Kriminalfall: Die unendliche Geschichte

Natascha Kampusch: Ein Jahr frei & auf der Flucht

Drucken

Schriftgröße

Die Thujenhecke vor dem Haus ist an manchen Stellen braun geworden und müsste wieder einmal geschnitten werden. In einer Ecke neben dem Garagentor hat der Wind ein Häufchen Laub zusammengetragen. Der Rasen ist in der Sommerhitze verdorrt, überlebt hat nur das Unkraut. Das Haus in der Heinestraße 60 in Strasshof sieht aus, als wären seine Bewohner ein paar Wochen länger als geplant im Urlaub geblieben: nicht heruntergekommen, nur ein bisschen vernachlässigt.

Wenn die Besitzer wieder daheim sind, werden sie die Rollos an den Fenstern öffnen, den Garten sprengen, die Postwurfsendungen im Briefkasten zum Altpapier tragen und die vielen kleinen Spuren der Zeit in ein paar Stunden beheben. Der Fuhrpark wird wenig Arbeit machen, die Autos scheinen fahrbereit: In einem Holzschuppen hinter dem Haus steht der weiße Kleintransporter, daneben parkt der rote BMW. Aus einigen Metern Entfernung wirkt der Sportwagen wie frisch geputzt; wahrscheinlich hat ein Gewitterregen erst neulich den Staub vom Lack gespült.

Doch in die Heinestraße 60 wird wahrscheinlich nie wieder jemand einziehen. Seit fast einem Jahr steht das große, blassgelbe Haus leer. Es war Schauplatz eines der schlimmsten Verbrechen in der österreichischen Kriminalgeschichte. „Horrorhaus“ nannte es der Boulevard – und das war nicht einmal eine Übertreibung. Achteinhalb Jahre lang hatte der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil hier in einem Kellerverlies ein junges Mädchen gefangen gehalten. Als sie im März 1998 auf dem Schulweg verschwand, war Natascha Kampusch zehn Jahre alt, als ihr am 23. August des Vorjahres die Flucht gelang, war sie 18. Das Bild der blassen Frau im orangen Kleid, Gesicht und Oberkörper unter einer blauen Decke versteckt, war die Sensation des Sommers 2006. Polizei und Öffentlichkeit hatten Kampusch längst für tot gehalten. Nur wenige Tage vorher war wieder einmal nach ihrer Leiche gesucht worden.

Marke Natascha. Medien aus der ganzen Welt rissen sich um Fotos von Natascha Kampusch und Interviews mit ihr. Vor dem Haus in der Heinestraße drängten sich Reporter und hofften, einen Blick auf das Gefängnis im Keller werfen zu können. Für Exklusivmaterial wurden sechs-, in Einzelfällen sogar siebenstellige Eurosummen geboten. Innerhalb weniger Tage wurde aus dem tragischen Schicksal einer jungen Frau ein Millionengeschäft und aus ihrer Geschichte eine Marke.

Die meisten Ereignisse verblassen mit dem Abstand von zwölf Monaten. Der Fall Kampusch dagegen überstrahlt noch immer alle anderen Kriminalgeschichten. Kurz vor dem Jahrestag sind die Zeitungen wieder voll mit Berichten zur Causa. Mitschuld daran ist ein Buch, das Brigitta Sirny-Kampusch, die Mutter des Mädchens, geschrieben hat. „Verzweifelte Jahre. Mein Leben ohne Natascha“ kommt in einer Erstauflage von 50.000 Stück auf den Markt und gilt als programmierter Bestseller. Zur Buchpräsentation war überraschend auch die Tochter erschienen. Natascha Kampusch saß in der letzten Reihe, trug eine große Sonnenbrille und einen weißen Fächer und sagte kein Wort. Sie habe mit diesem Auftritt ihre Mutter unterstützen wollen, hieß es anschließend.

Anders als bei den meisten heimischen Publikationen musste der Ueberreuter Verlag nicht um jede Zeile Vorabdruck in den Medien froh sein, sondern konnte zwischen mehreren zahlungswilligen Interessenten wählen. Das Rennen machten die „Kronen Zeitung“, die deutsche „Bild“ und der Schweizer „Sonntagsblick“. Verlagsgeschäftsführer Fritz Panzer wollte keine Beträge nennen und sprach lediglich von „üblichen Honoraren, die der Größe der Zeitungen angemessen waren“.

