Kernkraftwerke: Atomkraft, ja bitte?

Kernkraftwerke: Atomkraft, ja bitte? Wie gefährlich ist Nuklearenergie wirklich?

Die AKW-Branche wälzt gigantische Ausbaupläne

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Schnell war die Angst vor Kälte und Dunkelheit da: Kaum floss für einige Stunden weniger russisches Gas in den Westen, sorgte sich Deutschlands Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) schon um die Energieversorgung seines Landes: Was tun, wenn Russland den Gashahn ganz zudreht? Der Minister dachte laut nach: Man sollte jetzt „noch mal ganz neu überlegen“, ob die deutschen Atomkraftwerke nicht doch länger als geplant Strom produzieren sollten. Was Glos eigentlich sagen wollte: Deutschland darf seine Reaktoren nicht aufgeben.

Doch genau das, den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie, hatte die nun abgetretene rot-grüne Regierung im Jahr 2000 per Gesetz festgeschrieben. Bis zum Jahr 2023 müssen demnach alle 18 deutschen Reaktoren – zuständig für immerhin fast 30 Prozent der deutschen Stromproduktion – vom Netz genommen und verschrottet werden.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will diesen Weg ins Post-Atom-Zeitalter vorerst weiter verfolgen – ließ sie umgehend wissen, nachdem Glos seinen Testballon hatte steigen lassen. Doch wie lange sie diesen Kurs beibehalten wird, ist ungewiss. Schließlich ist die promovierte Physikerin eine überzeugte Atomkraftbefürworterin; noch während des Wahlkampfs im vergangenen Sommer hatte sie den Ausstieg aus dem Ausstieg versprochen. Nur aus Rücksichtnahme auf ihren Koalitionspartner SPD muss sie vorerst auf die Kehrtwende verzichten. Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vermutet, dass sie versuchen könnte, den roten Koalitionspartner für ein Atom-Revival zu gewinnen, indem sie auch die Alternativenergien kräftig fördert.

Ausstieg aus der Atomenergie oder Ausstieg vom Ausstieg? Merkels Richtungsentscheidung wird von Befürwortern und Gegnern der Atomenergie auf der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Denn die Zuspitzung in Deutschland kommt zu einem möglicherweise entscheidenden Zeitpunkt in der Geschichte der Kernenergie: Denkbar erscheint, dass die Atomkraft in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung verliert. Ebenso gut möglich wäre aber auch, dass schon bald ein noch nie da gewesener Atomboom losbricht. Merkels Entscheidung kommt in dieser Situation eine wichtige Signalwirkung zu.

Baustopp. Für ein Auslaufen der Atomära spricht die aktuelle Verfassung des Sektors: Mit den Unfällen von Three Mile Island in den USA und Tschernobyl in der Ukraine hat die Branche ihre Glaubwürdigkeit verloren. 15 Jahre lang wurde deshalb im Westen kein neuer Reaktor mehr in Betrieb genommen. Deutsche Konzerne, einst unter den führenden im Reaktorbau, haben sich angesichts der Flaute fast völlig aus dem Geschäft zurückgezogen oder sind von der französischen Konkurrenz geschluckt worden. Die Folge des Baustopps ist neben dem Niedergang der deutschen Atomforschung eine sich anbahnende Überalterung des Reaktorparks. Viele Meiler erreichen schon demnächst das Ende ihrer geplanten Lebenserwartung und sollten aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden (siehe Grafik auf Seite 85).

Dass die ausgemusterten Meiler allesamt durch neue Kernkraftwerke ersetzt werden, ist aus heutiger Sicht kaum zu erwarten. Denn die Atomenergie leidet weltweit immer noch unter ihrem schlechten Image, das hat auch eine im Dezember präsentierte Umfrage der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) gezeigt. Von 18.000 weltweit befragten Personen sprachen sich 59 Prozent gegen neue Reaktoren aus. Hartnäckiger Bürgerprotest ist schlecht fürs Geschäft, wie der mit 50,5 Prozent Nein-Stimmen knappe Ausgang der Volksbefragung über das österreichische AKW Zwentendorf 1978 gezeigt hat. Das fertig gestellte und bereits mit Brennstäben beladene Kraftwerk ging aufgrund weit verbreiteter, von militanten Atomgegnern geschürter Ängste nie in Betrieb. Auch die Anlagen im deutschen Wackersdorf und Kalkar scheiterten nicht zuletzt am Zorn der Atomgegner.

