Aussortiert

Integration. Junge Türken wollen nicht mehr schlechtgemacht werden

Drucken

Schriftgröße

Es ist nicht leicht, Inan Türkmen im Auge zu behalten. Der 24-Jährige zappelt auf der Bank herum, als wäre sie brennheiß. Sein Büchlein "Wir kommen“ ist seit einer Woche auf dem Markt. Schon gilt er als österreichischer "Anti-Sarrazin“, als erster "Wut-Türke“ im Land. Er kann es nicht mehr lesen, nicht mehr hören, und eigentlich will er "jetzt überhaupt nichts mehr sagen“.

"Wir sind jung, hungrig, stark, zuversichtlich“, hat er geschrieben. "Wir kriegen viele Kinder und bauen Innovationszentren, während ihr nur noch Geriatrieanstalten in die Landschaft stellt. Unsere Wirtschaft boomt, eure bricht zusammen. In zwanzig Jahren stecken wir Türken euch Österreicher in die Tasche.“

Inan Türkmen - schwarze Ray-Ban-Brille, die Adidas-Tasche im selben Braunton wie die Stiefeletten - wirkt wie jemand, der einfach einmal Lust hatte, auf alle Knöpfe zu drücken, und vergessen hat, sich vorher anzuschnallen: "Ich weiß nicht, warum sich alle so aufregen. Mein Buch ist ja nicht einmal wirklich gut.“

Es trifft jedenfalls einen Nerv, weil es Kastrationsängste schürt, wie dies auch die politische Rechte tut. Nur dreht Türkmen alles um: Wir sind nicht schlechter, wir sind besser! Zum Anti-Sarrazin, wie sein Verlag hinausposaunte, macht ihn das nicht. Der junge Linzer mit den kurdischen Wurzeln und der deutsche Banker und Autor von "Deutschland schafft sich ab“ sind so etwas wie verfreundete Feinde.

Die Holzhammer-Parolen sorgten für einen medialen Aufreger. Die Grüne Alev Korun, erste Nationalrätin mit türkischen Wurzeln, kritisiert dafür weniger den Autor als die Medien: "In der Integrationsdebatte setzt sich nur mehr das Schrille durch. Kein Wunder, wenn ein junger Kurde das nützt, um gehört zu werden.“ Ähnlich sieht das Migrationsexperte Kenan Güngör. Er will Türkmens rüde Thesen nicht zerreden: "Das Buch ist ein Aufschrei von jemandem, der es satt hat, sich zu bücken. Da sollte man nicht auf den Inhalt schauen, sondern sich fragen: Was treibt den Menschen?“

Inan Türkmen stammt aus Linz. Seine Mutter ist keinen Tag in einer Schule gewesen. Lesen und Schreiben musste sie sich selbst beibringen. "Heute liest sie Orhan Pamuk und Dostojewski, sie ist unglaublich.“ Ständig habe sie ihre Kinder angetrieben: "Zeigt es den Leuten.“ Inan, ihr mittlerer Sohn, studiert heute Betriebswirtschaft. Dass Bildung vor Diskriminierung nicht schützt, hat er schon früher gelernt. "Irgendwann habe ich den Alltagsrassismus nicht mehr ausgehalten und begonnen, alles aufzuschreiben“, erzählt er. Eine Freundin kannte einen Verleger, der sagte: "Mach daraus ein Buch.“

Sein Ton trifft den Ton einer Generation. Im Kulturzentrum der türkischen Aleviten in Wien-Floridsdorf sitzen Cem Dogan, 23, seine Frau Yagmur, 20, und Seyhan Sari, 21, um einen Couchtisch. Sie haben mit Türkmen einiges gemein: Sie sprechen perfekt Deutsch, sind gebildet und können - so wie er - das Gerede von "Integration“ nicht mehr hören. "Ich bin längst ein Teil der Gesellschaft. Trotzdem will man ständig wissen, woher ich komme“, klagt der 23-jährige Angestellte Cem. Wenn er einen Kunden frage: "Kann ich Ihnen helfen?“ und der zurückschnappe: "Können Sie Deutsch?“, beiße er sich auf die Zunge. Er würde gerne antworten: "Was denn sonst? Habe ich Arabisch gesprochen?“

Ihre Eltern arbeiteten hart, damit sie es besser haben. Nun, da die zweite Generation ein bisschen Bildungsaufstieg schaffte, ist sie selbstbewusster, aber auch unzufriedener. Die "schmerzhaften Phänomene von halber Integration“ nennt das Migrationsexperte Kenan Güngör: "Plötzlich vergleicht man sich und spürt nicht Ungleichheit, sondern Unfairness. Das ist eine große Kränkung.“ Ein Teil reagiere darauf mit Rückzug in die Moscheen, ein Teil igle sich im türkischen Nationalismus ein, einige radikalisierten sich, und ein paar muckten eben auf - so wie Inan Türkmen, der sich als "liberal“ beschreibt, aber nichts dabei findet, "ab und zu etwas Radikales zu sagen, damit man gehört wird“.