Natascha Kampusch wird in einer ORF-Dokumentation am 20. August zu sehen sein. Für den Beitrag verbrachte sie kürzlich sechs Tage mit „Thema“-Moderator Christoph Feurstein in Barcelona, ließ sich beim U-Bahn-Fahren in Wien filmen und gab ein ausführliches Interview. Das Angebot dazu sei von Kampusch selbst gekommen, sagt Feurstein: „Sie will den Rummel um ihren Jahrestag auf diese Weise abfangen.“ Um weitere Stellungnahmen der jungen Frau wird derzeit auf dem Zeitungsmarkt gefeilscht. Kampuschs Anwalt Gerald Ganzger, dessen Kanzlei außerdem die Illustrierte „News“ vertritt, sieht sich außerstande, einen Zwischenstand anzugeben. Ob – und wenn ja, wo – seine Mandantin Rede und Antwort stehen werde, falle unter die anwaltliche Schweigepflicht. Ebenso wie die Frage, ob künftige Gespräche mit dem Entführungsopfer erstmals gratis sein werden.

Wenige Stunden nachdem sein Opfer geflohen war, beging Wolfgang Priklopil Selbstmord. Das ersparte Natascha Kampusch die Aussage in einem Gerichtsprozess und die Preisgabe vieler wahrscheinlich schrecklicher Details. Doch der Tod des Entführers erhöhte auf der anderen Seite auch den öffentlichen Druck auf die junge Frau. Sie ist der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit jener achteinhalb Jahre kennt. Und viele Rätsel dieses beispiellosen Falls sind heute so ungelöst wie vor einem Jahr. Kampusch hat zwar ein paar Interviews gegeben, sie sprach über den Tag der Entführung, sie erzählte von der Angst im Verlies, von der Aggressivität ihres Peinigers, aber auch von einer Art Alltag, der sich mit der Zeit in der Heinestraße etablierte. Nach anfänglichem Leugnen bestätigte sie sogar, was das deutsche Magazin „Stern“ enthüllt hatte: Ja, sie war tatsächlich einmal mit Priklopil Ski fahren gewesen.

Doch viele Fragen blieben unbeantwortet – oder wurden erst gar nicht gestellt. Natascha Kampusch war sofort von einem Team aus Beratern, Psychiatern und Anwälten umgeben. Ihre öffentlichen Auftritte erinnerten an durchdesignte Imagekampagnen von Politikern im Wahlkampf. Es ging weniger um Wahrheit als um Wirkung. Die Medien spielten mit: Themen außerhalb des von Kampuschs Anwälten und Beratern genehmigten Fragenkatalogs blieben tabu.

Privatsekretär. Am Montag der Vorwoche sitzt Dietmar Ecker im Wiener Café Bräunerhof, trinkt einen kleinen Braunen und ist heilfroh, dass er mit dem neuerlichen Trubel um den Jahrestag nichts mehr zu tun hat. Ecker betreute Natascha Kampusch in den ersten drei Wochen nach ihrer Flucht als Medienberater. Dann zog er sich zurück, „weil ich nicht zwölf Stunden täglich Privatsekretär spielen kann“. Die Erfahrungen aus seinem Kurzeinsatz waren allerdings prägend: „Ich habe damals verstanden, wie die Amerikaner ihre Kriege medial vorbereiten“, sagt Ecker. „Es gibt Geschichten, bei denen selbst in Qualitätsmedien die Reflexionsphase ausbleibt. In dieser Zeit kann man ihnen alles reindrücken.“ Seinen eigenen Job sieht er differenziert: „Bei so einer Sache kannst du zugleich alles richtig und alles falsch machen. Ich habe sicher schwere Grenzüberschreitungen begangen. Aber unter diesen Umständen stehe ich dazu.“

Das Kampusch-Beraterteam entschied damals, die ersten Interviews mit Natascha Kampusch an den ORF, die „Kronen Zeitung“ und „News“ zu vergeben. Der ORF bezahlte dafür nichts, verpflichtete sich aber, die Erlöse aus dem Weiterverkauf an Kampusch zu überweisen. „Krone“ und „News“ boten darüber hinaus einen Job und eine Wohnung für das Opfer. Aus Großbritannien hätte es einige deutlich höhere Angebote gegeben, aber das Österreich-Paket versprach strategische Vorteile. „Mir war klar, dass die österreichischen Massenmedien dabei sein mussten. Sonst hätten sie irgendwann gegen uns gearbeitet. Und das Mädl muss ja in Wien auf die Straße gehen können“, sagt Ecker.

