Wer hat Angst vorm bösen Hund?

Kampfhunde: Der Hundeführerschein ist gut gemeint, aber unsinnig

Kampfhunde. Der "Hundeführerschein" ist gut gemeint, aber unsinnig

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Die Frau hatte sich die Reaktion der Polizisten definitiv anders vorgestellt. Sie berichtete den Beamten von einer Beobachtung, die ihrer Ansicht nach einer Nachforschung wert gewesen wäre: Einige Kinder hätten einen Staffordshire-Terrier mit Schlägen malträtiert. Und immerhin wird ein misshandelter Hund eines Tages selbst zur potenziellen Gefahr. Doch die Frau erntete bloß ein mitleidiges Lächeln sowie die Antwort: „Wenn S’ die Welt verbessern wollen, wünsch’ ma Ihna viel Glück.“

Weil konkreten Problemfällen nicht zielgenau nachgegangen wird, müssen jetzt alle dran glauben: Ab Anfang Juli gilt in Wien der heftig debattierte „Hundeführschein“. Damit wird nicht nur die Haltung von 13 definierten Rassen und Hundetypen, sondern auch von Mischlingen dieser Züchtungen an eine Prüfung gekoppelt. Wer sich etwa einen der großen Terrier oder einen Dogo Argentino zulegen möchte, muss binnen dreier Monate antreten, wer bereits einen solchen Hund besitzt, hat ein Jahr Gnadenfrist. Hingegen nicht auf dem Index: der Deutsche Schäferhund, in allen Studien als größter Beißer ausgewiesen, sowie der Dobermann, der in den Bissstatistiken ebenfalls weit oben rangiert.

Die Wiener Verhaltensforscherin Karin Bayer berichtet von einem starken Zulauf von Personen, die schon jetzt die Prüfung ablegen wollten. Die Ethologin arbeitet am Clever Dog Lab der Uni Wien und ist eine jener rund 50 Prüferinnen und Prüfer, welche die Qualifikation der Hundehalter testen. „Zurzeit kommen vor allem die netten, verantwortungsbewussten Leute mit netten Hunden“, so Bayer.

Wer die 25 Euro Taxe aufbringt, darf ­sofort zur Prüfung antreten. Einen Einführungskurs zum Thema Hundehaltung gibt es – anders als mehrfach berichtet und von der Gemeinde Wien verlautbart – nicht. Stattdessen wird man zunächst mit 30 theo­retischen Fragen konfrontiert, von denen 24 richtig beantwortet werden müssen. Dann folgt der Praxisteil: Man muss zeigen, dass man mit dem Hund an der Leine gehen, den Beißkorb anlegen, Pfoten- und Ohrenkontrolle durchführen kann. Schließlich soll der Hund beim Spaziergang durch die Gassen in manche der folgenden Situationen geraten: etwa Begegnung mit Artgenossen, mit Kindern und Radfahrern sowie Warten vor einem Geschäft. Der Hund muss keineswegs beweisen, dass ihn etwa lärmende Kinder völlig kaltlassen – vielmehr muss sein Halter angemessen reagieren, also einen Bogen um die Kinderschar machen, wenn er weiß, dass sein Hund in solchen Situationen in Stress gerät. „Gefragt ist die Umsicht des Besitzers“, so Bayer. Nach etwa einer Stunde ist man Besitzer des Hundeführscheins.

Unvermittelbar.
Die Vorboten der Novelle machten sich rasch bemerkbar: Im Wiener Tierschutzhaus in Vösendorf werden zurzeit deutlich mehr angebliche Problemtiere deponiert als sonst. „Seit Beginn der Kampfhunddebatte verzeichnen wir einen kontinuierlichen Anstieg“, sagt Geschäftsführerin Elisabeth Thomas. Im Vergleich zum langjährigen Schnitt habe sich die Zahl der Stafford-Rassen-Tiere verdreifacht, jene der Rottweiler verdoppelt. Und diese Hunde seien nun nahezu unvermittelbar, so Madeleine Petrovic, Präsidentin des Tierschutzvereins: „Die Leute sagen explizit, ich will keinen Hund, mit dem ich dann Schwierigkeiten habe.“

