Ein Mann für alle Jahreszeiten

Ein Mann für alle Jahreszeiten

Zeitgeschichte. War der frühere Bundespräsident Karl Renner ein wüster Antisemit?

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Rudolf Ramek kennen wohl nur echte Spezialisten. Dabei war der Christlichsoziale von November 1924 bis Oktober 1926 österreichischer Bundeskanzler und später auch noch kurz Zweiter Präsident des Nationalrats.

„Das jüdische Großkapital“
Der in seinen früheren Beruf zurückgekehrte Ex-Landeshauptmann von Salzburg, Franz Schausberger (er ist Professor für Zeitgeschichte), arbeitet seit geraumer Zeit an einer Biografie dieses vergessenen Politikers. Zu diesem Zweck vertiefte sich Schausberger im vergangenen Frühsommer in die Nationalratsprotokolle der Ramek-Jahre und stieß auf ein unglaubliches Zitat. War das tatsächlich der sozialdemokratische Abgeordnete und gewesene Staatskanzler Karl Renner, der da im November 1920 die an die Regierung gelangten Christlichsozialen drängte, „endlich die Judenfrage zu klären“? Was Schausberger bei seiner weiteren Suche zu Tage förderte, ist im neuen „Jahrbuch für Politik 2012“ nachzulesen. Seither reißt die Diskussion darüber nicht mehr ab, ob jener Teil der Wiener Ringstraße, an der das Parlament steht, weiterhin Dr.-Karl-Renner-Ring heißen kann.
Was der 1870 in Mähren geborene Jurist in den 1920er-Jahren im Nationalrat von sich gab, steht den antisemitischen Sagern des notorischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger nicht nach. Da wettert er gegen „das jüdische Großkapital“, die „jüdischen Schleichhändler“ und den „jüdischen Manchester-Kapitalismus“ und beschuldigt die ohnehin rabiat-judenfeindlichen Christlichsozialen unverzeihlicher Milde: „Während sie (die Juden; Anm.) in unserer Jugend noch bescheiden in der Leopoldstadt wohnten, haben sie jetzt Mariahilf und alle Bezirke überschwemmt, sie sind gediehen unter Ihrem glorreichen antisemitischen Regime.“

Im März 1921 forderte Renner vom ebenfalls offen antisemitischen Obmann der Christlichsozialen, Leopold Kunschak, nachdrücklich ein Amt, „das endlich das uralte Programm des Judenpogroms erfüllt, einen Spezialminister für Judenfragen, damit doch endlich gezeigt wird, dass Sie mit der Judenverfolgung ernst machen“.

Als im Herbst 1921 der Prälat Ignaz Seipel die Christlichsoziale Partei übernahm beschimpfte ihn Renner als „Judenliberalen in der Soutane“. Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise 1926 interpretierte Renner auch diese antisemitisch: „Alles wurde vernichtet, um den Seipelschen Gedanken der Verbindung des christlichen Bürgertums und der jüdischen Banken zu vollenden.“

Wie passten Renners Ausfälle zum Umstand, dass sowohl der kurz zuvor verstorbene Parteigründer Victor Adler, der sozialdemokratische Chefideologe Otto Bauer und viele Parteivorständler selbst Juden waren? Wie konnten Renners Genossen solche Reden dulden?

Das Judentum war für die „Assimilierten“ eine Religion, der sie sich nicht mehr zugehörig fühlten. Ihre Großeltern mochten noch in die Synagoge gegangen sein, die Koscher-Regeln und die jüdischen Feiertage eingehalten haben. Sozialisten wie Otto Bauer oder Bruno Kreisky verstanden sich nicht als Juden. Den Zionismus hielten sie für eine Verrücktheit: Warum sollten sie mit Menschen, die sie nicht kannten und mit denen sie nichts gemein hatten, einen Wüstenstrich im Orient besiedeln?

Viele Assimilierte waren denn auch höchst erstaunt, als sie von den Nazis abgeholt wurden. Sie kannten den katholischen Antisemitismus der Luegers und Kunschaks – der Rassen-Antisemitismus der Nazis, der den Familien bis ins dritte Glied nachschnüffelte, war ihnen fremd.

Antisemitischer Antikapitalismus
Renners Antisemitismus hatte wieder andere Wurzeln: Er verschmolz mit jenem verschwörungstheoretisch aufgeladenen Antikapitalismus, den sowohl die Linke wie auch die extreme Rechte pflegten, zu einem bösen Konglomerat. Nichts deutet darauf hin, dass Renner in jenen Jahren dem aufsteigenden Nationalsozialismus etwas abgewinnen konnte. Sein eigener Schwiegersohn Hans Deutsch, mit dem er sich gut verstand, war Jude. Schon 1931 warnte er: „Der eigentliche gefährliche Gegner, der noch nicht da ist, aber der Arbeiterklasse erwächst, ist der Nationalsozialismus.“ Als die österreichischen Sozialdemokraten nach Hitlers Machtübernahme 1933 den „Anschlussparagraphen“ aus ihrem Parteiprogramm strichen, fand das Renners Zustimmung: „Der Weg, den das Reich heute eingeschlagen hat, ist für Österreich auf keinen Fall gangbar.“