Vor dem ersten ORF-Interview wurde Kampusch vom PR-Profi vier Stunden lang gecoacht. Während der Aufzeichnung saß er rechts vor ihr und gab Zeichen, wenn sie nicht weiter wusste: ja, nein, Thema wechseln. „News“ und „Kronen Zeitung“ mussten alle Fragen vorher von den Beratern absegnen lassen. Auch dabei erwies sich die österreichische Lösung als Vorteil, meint Ecker. „Mit einem Kollegen von der ,Sun‘ hätte ich das nicht zusammengebracht.“

Lob und Preise. So schief saßen damals die Maßstäbe, dass „News“ für die erste Kampusch-Coverstory – eine wenig zimperliche, aber gut recherchierte Chronikgeschichte – österreichweit kritisiert wurde, während die glattgebügelten Interviews gelobt und teilweise mit Preisen ausgezeichnet wurden.

So mancher hielt dem enormen Druck nicht stand. Der Wiener Rechtsanwalt Günter Harrich, der von der Opferorganisation Weißer Ring mit der Vertretung von Kampusch betraut worden war, gab nach zwei Wochen auf. Er habe schon morgens um 7 Uhr an die 40 Anrufe auf der Mailbox gehabt, erzählt Harrich. „Einmal hab ich beim Zähenputzen dummerweise das Telefon abgenommen, und es wurde mir erklärt, dass ich gerade ein Live-Interview gebe.“ Ein paar Tage nach der Übernahme des Mandats sei er von der Rechtsanwaltskammer gewarnt worden: „Pass auf, den Fall hätten andere auch gerne.“ Tatsächlich stand Harrich bald darauf persönlich in der Kritik, weil er – als Verfahrenshelfer – zwei Kinderpornografen vertreten hatte und außerdem Anwalt der Adoptivmutter eines misshandelten Kindes gewesen war. Eine Causa dieser Größenordnung würde er heute nicht mehr übernehmen, sagt er: „Bei Fällen, die so viel Aufmerksamkeit bekommen, wird meistens die Wahrheit verbogen.“

Das Mandat ging an die Kanzlei Lansky, Ganzger & Partner, die sofort rigoros gegen allzu freizügige Berichterstattung vorging. Geklagt wurde unter anderem die britische Tageszeitung „Daily Mail“, die Natascha Kampusch als „sex slave“ bezeichnet hatte. Derzeit noch anhängig ist ein Verfahren gegen das Gratisblatt „Heute“ und die deutsche Tageszeitung „Bild“, die Paparazzi-Fotos von Kampusch und einem jungen Mann in einem Szenelokal – samt einschlägiger Interpretation – veröffentlicht hatten. Im Prinzip war die Strategie der Anwälte erfolgreich: Gemessen an ihrer Berühmtheit lebt Natascha Kampusch heute relativ unbehelligt.

Doch die Grenzen zwischen gesunder Härte und Kontrollwut sind fließend. Stefan Bachleitner, der von Oktober 2006 bis Ende Juni dieses Jahres als offizieller Medienbetreuer fungierte, musste schon bei Vertragsabschluss mit den Anwälten einer offiziellen Sprachregelung für den Tag seines Ausscheidens zustimmen. Fragt man ihn heute, warum sein Vertrag nicht verlängert wurde, spricht er von „vereinbarungsgemäßem Auslaufen“. Weitere Begründungen gebe es nicht: „Ich bin limitiert, was die Möglichkeiten der Verlautbarung betrifft.“

Der Fall Natascha Kampusch war weltweit einzigartig. Es gab und gibt bis heute keine Möglichkeit, die Aktivitäten im Umfeld objektiv zu beurteilen – einfach, weil die Vergleiche fehlen. Anfangs sei es vor allem darum gegangen, das Opfer möglichst positiv darzustellen, sagt Dietmar Ecker: „Da hast du nur die Wahl zwischen Gut oder Böse.“ Ein schlimmes Schicksal allein reicht erfahrungsgemäß nicht aus, um die Sympathie der Massen zu sichern. Mitgefühl gibt es dauerhaft nur für Opfer mit menschlichen Qualitäten.

Im Fall Natascha funktionierte das positive Branding zunächst sehr gut. Doch mitterweile hat die Begeisterung nachgelassen. Kritik gibt es etwa an dem Umstand, dass die von Kampusch angekündigte Foundation für verschleppte Frauen in Mexiko noch immer nicht gegründet wurde. Und das Gratisblatt „Heute“ startete im Rahmen der Berichterstattung über das Buch der Mutter eine gepflegte Kampagne gegen die Tochter. Auf der Leserbriefseite wird – häufig anonym – Dampf abgelassen. Natascha Kampusch möge „Österreich in Ruhe lassen“, heißt es da etwa. „Die Wahrheit würde Natascha Kampusch wahrscheinlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen“, vermutet ein Schreiber.