Verschärft wird die Situation im Tierschutzhaus dadurch, dass auch in Niederösterreich eine neue Regelung in Kraft ist, die konkrete Hunderassen an Auflagen bindet sowie mit einer bis zu zehnfach erhöhten Steuer belegt.
Auf politischer Ebene sorgt der Hundeführschein ebenfalls für Aufregung: Die ­Rathaus-Opposition wird nicht müde, die Hauptinitiatorin der Hundehalterlizenz, SPÖ-Umweltstadträtin Ulli Sima, zu schelten. Mitte der Vorwoche publizierte der „Standard“ gar ein von Kanzler Werner ­Faymann unterzeichnetes Ministerratspapier, in dem große Zweifel an der praktischen Umsetzung angemeldet wurden. Und Kritiker wie Hans Mosser, Herausgeber der Zeitschrift „Wuff“ und Mitgründer des jüngst etablierten Hundehalterverbands, unterstellen Sima schlicht „blanken Populismus“ im Hinblick auf die Wien-Wahl im Herbst.

Wer hat nun Recht? Wie sinnvoll ist der Hundeführschein? Und vor allem: Ist er tatsächlich geeignet, gefährliche Zwischenfälle mit Hunden zu verhindern respektive jene zu schützen, die schlichtweg Angst vor großen, massiven Hunden haben?

Zunächst verraten die Zahlen, dass das Risiko, von einem Hund gebissen zu werden, denkbar gering ist: Laut Kuratorium für Verkehrssicherheit werden im Jahresschnitt bundesweit 5900 Menschen durch Hunde verletzt, gut 4700 davon tragen Bisse davon, der Rest verteilt sich auf Schrammen durch Kratzer oder Umstoßen. Auf die Einwohnerzahl umgerechnet, bedeutet dies, dass jährlich 0,056 Prozent der Österreicher gebissen werden. Und Wien liegt noch unter dem Bundesschnitt: Auf die rund 53.000 offiziell registrierten Hunde kamen in der Hauptstadt im Vorjahr laut Simas Büro 225 Bisse. Der Wiener hat damit ein Risiko von 0,013 Prozent, von einem Hund gebissen zu werden. Anders gerechnet: Man wird in Wien, rein statistisch betrachtet, alle 7555 Jahre gebissen. Was sich freilich nicht in ­diesen Daten niederschlagen kann, ist die ­Dunkelziffer: In Wien gibt es insgesamt ­geschätzte 100.000 Hunde, und erfahrungsgemäß wird auch eine gewisse Zahl an Verletzungen nicht gemeldet – vor allem, wenn es sich um kleinere Zwischenfälle handelt, besonders im Familienkreis.

Trotz der generell geringen Zahl er­eignen sich teils furchtbare Unfälle: der Fall jener 31-Jährigen, die Ende des Vorjahrs beim Joggen von zwei Rottweilern attackiert wurde; jenes dreijährigen Buben aus der Steiermark, der beim Spielen von einem Mischlingsrüden in den Arm gebissen wurde; jener Einjährigen, die vorigen November von einem Rottweiler totgebissen wurde. Zuletzt schockierte Ende Mai der Fall eines kleinen Mädchens aus Thüringen, getötet von den vier Staffords seiner Tante.

Dass insgesamt die massigen Staffords – von manchen aufgrund der Anatomie mit merklichem Ekel „Schweindlhunde“ genannt – besonders hervorstechen, ist nicht verifizierbar. Mitunter ist es auch eine Frage der öffentlichen Wahrnehmung. Mosser erinnert sich an die fette Schlagzeile in einem Boulevardblatt: „Kampfhund entwichen!“ Im Inneren des Blatts stand, dass der Hund aus einem Tierheim entlaufen war. Ein Passant fand ihn und brachte ihn zurück. Ende der Geschichte. Weit hinten in der Zeitung war eine Mini-Meldung, wonach ein Schäfer ein elfjähriges Kind totbiss.
Die generelle Datenlage zur Gefährdung von Menschen durch Hunde ist erstens ziemlich dicht und zweitens weitgehend einheitlich. Es ist bekannt, welche Hunde unter welchen Umständen zum Risiko werden, und man weiß auch, in welchem Umfeld die meisten Bisse stattfinden und wer besonders leicht zum Opfer wird.