Die permanente Forderung, sich zu integrieren, empfinden viele seiner Generation inzwischen als Schraubzwinge, die sich immer noch ein Stück fester anziehen lässt. Egal, was sie erreichen, Zugehörigkeit und Anerkennung bleiben versagt. Cems Frau Yagmur Dogan, 20, wusste nie, ob sie die Hand heben oder unten lassen sollte, wenn in ihrer Klasse "die Österreicher“ durchgezählt wurden: "Alle mit einem Pass haben aufgezeigt. Dann kam die Frage: ‚Bist du nicht aus der Türkei?‘“ Inzwischen habe sie es aufgegeben, eine von hier sein zu wollen: "Okay, bin ich eben Österreicherin mit Migrationshintergrund.“ Wieder und wieder wollte man es von ihr hören: "Es ist, als müsste ich es möglichst oft aussprechen, um es nicht zu vergessen: Eine richtige Österreicherin bin ich nicht.“

Seyhan Sari, 21, hat eine Liste von Sätzen im Kopf, die er nicht ausstehen kann. Ganz oben rangiert: "Du bist der einzige Türke, der Deutsch kann“, dicht gefolgt von: "Wenn alle so wären wie du, hätten wir keine Probleme.“ Er findet sich gerade damit ab, dass er immer "der Türke“ bleiben werde, "wahrscheinlich ein Leben lang“. In der Türkei nennt man ihn und seine Freunde "Europäer“ und "Deutschländer“: "Egal, wo wir sind, wir sind immer dazwischen.“

Ihre Eltern hatten ihnen vorgebetet, dass im Leben vor allem Bildung zählt. Cem, Yagmur und Seyhan sagen, sie seien es ihnen jetzt einfach schuldig, Erfolg zu haben: "Sie haben Klos geputzt und auf der Baustelle gearbeitet, damit wir eine Ausbildung bekommen.“ Im Gymnasium, das Yagmur besuchte, habe es zehn Türkinnen und Türken gegeben. Sie fanden sich alle in einer Klasse wieder, gemeinsam mit allen anderen Migrantenkindern. Yagmur wurde das Gefühl nicht los, "dass man uns sortiert“.

Seyhan Sari absolvierte eine HTL und beginnt demnächst als Nachrichtentechniker in einem Wiener Spital. Die Diskriminierungen in der Schule seien oft so subtil gewesen, dass er sich dagegen nicht zu wehren wusste: "Wir Ausländer bekamen nie einen Bonus, sondern immer ein bisschen mehr Steine in den Weg als die anderen.“ Auf der Straße gingen sie an islamfeindlichen FPÖ-Plakaten vorbei. Oft fragte sich Yagmur: "Oh, mein Gott, warum darf man so etwas aufhängen?“

Heuer macht sie Matura, danach will sie Volkswirtschaft studieren. Mit ihrem gestochenen Deutsch könnte sie am Burgtheater reüssieren. Doch ständig drangsaliere man sie mit Klischees: "Türken sind schlecht, dumm, behandeln ihre Frauen schlecht, integrieren sich nicht.“ Sie fand es befreiend, dass einer aus ihrer Generation den Spieß einmal umdreht: "Eigentlich sind wir besser, deshalb habt ihr Angst vor uns.“ Ihr Mann Cem ist skeptisch: "Das spielt nur der FPÖ in die Hände: Ah, schaut euch den Türken an, der will an die Macht. Wir haben es ja gewusst.“

Die Erfahrung, dass Leistung eingefordert wird, letztlich aber die Herkunft zählt, zieht sich durch die Biografien. In zehn, zwanzig Jahren wird ihre Generation die Leistungsträger stellen. Doch die Botschaft ist in der Mitte der Gesellschaft noch nicht angekommen. Vor einem Jahr reiste ÖVP-Klubchef Karlheinz Kopf mit einer ÖVP-Delegation in die Türkei, um über Integrationsprobleme zu spre-chen. "Was gab es dort zu besprechen? Das sind doch unsere Jugendlichen“, sagt Migrationsexperte Güngör. Dass es anders ginge, zeigte sich, als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr davor Deutschland besuchte und dort über "seine“ Landsleute sprach. Der Integrationsverantwortliche von Nordrhein-Westfalen gab dem hohen Gast zu verstehen: "Die Probleme unserer Jugendlichen lösen wir selbst.“

Inan Türkmen zeichnet in "Wir kommen“ das Bild einer Türkei, in der alles größer, schneller, besser ist. Cem, Yagmur und Seyhan wissen, dass es die Wirklichkeit verzerrt: "Wenn man Geld hat, lebt man in der Türkei wie ein Pascha. Aber es gibt Leute, die am Abend nichts essen, damit ihre Kinder etwas am Teller haben.“ Sie leben lieber in Österreich.