Noch schwerer wiegen wahrscheinlich wirtschaftliche Argumente: Schließlich dauert allein die Planungs- und Bewilligungsphase für ein neues Kraftwerk viele Jahre. Dann folgt eine enorm teure Bauphase. Anschließend muss der Meiler 20 Jahre laufen, bis er sich amortisiert hat und Gewinne einfährt. Zum Vergleich: Gaskraftwerke erwirtschaften ihre Investitionskosten schon nach fünf Jahren. „Es ist schwierig für neue Atomkraftwerke, im Wettbewerb mit Gas- oder Blockheizkraftwerken zu bestehen“, analysierten die Experten der durchaus atomfreundlichen Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) bereits 2002. Viele AKW-Betreiber werden sich bei der Modernisierung ihres Kraftwerksparks die neuerliche Investition in die umstrittene Technologie daher genau überlegen.

Aber bei steigenden Ölpreisen vermitteln die Manager der großen AKW-Unternehmen derzeit den Eindruck, als würde gerade ein neues Atomzeitalter anbrechen: Die Zukunft hätte „noch nie besser ausgesehen“, tönte im vergangenen September Dan Keuter von der amerikanischen Energy Nuclear. Auch bei der französischen Areva, dem größten Anbieter von Atomtechnologie, gibt man sich optimistisch: „Ich bin sicher, dass es eine Wiederbelebung der Branche gibt“, verkündete Areva-Chef Gillaume Vereda im vergangenen Sommer. „Wir müssen uns darauf vorbereiten – wir müssen 1000 Ingenieure einstellen.“

Derlei öffentlich vorgetragene Vorfreude hatte es in der Vergangenheit freilich schon öfter gegeben. Bereits 1991 registrierte die „New York Times“ einen „nuklearen Frühling“, der endlich wieder neue Aufträge für die darbende Atombranche bringen würde. Ein „Tauwetter der Kernenergie-Diskussion“ orteten im gleichen Jahr deutsche Netzbetreiber. Die deutsche Reaktor-Baufirma Kraftwerk Union kündigte prompt an, angesichts des bevorstehenden Aufschwungs ihre Mitarbeiterzahl aufstocken zu wollen.

Klimawandel. Das Schönreden der Lage gehört also offenbar zum Geschäft der Manager – doch diesmal könnte hinter der ostentativen Euphorie mehr stecken als bloß heiße Luft. Anzeichen für einen Klimawandel zugunsten der Atomkraft sind unübersehbar:

* Im westfinnischen Olkiluoto wird seit Kurzem an einem völlig neu konstruierten Europäischen Druckwasser-Reaktor (EPR) gebaut. Es ist dies das erste neue Atomprojekt in der westlichen Welt seit 15 Jahren. „Wir haben das Tor in eine neue Atomzukunft aufgestoßen“, sagen die Finnen. Ab 2009 soll der Meiler 1600 Megawatt ins finnische Netz einspeisen.

* In Frankreich wird die Errichtung von gleich zwei EPRs ab dem Jahr 2010 erwogen. Zuvor hatte es noch geheißen, das umfangreiche französische Atomprogramm sei abgeschlossen.

* Im vergangenen August hatte US-Präsident George Bush ein Energieprogramm verabschiedet, das AKW-Errichtern Vergünstigungen im Wert von sechs Milliarden Dollar und Erleichterungen in Haftungsfragen verspricht. Beides soll den seit 1978 gestoppten Ausbau der US-Atomkraft wieder in Schwung bringen. Bush will nicht zuletzt seine Vision vom „Freedom Fuel“ verwirklichen: Wasserstoff, mit hausgemachtem Atomstrom produziert, soll zukünftige Autoflotten antreiben und seinem Land Feldzüge in ölreiche Weltregionen ersparen.

* In Großbritannien forderte Premierminister Tony Blair vor drei Monaten eine „offene Diskussion“ über die Stromversorgung, auch an neue Atomkraftwerke solle dabei gedacht werden. Blairs Vorstoß kommt überraschend, schließlich gilt Großbritannien in Atomfragen als gebranntes Land: Der Staat muss seinen AKW-Betreibern unglaubliche 90 Milliarden Dollar zuschießen, damit die ihren Atommüll wegräumen können. Auch Blair drückt die Sorge vor einer Energieknappheit. Großbritannien bezieht heute 27 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken. Doch bis 2025 müssen fast alle Meiler aus Altersgründen vom Netz genommen werden. Würden sie durch Kohle- oder Gaskraftwerke ersetzt, könnte das Land seine Kioto-Ziele zur Treibhausgasreduktion nicht einhalten.