Man kennt also das Täterprofil des potenziell gefährlichen Hundes. Stadträtin Sima indes muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich mit der Berücksichtigung des wissenschaftlichen Materials – bei zügigem Arbeitstempo eine Aufgabe von einer Woche – nicht übermäßig belastet zu haben. Sie selbst sagt gegenüber profil, sie verstehe nicht, „warum es jetzt diese unglaubliche akademische Debatte gibt“.

Der akademische Zugang würde freilich eine faktische Basis bieten, vor allem im Hinblick auf die nun indizierten Rassen und Typen, immerhin ein Herzstück des Führscheins. Praktisch alle Studien zum Thema gelangen zum Ergebnis, dass – wenn man schon, fragwürdig genug, die Rasse als Indikator für Gefährlichkeit heranzieht – der Deutsche Schäferhund der bedrohlichste Hund ist. Der von der Gemeinde Wien ständig verwendete Begriff „Kampfhunde“ ist übrigens völlig nichtssagend und suggeriert bloß eine diffuse Gefahr. Manche der auf der Liste verzeichneten Tiere haben bestenfalls eine Historie als Kampfhund – vor zumeist Hunderten Jahren wurden sie für Kämpfe gegen Artgenossen eingesetzt.

Dichte Datenlage.
Welche Hunde heute zur Gefahr werden, zeigen die Statistiken eindrucksvoll:
• Das Land Oberösterreich mit seinen besonders detailliert dokumentierten Daten weist – in schönem Gleichklang mit vielen Kommunen in Deutschland und bundesweiten Schweizer Statistiken – in der „Hundebiss-Statistik 2009“ den Schäfer als Hauptübeltäter aus: Von den 323 angezeigten ­Bissen des Vorjahrs waren 69 dieser Rasse zuzuschreiben. Die meisten Bisse gingen in den Unter- und Oberschenkel sowie in die Hand respektive die Finger. 70 Prozent der Wunden waren als leicht, acht Prozent als schwer einzustufen.
• Eine der umfassendsten Studien über Hundebisse bei Kindern unter 17 Jahren führten Forscher um Johannes Schalamon an der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie durch. Die im Fachblatt „Pediatrics“ publizierte Arbeit kommt ebenfalls zum Schluss, dass der Schäfer der bissfreudigste Hund ist, gefolgt von Dobermann, Spitz und Pekingese. In einer Folgearbeit will Schalamon die Rolle der so genannten „Kampfhunde“ untersuchen. „Die Daten sind noch nicht veröffentlicht“, so Schalamon. „Wir wissen aber, dass diese Hunde selten beißen, aber wenn, dann heftig.“
• Auch in einer großen Zusammenschau am Münchner Institut für Tierschutz, Verhaltenskunde und Tierhygiene, die zahlreiche Statistiken über behördliche Interventionen wegen aggressiver Hunde gegenüberstellte, rangierte stets der Schäfer ganz vorn, dahinter kamen Dobermann, Rottweiler, Doggen sowie diverse Terrier-Rassen.
• An der Tierärztlichen Hochschule Hannover wurde das Aggressionspotenzial von den als „Kampfhunde“ titulierten Rassen wie American Staffordshire Terrier und Pitbull jenem anderer Hunde wie Golden Retriever gegenübergestellt. Resultat: Es konnte „kein signifikanter Unterschied im Auftreten von inadäquat aggressivem Verhalten festgestellt“ werden. „Die Gefährlichkeit eines Hundes ist nicht rasseabhängig, sondern hängt allein vom Besitzer ab“, sagt Instituts­chef Hansjoachim Hackbarth. „Deswegen fokussieren unsere neueren Studien auch auf die Hund-Halter-Beziehung.“