Bei vielen in ihrer Altersgruppe ist Nationalismus en vogue. "Man sieht Europa niedergehen, mit einem versteckten Grinsen auf den Erzfeind Griechenland, das nützt die türkische Regierung für Propaganda“, konstatiert Jugend- und Extremismusforscher Thomas Rammerstorfer. Junge Männer, die beim Bildungsaufstieg scheitern, seien dafür besonders anfällig. "Das wird vor lauter Islamismus-Debatte übersehen“, warnt der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger. Ähnliches beobachtet Martin Schenk, Integrationsexperte der Diakonie und Verfasser des jüngst erschienenen Buches "Die Integrationslüge“. Sein Plädoyer: Nicht so viel über Herkunft, mehr über die Verhältnisse reden. "Bei uns wird jeder soziale Konflikt in einen kulturellen umgedeutet. Damit kommen wir nicht weiter.“

Meric Ekinci arbeitet im Lokal "Mediterrass“. Es liegt direkt an der Donau und gehört seinem Bruder. Im Sommer ziehen die Ausflugsschiffe am Gastgarten vorbei. Mit seinen 27 Jahren hat Ekinci einiges erreicht: Er führte eine Imbissstube in Deutschland, einen Handyshop in Wien, arbeitete bei der Textilkette H&M und als Konfliktmanager im Gemeindebau. In zwei Wochen geht er nach Basel, wo er mit seinem Onkel ein Restaurant und eine Cocktailbar betreibt. Außerdem möchte er Politik studieren. Sollte er auf einer Landkarte zeigen, wo er hingehört, er könnte sich nicht entscheiden: "Ich bin Österreicher auf dem Papier, kulturell in der Welt meiner Eltern zu Hause, aber kein Türke, am ehesten Weltenbürger.“ Wenn Türken fragen, warum vor dem Lokal keine Flagge hänge, sagt er: "Weil es auf der Welt so viele verschiedene gibt.“

Sein Hauptschullehrer habe den Burschen zu verstehen gegeben, dass für sie nur eine Lehre infrage käme. Die Mädchen sollten Friseurinnen werden: "Heute weiß ich, was er gemeint hat: Jemand muss hier doch die Drecksarbeit machen.“ Nebenan gab es ein Gymnasium. Die Kinder von dort hatten auch am Nachmittag eine Beschäftigung: "Die Mädchen gingen reiten, die Burschen spielten Schach. Nur wir waren auf uns gestellt. Da fällt einem natürlich viel Blödsinn ein.“

Dilan Kirmizitas, 20, hat Türkmens Buch nicht gelesen. Aber sie hat den BWL-Studenten auf Facebook kontaktiert. Er habe ihr von einem Geschichtelehrer erzählt, für den es kein wichtigeres Ereignis in der Entwicklung der Menschheit gab als die Türkenbelagerung. Dilan sagt, sie habe dasselbe erlebt. Die Kinder im Gymnasium spotteten: "Bist du die Anführerin der nächsten Türkenbelagerung?“ Inzwischen ist sie fast fertig ausgebildete Krankenpflegerin und hat gelernt, sich Zumutungen vom Leib zu halten: "Ich habe mit 13, 14 begriffen, dass einem niemand die Steine aus dem Weg räumt und mir nur eine Ausbildung helfen kann.“

Drei Jahre lang habe sie die Nächte durchgelernt, um ihr Diplom zu schaffen. Wenn sie im Spital gefragt werde, woher sie komme, antwortet sie: "Ich bin Österreicherin, und es ist hier meine Aufgabe, Sie über Diabetes aufzuklären.“ Immer wieder passiert es, dass jemand sie in gebrochenem Deutsch anredet. Dann sagt sie mit einem entzückenden Lächeln: "Entschuldigen Sie, ich habe eine gute Ausbildung, bitte sprechen Sie normal mit mir.“ Es sei falsch, alles hinunterzuschlucken: "Wenn mir etwas wehtut, spreche ich das aus.“

Inan Türkmen hat auf seine Weise genau das auch versucht. "Es geht um Anerkennung“, sagt er. Und: "Okay, jetzt seht ihr einmal, dass es nicht schön ist, wenn man ausgegrenzt wird. Also tut es nicht.“ Könnte er sein Buch noch einmal schreiben, er würde es vielleicht noch radikaler anlegen: "Dann hätten die Leute wirklich Grund, sich aufzuregen.“

Foto: David Payr für profil

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges