geldmittel ermatten wird, wie es etwa nach dem Erdbeben in der iranischen Stadt Bam am 26. Dezember 2003 der Fall war. Die Stadt war zerstört, 30.000 Menschen tot, und die versprochene Aufbauhilfe blieb weitgehend aus.

Allein der Medienrummel spricht dafür, dass die Tsunami-Opfer in weiterer Folge nicht so schändlich behandelt werden. Doch die Frage, ob die Flutkatastrophe tatsächlich etwas an der Hilfsbereitschaft der Ersten Welt geändert hat, ist damit noch nicht beantwortet. Denn einmal mehr könnte der ärmste Kontinent der Erde durch den Tsunami-Hype im toten Winkel bleiben: Afrika. UN-Koordinator Jan Egeland verlangte, dass in Zukunft „gleiches Mitleid für alle“ gelte.

Ein frommer Wunsch. Allein an Malaria sterben vor allem in Afrika pro Jahr zwischen 1,1 und 2,7 Millionen Menschen. Doch weil Touristen davon kaum betroffen sind und der Malaria-Tod nicht annähernd so spektakulär ist wie der Tod durch eine Flutwelle, bleiben Anteilnahme und Spendenbereitschaft, gemessen an der Tsunami-Welle, im Promillebereich.

Der britische Premier Tony Blair will die aktuelle Präsidentschaft seines Landes innerhalb der G8-Staaten dazu nutzen, um „den Geist der Freigebigkeit auch für Afrika zu nutzen“. Sein Finanzminister Gordon Brown hat dazu einen Marshall-Plan für Afrika ausgearbeitet.

Doch da man die Bevölkerung nicht permanent per Spendenaufruf melken kann, bedürfte es für längerfristige Hilfsaktionen staatlicher Mittel, und das bedeutet: eine Erhöhung der Budgets für Entwicklungshilfe. Bisher jedoch weigern sich Staaten wie etwa Österreich standhaft, den international angestrebten Anteil von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Entwicklungshilfe zu widmen, nicht einmal das Etappenziel von 0,33 Prozent wurde bisher erreicht.

Sobald sich die Mitleidsflut gelegt hat, herrscht in den Budgets für die Ärmsten wieder Ebbe.

Und doch: Timothy Garton Ash hält das Wunder für prinzipiell möglich: So wie die Terroranschläge des 11. September 2001 den „Krieg gegen den Terror“ hervorgebracht haben, könnte der Tsunami des 26. Dezember 2004 den „Krieg gegen die Armut“ auslösen. Doch man kann auch die Wucht eines Tsunami überschätzen.