Und nicht zuletzt deshalb gilt die Erstellung von Rassenlisten als obsolet – inzwischen auch in Deutschland, wo man damit bereits ein Jahrzehnt Erfahrung hat: Nachdem 2000 in Hamburg ein Kind von zwei Pitbulls getötet worden war, wurden rigide Regelungen beschlossen, in Ländern wie Hessen wurden Hunderte Hunde von Amts wegen getötet. Nun erfolgt eine teilweise Abkehr: In der aktuellen Koalititionsvereinbarung für Schleswig-Holstein zwischen CDU und FDP wird festgehalten, dass sich „die Rasseliste als nicht geeignet erwiesen hat“ und daher „abgeschafft“ werde. Ähnlich in Niedersachsen, so Hackbarth: „Bei uns gibt es keine Rassenliste mehr. Es wird rasseunabhängig der gefährliche Hund definiert, der dann bestimmten Auflagen unterliegt.“

Die deutsche Tiermedizinerin Jutta Etscheidt verfasste bereits 2001 ein Kompendium, in dem sie die Regeln in den deutschen Ländern analysierte. „Meiner Meinung nach war das alles absolut sinnlos, ein Riesenaufwand für nichts“, so Etscheidt. Dass man in Wien nun mit einem Jahrzehnt Verspätung einen ähnlichen Weg einschlage, hält sie für absurd: „Nicht zu fassen.“

Ulli Simas Vorgangsweise wird verständlicher, wenn man die wohl wahre Intention kennt: Man ziele nicht zuletzt „auf bestimmte Personengruppen“, so Sima, welche wiederum spezielle Rassen hielten, deren „Bisskraft eben viel mehr anrichten kann. Diese Leute nehmen sich keinen Pekingesen.“ Unbestritten: Es gibt Stadtviertel, etwa im 15. und 16. Bezirk, in denen Menschen, die weiße Ruderleibchen, Trainingsanzüge sowie klobigen Goldschmuck bevorzugen und mitunter durch eher nicht gesellschaftskonformes Benehmen auffallen, mit Staffords oder Pitbulls die Gegend unsicher machen.

Kein vernünftiger Kenner der Materie sträubt sich dagegen, das Unwesen dieser Herrschaften einzudämmen. „Es besteht ja wohl Einigkeit darin, dass man die Gesellschaft vor Menschen schützen muss, die ihre Hunde zu Killermaschinen machen“, sagt „Wuff“-Herausgeber Mosser. Freilich gibt es dazu bestehende Gesetze – Paragrafen des Strafgesetzbuchs wie auch Bestimmungen, welche Haltungsverbote ermöglichen. Zudem empfiehlt etwa Petrovic begleitende Maßnahmen: Warum nicht, wie im Straßenverkehr, eine Art Punkteführerschein? Bei groben Verstößen, so die Idee, sofortige Abnahme des Hundes, bei kleineren Vergehen könnte dies ab einer gewissen Punktezahl erfolgen. Überdies müsse der Import oft zu junger und mäßig sozialisierter Tiere im Ansatz verhindert werden, die dann just in die einschlägigen Kreise gelangen. Petrovic berichtet von ehemaligen Schweinefarmen in Osteuropa, in denen mehr als 1000 Zuchthündinnen in Käfigen gehalten würden – allein zum Zwecke der Produktion möglichst vieler Welpen und zu deren Vertrieb über das Internet. Und schließlich seien die problematischen Personen oft in Fachkreisen wie unter Tierärzten namentlich bekannt: etwa aufgrund der Verarztung häufiger Biss­verletzungen. Entsprechenden Meldungen müsse eben nachgegangen werden.

Soll man aber wegen eines mehr oder minder klar definierten Problems der ganzen Stadt den Hundeführschein aufzwingen? Ja, meint Sima: „Mit bestehenden Gesetzen war dem nicht beizukommen. Manche Dinge muss man eben selbst in die Hand nehmen.“ Die längerfristige Hoffnung sei, dass sich „diese Leute solche Hunde gar nicht mehr nehmen“. Deshalb sei die Regelung „gut durchdacht“ und keinesfalls ein „populistischer Schnellschuss“.