Der ORF-Redakteur Christoph Feurstein, der den Entführungsfall jahrelang journalistisch betreute und bis heute so etwas wie ein Vertrauter der jungen Frau ist, findet solche Kritik beschämend. „Welche Details müssen denn noch unbedingt raus, damit die Neugier befriedigt ist? Keiner hat das Recht, ihr Verhalten zu kritisieren, weil keiner so etwas erlebt hat“, sagt er (Kasten Seite 15).

Nicht alle aus dem einstigen Beraterteam sind heute glücklich mit dem Ergebnis. Udo Jesionek, Präsident des Weißen Rings, hatte Kampusch ursprünglich empfohlen, ihren Namen zu ändern und anonym ein neues Leben zu beginnen. „Die Anwälte wollten das nicht und haben ihr abgeraten.“ Gerald Ganzger steht zu dieser Entscheidung: „Diese Frau hatte nichts außer den Sachen, die sie am Körper trug. Man hat ihr acht Jahre gestohlen. Es war wichtig, ihre Existenz zu sichern.“

Geld, Aufmerksamkeit, Ruhm: Was Natascha Kampusch allein zugestanden wäre, wollen auch in ihrem Umfeld zu viele, als dass ein normales Leben für die heute 19-Jährige in absehbarer Zeit möglich wäre. Die Mutter betont zwar, ihr Buch diene lediglich der Aufarbeitung des eigenen Schicksals. Um die Tragik zu würzen, berichtet sie allerdings auch von den Marotten ihrer Tochter, deren „Befehlston“ und dem Modergeruch der Kleidung aus dem Verlies. Hauptsächlich ist das Buch jedoch eine Abrechnung mit dem Kinderpsychiater Max Friedrich, der ihre Tochter in Beschlag genommen habe, und mit Nataschas Vater Ludwig Koch.

Letztes Wort. Koch seinerseits wird in Medienfragen von einem gewissen Rupert Leutgeb betreut und lässt den Wiener Rechtsanwalt Alfred Boran derzeit prüfen, ob er gegen das Buch seiner Ex-Lebensgefährtin rechtlich vorgehen kann. „Ich werde da als Trinker dargestellt. Das lass ich mir nicht gefallen“, schimpft Koch. Er ist gerade von einer Nachtschicht als Bäcker heimgekommen und sitzt am Esstisch seines Hauses in Süßenbrunn bei Wien, vor sich ein paar kopierte Buchseiten. Alle Stellen, in denen er schlecht wegkommt, hat er angestrichen; es sind ziemlich viele. „Ich bin der Frau Sirny ja dankbar, dass sie mir das letzte Wort lässt“, sagt Koch. „Kann sein, dass ich auch noch ein Buch schreibe.“ Dann werde die Öffentlichkeit endlich Details über das Vorleben der Dame erfahren. Zwei Monate lang habe er Natascha schon nicht mehr gesehen. Auch das sei vermutlich die Schuld der Mutter.

Er zündet sich eine Zigarette an und denkt kurz nach. „Es ist traurig“, sagt er dann, „statt dass wir uns alle freuen, dass die Natascha wieder da ist, müssen wir uns mit solchen Sachen auseinandersetzen.“

Die Causa Kampusch sei für Österreich zu groß gewesen, meint Michael Leidig, Gründer der Nachrichtenagentur Central European News in Wien. Seine Berichte für die Online-Ausgabe der „Times“ hätten vor einem Jahr mehr Leser gehabt als zuvor die Storys über die Fußball-WM in Deutschland. Gemeinsam mit seinem Kollegen Allan Hall brachte Leidig im Dezember 2006 das Buch „Girl in the Cellar“ heraus, das allerdings in Österreich nie erschien. Die unautorisierte Biografie wurde nicht der erhoffte Weltbestseller. Schuld daran sei Ludwig Kochs Medienberater Leutgeb, der in Agentur-Interviews behauptete, die Aussagen des Kampusch-Vaters im Buch seien frei erfunden. Leidig und Hall klagten, eine einstweilige Verfügung wurde vor Kurzem bestätigt.

Koch und Leutgeb hätten das Buch vor ihren Dementis lesen sollen. Ein größerer Erfolg wäre durchaus in ihrem Sinne gewesen. Nataschas Mutter kommt darin verdammt schlecht weg.

Von Rosemarie Schwaiger
Mitarbeit: Josef Barth