* Die schnell wachsenden Länder Asiens setzen massiv auf Atomkraft: Allein China wird in den kommenden Jahren 50 Milliarden Dollar ausgeben, damit sollen bis zu 30 neue Reaktoren entlang der Pazifikküste finanziert werden. Der Auftrag für dieses Ausbauprogramm ging im Herbst an ein Konsortium westlicher Firmen. In Indien wird derzeit an acht Kraftwerken gebaut. Südkorea plant acht Reaktoren, Japan sogar zwölf. Und die Atompläne des Iran lassen im Westen die Alarmglocken läuten (siehe dazu auch Seite 56).

Doch woher kommt der Optimismus, das neue Vertrauen der Staatschefs in die zuvor gemiedene Atomenergie? Sind die Opfer von Tschernobyl schon vergessen? Sind die Sicherheitsprobleme verdrängt, oder ist die Frage nach der Endlagerung des verstrahlten Atommülls etwa beantwortet? Zumindest in Österreich gilt Atomkraft nach wie vor als eine der größten Umweltsorgen – schließlich beruhen die grenznahen Reaktoren in Tschechien und in der Slowakei allesamt auf russischen Entwürfen.

Die desolatesten Schrottreaktoren müssen wegen ihrer Sicherheitsmängel auf Drängen der EU stillgelegt werden. So muss in spätestens zwei Jahren auch der zweite lettische Meiler vom Tschernobyl-Typ vom Netz gehen. Auch in Bohunice mussten zwei Uralt-Reaktoren abgeschaltet werden. Zum Ausgleich sollen dafür die beiden halb fertigen Reaktorblöcke 3 und 4 des AKWs Mohovce fertig gestellt werden.

Verbesserungsbedarf. Andere Anlagen, wie etwa jene im tschechischen Temelin, wurden mit westlicher Sicherheitstechnik nachgerüstet. Im vergangenen November übermittelte Österreich ein Expertengutachten über die einschlägigen Arbeiten an die tschechische Regierung. Fortschritte seien zwar gemacht worden, so der Tenor des Papiers, doch bestünde weiterhin Verbesserungsbedarf. „Wir haben darauf eine recht positive Antwort vom tschechischen Außenminister erhalten“, sagt Ernst Streeruwitz, zuständiger Sektionsleiter im Umweltministerium. Doch dabei scheint es vorerst zu bleiben.

Wolfgang Kromp vom Wiener Institut für Risikoforschung ist seit Jahren mit den Ost-Reaktoren befasst. Er setzt nur noch wenig Hoffnung in das Reaktor-Upgrading: „Die ursprünglichen Zusagen werden jetzt aus Kostengründen Schritt für Schritt zurückgenommen.“ Auf Hilfe aus Brüssel kann Österreich nicht hoffen. Denn dort sind Versuche, einen europaweit einheitlichen Modus zur Überprüfung der Reaktorsicherheit einzuführen, am Widerstand der großen Atomnationen im EU-Rat gescheitert. Wann die neue Kommission einen neuen Vorschlag vorlegt, ist nicht absehbar.

Doch nicht nur aus dem Osten, auch aus dem Westen wird die österreichische Atom-Insel der Seligen bedrängt: Die Schweizer wollen 100 Kilometer von der Vorarlberger Grenze bei Benken ein atomares Endlager 500 Meter tief in den Boden graben. Das weckt Ängste vor Verstrahlung in Österreich. Bundesräte aus dem Ländle warnen bereits vor eventuell langfristig geplanten neuen Reaktoren in der Schweiz.

In Ländern außerhalb des deutschen Sprachraumes, wo der Widerstand gegen die Nutzung der Kernenergie traditionell geringer ist als in Deutschland und Österreich, gelingen der Atomlobby dagegen immer neue Etappensiege um die Gunst der öffentlichen Meinung. Die Kernkraftwerker setzen stärker denn je auf Umweltschutz. Atomstrom sei sauber, so das Argument, weil bei seiner Produktion keine klimaverändernden Abgase ausgestoßen werden.

John Ritch ist Chef der Londoner World Nuclear Association (WNA), einer Organisation, die Lobbying für die Atomindustrie betreibt. Er versteht es, die Gefahren des Klimawandels noch drastischer zu formulieren, als selbst eingefleischte Umweltaktivisten: Ohne Klimaschutz stehe dem Planeten ein „katastrophaler Klimawandel“ bevor, „mit Wetterextremen, die die gesamte Zivilisation erschüttern können“. Ritch hat auch ein Gegenrezept parat: Die Welt kann vor dem Klimakollaps gerettet werden, wenn bis zum Ende des Jahrhunderts 5000 neue Atomreaktoren gebaut werden. Das würde bedeuten: Mehr als 90 Jahre lang müsste Woche für Woche irgendwo auf der Welt ein neuer Atommeiler ans Netz gehen.