1918 waren alle Parteien für einen Anschluss an Deutschland gewesen – wenn auch aus verschiedenen Gründen. Bei den Konservativen und den Großdeutschen klang noch das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ nach, dem Napoleon erst etwas mehr als hundert Jahre zuvor den Garaus gemacht hatte – ein merkwürdiges Gebilde aus bis zu 350 Einzelstaaten, die ständig Krieg gegeneinander führten, den blutigsten davon 30 Jahre lang. Der Kaiser war formal der Chef, zu reden hatte er nichts, und das Reich war weder heilig noch römisch und in großen Teilen nicht einmal deutsch.

Die Sozialdemokraten hatten eher praktische Motive für einen Anschluss: In einem Kleinstaat wie Österreich ließ sich der Sozialismus nicht verwirklichen, das hatte man 1919 in den gescheiterten Kurzzeit-Räterepubliken Bayern und Ungarn gesehen. Bei manchen, wie etwa Renner, war aber auch das Deutschtum, der Gedanke an eine große Kulturnation, hellwach, der sich so oft – sichtlich auch bei Renner – mit der Ablehnung von Fremden paarte.

Wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme löste Dollfuß im März 1933 das Parlament auf. Dessen bisheriger Präsident Renner, 63, war nun Pensionist, seine Partei zerschlagen. Dennoch sprach er, als ehemaliger Präsident der österreichischen Delegation in Saint-Germain noch immer von Prominenz, 1937 beim französischen Botschafter in Wien und sogar beim französischen Außenminister vor, um die Westmächte um Hilfe gegen Hitler zu bitten. „Nazieinbruch bei der Jugend. Das ist zur Zeit unser ernstestes Problem“, schrieb er an Friedrich Adler, den Sohn des Parteigründers, in die Schweiz.

Mann der Stunde
Als am 12. März 1938 Nazi-Deutschland die Grenzbalken hob, hatte Renner bereits Zimmer für sich und seine Familie im Berliner Hotel Adlon gebucht, um von dort auszuwandern. In der entscheidenden Stunde fühlte er sich zu alt für die Flucht. Nur Schwiegersohn Hans Deutsch ging nach England.
Es wurde viel darüber gerätselt, warum Renner schon zwei Wochen später dem neuen Regime anbot, in einer Erklärung sein Ja zum Anschluss zu verkünden. Er habe damals versucht, Freunde, die in ­Dachau saßen, freizubekommen, erzählte Luise Renner nach dem Krieg.

Eine gnädige Lüge. Tatsächlich überwogen bei Renner die Freude über das große Deutschland und der naive Glaube, die Nazis würden ohnehin bald wieder weg sein. Schon zwei Wochen nach seiner freudigen Ja-Erklärung sprach er das in einem Interview mit der britischen „World Review“ klar aus: „Es schmerzt mich, als Demokrat einer Diktatur, als Kind eines humanen Jahrhunderts einem unfassbaren Rassenregime mich unterwerfen zu müssen. Aber Staaten bleiben und Systeme wechseln.“

Im April 1945 war Renner der Mann der Stunde. Ihn, an den sich Stalin noch aus seiner Wiener Zeit erinnerte, ließen die Sowjets eine Regierung bilden. Er war 75 Jahre alt. Die NS-Herrschaft dürfte ihn nicht sehr schockiert haben, obwohl so viele seiner Genossen ermordet worden waren. „Wenn die außenpolitischen Auswirkungen nicht gewesen wären, wäre mir der braune Faschismus lieber gewesen als der schwarze“, sagte der zweimalige Re­publiksgründer im Oktober 1945. Als Innenminister Oskar Helmer – auch er kein Freund der Juden – die Frage der Entschädigung für 1934 beschlagnahmtes sozialdemokratisches Eigentum aufwarf, donnerte Renner, es sei doch unverständlich „dass man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer für den Verlust entschädigt“, nicht aber eine so stolze Partei. „Dem unvorstellbaren Leidensweg der Juden stand Renner eher distanziert gegenüber“, schreibt Walter Rauscher in seiner 1995 erschienenen Renner-Biografie.

Nur die Deutschen mochte er jetzt nicht mehr. Als ihn der US-Geheimdienst OSS 1945 befragte, nannte er sie ein „unerträglich arrogantes, schlecht erzogenes, politisch naives und brutal intolerantes Volk“.

Darf Renner weiter einen Teil der Wiener Ringstraße behalten, obwohl Lueger den seinen los ist? Und was ist mit dem Renner-Institut, dem Renner-Preis und dem Renner-Denkmal? Am wahrscheinlichsten ist eine ergänzende Tafel, deutet der Kulturstadtrat im profil-Interview an. Als Text sollte man eine Renner-Definition Anton Pelinkas heranziehen: „Ein Mann für alle Jahreszeiten.“