Mit einem generellen Bedrohungsszenario durch Hunde hat dies dennoch wenig zu tun, weshalb es der Stadt auch schwerfällt, die Maßnahmen auf ein faktisches Fundament zu setzen. So wurde verkündet, der Hundeführschein basiere unter anderem darauf, dass die Hunde auf der Liste – bei einem Populationsanteil von knapp fünf Prozent – für annähernd 25 Prozent aller Bisse verantwortlich seien. profil bat um Einsicht in die entsprechenden Statistiken, um eine detaillierte Aufschlüsselung der konkreten Rassen sowie um Aufklärung, auf welche Rassen die übrigen 75 Prozent der Bisse entfallen. Doch mehr als die Auskunft, dass die Daten von der Magistratsabteilung 60 stammen und „in Kooperation mit der Polizei“ erstellt worden seien, war nicht zu erhalten. Ebenso wurde stets behauptet, die Liste der mit dem Führschein belegten Hunde sei „von ExpertInnen ausgearbeitet“ worden. Auf mehrfache profil-Anfrage wurde nicht ein einziger Experte genannt.

Ominöse Rassenliste. Kein namhafter Fachmann befürwortet diese Liste. Die Wahrheit dahinter ist: Sie tauchte 1992 in Bayern auf, wobei die Bayern sie aus Baden-Württemberg abgekupfert hatten – wo sie jedoch mangels Relevanz bereits wieder schubladisiert worden war. Dennoch geistert das Papier seit damals mit leichten Adaptionen durch die Lande.

Hinzu kommt die Frage der Administrierbarkeit:
Was, wenn jemand die Prüfung zweimal nicht besteht? Dann müsste der Hund behördlich abgenommen werden. Wohin kommt er dann? Ins Tierschutzhaus, sagt Sima. Petrovic sagt: „Wir lassen jetzt die Rechtsgrundlage prüfen. Die Stadt kann nicht ihre Regeln zulasten Dritter durchsetzen.“ Was, wenn bei Berufstätigen bisher der Pensionist von nebenan oder die 15-jährige Tochter den Hund ausführte? Ab sofort verboten, weil jeder den Führschein haben muss, der mit dem Hund geht, und die Prüfung ein Mindestalter von 16 Jahren verlangt. Was, wenn das Amt einen Hund gegen die Meinung des Besitzers als „Kampfhundmischling“ einstuft? Dann muss der Besitzer beweisen, dass dem nicht so ist. Wie denn? Mittels DNA-Probe?

Und wer soll den Hundeführschein überprüfen? Just jene Behörden, die nach Simas Meinung bisher säumig waren? Die Polizei winkte bereits vergangene Woche ab: Schwerpunktkontrollen seien nicht vorgesehen, zudem sähen sich die Beamten nicht in der Lage, einzelne Hunderassen zu klassifizieren. Ähnlich in Niederösterreich: Im Jänner wies das Bundeskanzleramt die Landesregierung darauf hin, dass es unmöglich sei, „alle Polizeibediensteten laufend im Erkennen der angeführten Hunderassen und deren Kreuzungen zu schulen“. Überdies wird durch den nunmehrigen Zuwachs an Regelungen die Rechtslage in den einzelnen Bundesländern noch ein wenig unübersichtlicher: Während Wien und Niederösterreich ihre – noch dazu voneinander abweichenden – Listen mit Hundetypen verwenden und Vorarlberg ein ähnliches Papier erstellt hat, ist in Oberösterreich ein Einführungskurs für Hundehalter vorgesehen. In vielen weiteren Ländern haben die Gemeinden individuell zu entscheiden, welche Hundebesitzer sie mit welchen Maßnahmen an die Leine nehmen.
Dabei begibt man sich in der aktuellen Debatte der Chance, die Koexistenz mit Hunden tatsächlich zu verbessern – mit dem allerersten Haustier, das seit mindestens 15.000 Jahren an der Seite des Homo sapiens lebt. Seit die Wissenschaft den Canis familiaris vermehrt beforscht (siehe Kasten „Hunde-Kunde“, Seite 96), weiß man, dass kein Tier besser mit dem Menschen kommuniziert als der Hund, dass die Fähigkeit zum Verständnis humaner Mimik und Gestik schon im Erbgut des Hundes verankert ist – und auch, dass der Kontakt zu Hunden positiv für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern ist.