Zwar fand der aberwitzige Vorschlag bisher kaum Anklang, doch die grundlegende Idee hat auch seriösere Anhänger. Atomkraft könnte zum Klimaschutz eingesetzt werden, bis neue, wirklich saubere Energieformen wie der Fusionsreaktor verfügbar wären. An der Entwicklung dieser Technologie wird unter Hochdruck gearbeitet (siehe Kasten Seite 88). „Ich bin kein großer Fan von Atomkraft“, sagt Sir David King, Tony Blairs wissenschaftlicher Chefberater. „Aber wir sollten neue Kernkraftwerke in Betracht ziehen, weil der Schutz des Weltklimas so wichtig ist.“

Grüne für AKWs. Selbst der britische Ökologe James Lovelock – ein Säulenheiliger der Umweltbewegung, seit er den Planeten Erde als lebendigen Organismus beschrieben hat – ließ sich vom Klima-Argument beeindrucken: „Nur eine unmittelbar verfügbare Energiequelle verursacht keinen Klimawandel – und das ist die Atomenergie“, so Lovelock vor wenigen Jahren zu seinen schockierten Anhängern. Nachsatz: „Ich fordere all meine Freunde in der Umweltbewegung auf, ihre Opposition gegen die Kernenergie aufzugeben.“

Atomkraft als Mittel zum angewandten Klimaschutz? Wird es – in Anlehnung an den alten Stickerslogan der Umweltszene – bald heißen: „Atomkraft, ja bitte“?

Lovelocks „Freunde in der Umweltbewegung“ sind nicht überzeugt, hartnäckig verweigern sie den geforderten Pro-Atom-Schulterschluss. „Von uns wird es sicher keine Zustimmung zu Atomkraftwerken geben“, stellt Ernst Mayer, Greenpeace-Energiesprecher klar. Denn, so Mayer, das Klima-Argument sei schlicht falsch. „Die Atomindustrie ist realistischerweise gar nicht in der Lage, einen messbaren Beitrag zum Klimaschutz zu erbringen.“

Experten des amerikanischen Natural Resources Defence Fund haben genau nachgerechnet. Um die Erwärmung der Erdatmosphäre bis zum Ende des Jahrhunderts um nur 0,2 Grad zu bremsen, müssten bis dahin weltweit 1200 neue Atomkraftwerke errichtet werden. Billiger wäre Klimaschutz zu haben, wenn die Energie effizienter genutzt würde. Bei einer Halbierung des Stromverbrauches könnte ganz Europa ausschließlich mit Strom aus Wasser, Wind, Sonne und Biomasse versorgt werden – das behauptet zumindest Greenpeace.

Atombefürworter orientieren sich an anderen Szenarien: Jahr für Jahr steigt der weltweite Stromverbrauch um bis zu zwei Prozent. Mit Windrädern allein sei dieser Energiehunger nicht zu stillen. Eine neue Generation von Atommeilern könnte diese Aufgabe dagegen bewältigen. Dank verbesserter Designs nutzen moderne Atomreaktoren den Uranbrennstoff effizienter, und sie sind sicherer als sämtliche heute betriebene Anlagen.

Zum Beispiel das aktuelle Kraftwerksmodell von Westinghouse, genannt AP1000: Bei diesem AKW-Typ sollen im Störfall automatisch Kontrollstäbe in den Reaktorkern stürzen, was die Kernspaltung sofort stoppen würde. Auch die Regulierung der Temperatur ist im Notfall sichergestellt: Die Kühlflüssigkeit wird allein durch den Temperaturunterschied zwischen dem heißen Reaktorkern und der kühlenden Außenwelt in Zirkulation gehalten. Der Lohn der Tüftelei: AP1000 kommt im Vergleich zu seinem Vorläufermodell mit 35 Prozent weniger Pumpen, 50 Prozent weniger Ventilen, 83 Prozent kürzeren Rohrleitungen und 85 Prozent weniger Schaltkabeln aus. Allein das könne das Unfallrisiko drastisch senken, versichern die Designer.

Der EPR, der derzeit in Finnland gebaut wird, gilt sogar als terrorsicher. „Der Reaktor würde sogar den Absturz eines Großraumflugzeuges überstehen“, sagt Helmuth Böck vom Atominstitut der Österreichischen Universitäten in Wien. Die Schöpfer des Meilers, ein deutsch-französisches Konsortium, hoffen mit diesem Argument den EPR auch in die USA verkaufen zu können.

Brennkugeln. Und in Südafrika wird bereits an einem Reaktor gebaut, der als inhärent sicher gilt; das bedeutet, er bleibt selbst nach schweren Pannen oder grober Fehlbedienung unter Kontrolle. Und das soll so funktionieren: Der Reaktor wird nicht mit Brennstäben, sondern mit 456.000 tennisballgroßen Kugeln befeuert. Jeder dieser Bälle enthält nur vier Prozent Uran. Steigt die Temperatur im Reaktor auf 1600 Grad, beginnt das in den Kugeln enthaltene Uran 238 von sich aus die atomare Kettenreaktion zu bremsen. Selbst beim völligen Versagen der Steuerung würde sich der Reaktor also nur kurzfristig überhitzen. Danach käme die Kettenreaktion mit naturgesetzlicher Zuverlässigkeit zum Stillstand, versprechen die Bauherren.

Selbst für die Endlagerung der hochgiftigen Abfälle zeichnen sich vereinzelt Lösungen ab: In Finnland soll gleich neben dem neuen EPR-Reaktor ein Stollen 500 Meter tief in den Granit gebohrt werden. Schwieriger gestaltet sich ein vergleichbares Unterfangen in den USA: Sieben Milliarden Dollar haben die Behörden bereits in die Planung des Endlagers Yucca Mountain gesteckt – eingelagert wurde aber bisher noch kein Gramm Abfall (siehe Kasten).

Ein alternativer Ausweg wäre es, den strahlenden Mist mit langsamen Neutronen zu beschießen, um ihn so zu „transmutieren“, ihn also weit gehend unschädlich zu machen. Der italienische Physiknobelpreisträger Carlo Rubbia ist überzeugt, bei diesem Prozess sogar noch Strom gewinnen zu können. Kleiner Haken bei dem verlockenden Konzept: Das „Rubbiatron“ genannte Konzept gilt derzeit noch als hoffnungslos unwirtschaftlich.

Sichere Kraftwerke, solide Endlager oder transmutierte Abfälle. Derlei idyllische Szenarien erinnern frappant an die Atomfantasien der sechziger und siebziger Jahre. Damals erlebte die Atomindustrie ihre Blüte, jährlich stieg die Stromproduktion aus immer neuen Atomkraftwerken um 30 Prozent. Auch Österreich wollte mitziehen, für den Standort Zwentendorf wurde ein 700 Megawatt starker Siedewasserreaktor geordert.

Doch selbst in diesen Boomzeiten zog die Atomkraft mehr Kritik auf sich als andere, ebenfalls riskante Großtechnologien. Bürger warnten vor gefährlicher Radioaktivität, vor nicht wieder gutzumachenden Umweltschäden, vor dem Super-GAU. Der Kampf gegen die Atomkraft wurde in Deutschland und Österreich zur Keimzelle der modernen Umweltbewegungen.

Die Atombetreiber hatten versichert, ein schwerer Atomunfall wäre dank ausgefeilter Sicherungstechniken nur alle 10.000 Jahre zu befürchten.

Doch schon 1979 ergossen sich im Block 2 des Kraftwerks Three Mile Island nahe dem amerikanischen Harrisburg 70 Prozent des Reaktorkerns als weiß glühender Sturzbach auf den Boden des Druckbehälters. Tausende Anrainer mussten fliehen, als sich im Druckbehälter Wasserstoff ansammelte – die befürchtete Explosion blieb jedoch wie durch ein Wunder aus. „10.000 Jahre – wie schnell doch die Zeit vergeht“, höhnten amerikanische Atomkraftgegner auf großen Transparenten. Als schließlich in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 – heuer sind es 20 Jahre her – Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine in die Luft flog, schien die Ära der Kernenergie endgültig vorbei zu sein.

Dennoch sind bis heute weltweit 441 Atommeiler in Betrieb, und sie liefern immerhin 16 Prozent des globalen Strombedarfs. Nimmt man nur die westlichen AKWs und sieht man vom potenziell gefährlichen Unfall von Harrisburg ab, dann ist die Bilanz durchaus positiv. Während Dammbrüche bei der Stromgewinnung aus Wasserkraft zigtausende Todesopfer forderten, kamen bei Störfällen in westlichen AKWs kaum Menschen zu Schaden.

Auch die sich ansonsten so ablehnend gebenden Österreicher decken heute zwischen zehn und 20 Prozent ihres Bedarfs mit Atomstrom. Kann darauf verzichtet werden? „In Zukunft wird es einen vernünftigen Mix von Energieformen geben müssen“, sagt Kraftwerksphysiker Helmuth Böck. „Da haben Kernkraftwerke ebenso einen Platz wie Windräder.“

Wovon es am Ende mehr geben wird, ist allerdings noch nicht absehbar.

Von Gottfried Derka