Weil der Hund zugleich nun mal ein Tier mit einem speziellen, normierten Verhaltensrepertoire ist, zu dem auch die Aggression zählt, halten die meisten Experten eine Art „Führschein“ für absolut sinnvoll, freilich im Sinne von Schulungen in Verhaltenskunde und unabhängig von der Rasse – um das Tier selbst besser zu verstehen sowie gefährliche Situationen zu vermeiden. Und schließlich haben auch Menschen, welche die kläffenden Vierbeiner nicht mögen, ein Recht darauf, auch von harmlosen Hunden nicht belästigt zu werden.

Bei entsprechendem modernem Unterricht wüssten die Besitzer dann, dass ihr Liebling über vier Strategien verfügt, um sein Unbehagen auszudrücken: Erstarren, Flüchten, Drohen und die „Übersprungshandlung“ – dies wäre im Fall einer Bedrohung etwa eine Spielaufforderung, um die Situation zu entschärfen. Die Menschen wüssten weiters, dass Aggression noch keinen Angriff darstellt, sondern den Versuch, einen Feind auf Distanz zu halten respektive eine Gefahr abzuwenden. Erst wenn das nicht funktioniert (im Falle vieler Besitzer: sämtliche Signale missverstanden oder ­ignoriert werden), verfügt der Hund als letztes Mittel über seine Zähne. Und tatsächlich können viele Halter die Gesten ihres Hundes nicht interpretieren: Sie haben keine Ahnung, dass nicht nur gebleckte Zähne, sondern auch die Körperspannung und Ohrenhaltung Aggression verraten können; erkennen frontales Zugehen oder Anstarren nicht als Ausdruck der Aggression.

Dann beginnt der Teufelskreis: Weil vom Halter unverstanden, würden Hunde „dazu gedrängt, massiver zu werden“, erläutert die Münchner Tiermedizinerin Renate Jones-Baade, die sich seit Jahren mit dem Thema Aggression befasst. „Für den Besitzer wird oft erst klar, dass überhaupt etwas im Gang ist, wenn aus Blicken schon ein Knurren oder gar Schnappen geworden ist.“ Dann etwas zu reparieren ist schwierig, weil der Mensch fast nur noch alles falsch machen kann: Straft er den Hund, verbindet dieser mit der jeweiligen Situation eine negative Assoziation – und verstärkt sein Verhalten. Versucht der Mensch hingegen, sein Tier mit sanften Worten zu beruhigen, kann die Aggression unter Umständen damit gleichsam belohnt und das unerwünschte Benehmen erst recht verstärkt werden.

Täterprofil.
Daher wäre es sinnvoll, Hundehalter rechtzeitig und durchaus verpflichtend zu schulen – und sich zugleich auf die wahren Gefahrenherde zu konzentrieren. Es handelt sich tendenziell nicht um ein urbanes, sondern um ein ländliches Problem, nicht um eines des öffentlichen Raums, sondern des privaten Umfelds. Der potenziell gefährliche Hund ist ein eher junger Rüde, der in einem Garten lebt, nicht selten im Freien in einer Hundehütte, und seine Opfer sind häufig Bekannte oder Familienmitglieder – allzu oft Kinder. Letztlich spielen auch die Rassen eine Rolle, wie jene Daten zeigen, in denen immer wieder Schäfer, Rottweiler, Dobermann sowie Mischlinge an oberster Stelle der Bisslisten stehen. Allerdings: Gerade Kinder werden häufig von kleinen Hunden angefallen. Beispielsweise ist der niedlich aussehende Jack Russell Terrier oft problematisch, sagt Ethologin Karin Bayer. „Der wurde ursprünglich gegen Ratten eingesetzt“, so Bayer. „Helle Töne wie Kinderkreischen können diesen Hund daher schnell in Aufregung versetzen.“

Hans Mosser wertete mehr als zwei Dutzend Studien zu dem Thema aus und fasste die Eckdaten zusammen. Ergebnis: In fast 80 Prozent der Zwischenfälle war der Hund dem kindlichen Unfallopfer bekannt, in 64 Prozent der Fälle biss der eigene Familienhund zu. Auch die Schweizer Datenerfasser konstatierten für das Jahr 2008, dass „Kinder überproportional von Unfällen mit Hunden betroffen“ sind. Das Risiko für Kinder liege „rund ein Drittel höher als für Erwachsene“. Zudem: „Fast die Hälfte der Vorfälle geschah beim Hund zu Hause.“

Auch die gravierenden Unfälle der jüngeren Vergangenheit dokumentieren diese Problemzonen: Im Februar töteten zwei Rottweilerrüden im Bezirk Gänserndorf eine 78-Jährige am eigenen Grundstück – Besitzer der Tiere war der Sohn der Frau. Ebenfalls im Februar biss in Vorarlberg ein American Stafford ein vierjähriges Mädchen in der elterlichen Küche ins Gesicht. Besonderes Aufsehen erregte im Vorjahr der Fall jenes Rottweilers eines Diensthundeführers, der das kleine Kind des Mannes am eigenen Grundstück totbiss. Und zu Beginn des ­Vorjahrs fiel in Leibnitz ein Rottweiler eine Familie in deren Wohnung an – es handelte sich um den Nachbarshund.

Ist es wirklich möglich, dass der bislang völlig verträgliche Hund von einer Sekunde zur nächsten zur reißenden Bestie wird? Bei manchen Todesfällen ist zwar schwer zu rekonstruieren, was vorgefallen ist, doch praktisch immer, sagt Tiermedizinerin Jones-Baade, gibt es eine Vorgeschichte: „Die Frage ist, wie war die Aufzucht des Hundes, wie war das Verhältnis zu seinem Halter.“ Unter entsprechenden Voraussetzungen könne letztlich „ein kleiner Auslöser an einem ­bestimmten Tag genügen“, so Jones-Baade. „Ein Sturz oder Stolpern des Menschen oder Schmerzen beim Hund.“

Der Grazer Unfallmediziner Johannes Schalamon erhob für seine Studie unter gebissenen Kindern sogar im Detail, welche Aktivitäten den Verletzungen vorausgegangen waren: zumeist Spielen mit dem Hund (28 Prozent der Unfälle), Vorbeigehen am Tier (14 Prozent), Streicheln (zehn Prozent) sowie, weniger häufig, beispielsweise Füttern, mit dem Rad vorbeifahren, Stören beim Fressen. „Es gibt zuvor praktisch immer eine Interaktion“, sagt Schalamon. „Es ist sehr selten, dass das Kind in der Wiese mit den Blümchen spielt, und plötzlich beißt ein Hund.“ Er habe einen Fall gehabt, in dem das Kind mit den Fingern in der Nase des Hundes gebohrt habe. Umso wichtiger seien entsprechende Schulungen im Umgang mit Hunden sowie „das Bewusstsein, wo die Vorfälle wirklich passieren: nämlich in der Familie und in der Nachbarschaft“.

Dass diesen Zusammenhängen mit Maßnahmen wie dem Hundeführschein Rechnung getragen wird, ist ziemlich unwahrscheinlich. Mosser fürchtet gar, dass der Schuss teilweise nach hinten losgeht. Denn viele jener Personen, die ihre Tiere ganz bewusst benutzen, um zu provozieren oder andere einzuschüchtern, würden die Prüfung wohl locker bestehen. „Aber am psycho­pathischen Verhalten ändert das gar nichts“, so Mosser. „Im Gegenteil, das wird dann noch mit dem Karterl legitimiert.“

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft