Die Bildungsdebatte hat Züge eines Glaubenskriegs

Master of Desaster: Die Bildungsdebatte hat Züge eines Glaubenskriegs

Die Fakten über Forschungsausgaben, Bologna-Prozess, Akademikermangel

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David Campbell arbeitet am ­Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung der Uni Klagenfurt. An der Vergleichsstudie, die er in den Besprechungsraum geschleppt hat, könnte man sich fast einen Bruch heben. Nach wenigen Minuten ist der Tisch mit Tabellen und Grafiken übersät und das Kaffeehäferl darunter verschwunden.

Seit vier Wochen besetzen Studierende das Audimax in Wien. Sie kämpfen für bessere Studienbedingungen, mehr Geld, mehr Demokratie. Der hinhaltende Protest wirkte über die Grenzen hinweg ansteckend. Vergangenen Dienstag machten zehntausende Schüler und Studenten in mehr als 50 deutschen Städten ihrer Wut über das Bachelor-System, Studiengebühren und fehlende Mittel Luft. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) stellte Besserungen in Aussicht. In Österreich hingegen trägt die Debatte Züge eines Glaubenskriegs. Hier die wichtigsten Fakten.

Gibt Österreich zu wenig für Forschung aus?

Es sah düster aus, doch das ist drei Jahrzehnte her. Damals lag Österreich sowohl bei den Hochschulabsolventen als auch bei den Forschungsausgaben im hinteren OECD-Drittel. Ende der neunziger Jahre erreichte die heimische F&E1)-Quote den EU-Schnitt; inzwischen hat sie sogar USA-Niveau. Der EU-Beitritt machte es möglich: Unternehmen und Uni-Institute profitierten nach 1995 von Forschungsmitteln aus dem Ausland. Uniforscher Campbell geht jedoch davon aus, dass der Erfolg sich verflüchtigt, „wenn wir nicht den Weg in die Wissensgesellschaft einschlagen“. So müssten Universitäten zu Orten für lebenslanges Lernen werden. Elite-Unis wie Stanford oder Harvard erwirtschaften bereits 40 Prozent ihrer Budgets aus der Erwachsenenbildung und diversen „summer schools“. Außerdem müssten die mit Drittmitteln finanzierten Forscher stärker eingebunden werden. Campbell: „Die Unis der Zukunft haben durchlässige Grenzen, sie lassen hybride Bereiche zu, um die Vernetzung mit der Gesellschaft zu verbessern.“

Werden die Universitäten ausgehungert?

Im Jahr 2006 flossen 1,3 Prozent des BIP in die tertiäre Bildung; davon kamen 1,2 Prozent aus öffentlichen Töpfen, der Rest (0,1 Prozent) wurde privat aufgebracht. Das entspricht exakt dem EU-Durchschnitt. Misst sich das Land aber mit den Besten der Welt, wird der Abstand riesig: Die USA etwa geben mehr als doppelt so viel für tertiäre Bildung aus (2,9 Prozent), Kanada: 2,7 Prozent, Südkorea: 2,5 Prozent. Innerhalb Europas hüpfen Finnland und Schweden vor, dass man deutlich mehr investieren könnte. Österreich gelobte Besserung und will bis 2020 die Hochschulausgaben auf zwei Prozent des BIP hochschrauben. Geht das BIP wegen der Wirtschaftskrise zurück, besteht freilich die Gefahr, dass der Wert erreicht wird, ohne dass sich die Lage an den Unis bessert.

Sind Studiengebühren sinnvoll?

Der offene Zugang zu den Unis habe den Charakter einer „identitätsstiftenden Staatsdoktrin“, sagte Hochschulforscher Hans Pechar einmal. Dabei gibt es gute Argumente für Studiengebühren. Bezahlt wird das Gratisstudium von allen, profitiert hat davon bisher vor allem die gehobene Bildungsschicht, was einer Umverteilung von unten nach oben gleichkommt. Die 2001 von der schwarz-blauen Regierung eingeführten Studiengebühren flossen in den ersten beiden Jahren ins Budget, erst danach hatten auch die Universitäten etwas davon. Das machte die Studiengebühren zusätzlich unbeliebt. Ob die Unis unterm Strich mehr Mittel bekamen, ist für IHS-Forscher Martin Unger schwer zu beantworten: „Dazu müsste man wissen, was ihnen auf der anderen Seite weggenommen wurde.“ Knapp vor der Nationalratswahl 2008 wurden die Studiengebühren wieder abgeschafft. Bildungsexperten halten das Thema für künstlich hochgespielt. Der Staat müsse mehr machen, als einmal im Semester Erlagscheine verschicken. Gefordert werden: echte Innovationspolitik, Aus- und Weiterbildung in Unternehmen fördern, private Finanzierungsquellen anzapfen. Laut einer unveröffentlichten Studie des WIHO-Instituts erweisen sich Studiengebühren in der Praxis nicht als größte finanzielle Hürde für Studierende. Gravierender wirken sich Lebenshaltungskosten aus, etwa durch steigende Mieten. Hochschulforscher Campbell plädiert deshalb für staatliche Darlehen. Diese würden später über die Einkommensteuer zurückgezahlt. Wer wenig verdient, zahlt wenig zurück, steigt das Einkommen, zahlt man entsprechend mehr. Außerdem sollten Bildungsausgaben und Spenden an Bildungseinrichtungen steuerlich absetzbar sein.

Sind die heimischen Unis so schlecht, wie internationale Rankings behaupten?

Das Times Higher Education Ranking schreckte die akademische Welt auf. Die ersten Plätze belegen – wenig überraschend – Harvard, Yale (beide USA) und Cambridge (GB). Die beste heimische Hochschule, die Universität Wien, war vom 85. Platz im Jahr 2007 im Jahr darauf auf den 115. zurückgefallen; die Technische Universität rutschte um 78 Plätze auf den 244. Rang ab. Unter den 200 besten der Welt sticht die Uni Wien mit dem schlechtesten Betreuungsverhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden hervor (www.topuniversities.com). Kritiker stört an derartigen Rankings, dass die Reputation der Unis einfließt. Campbell vergleicht deshalb lieber die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Zitierungen. Die maßgeblichen Datenbanken – der Science Citation Index (SCI), der Social Science Citation Index (SSCI) und der Arts & Huma­nities Citation Index (A & HC) – stehen in Amerika. Fazit: In der Liste „Artikel pro hun­derttausend Einwohner“ rangiert Österreich gleichauf mit den USA und über dem EU-Schnitt. Nicht ganz so gut sieht es bei den Zitierungen aus. „Die bibliometrische Forschung zeigt, dass die heimische Forschung besser ist als ihr Ruf, aber – siehe Zitierungen – im Spitzenfeld Nachholbedarf hat“, resümiert Campbell.

Hat Österreich zu wenig Akademiker?

Da gibt es nichts zu beschönigen: Obwohl es in den vergangenen drei Jahrzehnten gelang, bei der Forschungsquote an die Welt­spitze anzuschließen, hat sich die Akademikerquote im gleichen Zeitraum nur marginal ver­bessert. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 28 Prozent; der ­EU-Schnitt beträgt 24 Prozent. Besonders negativ fällt Österreich im Generationenvergleich auf: 2007 hatten 18 Prozent der 25- bis 44-Jährigen einen tertiären Bildungsabschluss; bei den Jüngeren – 25 bis 34 Jahre – sah es mit 19 Prozent nicht viel besser aus. In den meisten Ländern gibt es unter den Jüngeren deutlich mehr ­Akademiker als unter den Älteren. Der Befund sei „erschreckend“, sagt Campbell. Vor allem klein- und mittelständische Unternehmen könnten nicht an internationale Forschungen andocken, wenn es an Akademikern fehlt. Die Gründe für den Missstand sind nicht ausreichend erforscht. Eine Erklärung liefert der dänische Soziologe Gosta Esping-Andersen, dem zufolge konservative Wohlfahrtsregime zwar Härtefälle des Lebens abfedern, aber – im Unterschied zu den universalistischen skandinavischen Modellen – gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren. Tatsächlich erreichen Kinder aus benachteiligten Familien in Österreich seltener einen akademischen Titel als Kinder aus sozial bessergestellten.

Ist der Bologna-Prozess schuld an der aktuellen Misere?

Im deutschsprachigen Raum kristallisierte sich das Modell der Universität als Ort freier Wissenschaft heraus. Der Staat sollte Forschung und Lehre ermöglichen, sich aber ansonsten heraushalten. Ende der neunziger Jahre einigten sich Deutschland und Frankreich, in einen gemein­samen Hochschulraum voranzuschreiten, immer mehr Länder schlossen sich an. 1999 unterzeichneten die EU-Staaten die Bologna-Deklaration. Bis 2010 soll die Bologna-Architektur überall umgesetzt sein; nächstes Jahr wird in Wien Bilanz gezogen. Kritiker monieren, man habe zu sehr auf wirtschaftliche Zwecke fokussiert. In den vergangenen Jahren begehrten Studierende in Frankreich, Deutschland, Griechenland und Spanien gegen die „Kommerzialisierung“ der höheren Bildung auf. Tatsächlich orientiert sich die Bologna-Architektur am angloamerikanischen Modell: In den USA wird seit jeher zwischen Undergraduate- und PHD-Bereich unterschieden; und neben Forschung und Lehre gab es immer auch „third mission activities“, sprich: eine stärkere Vernetzung mit der Gesellschaft. Durch Bologna sollten Studien kürzer, berufsbezogener und Abschlüsse international vergleichbar werden. „Doch in Österreich, Deutschland und der Schweiz wurde die Idee schlecht umgesetzt“, sagt IHS-Forscher Unger.

Universitäten nützten das Mobilitätsprojekt für ein kleingeistiges Sparprogramm „und steckten möglichst viele Studenten in billige Veranstaltungen.“ Die Folge waren eine Verschulung, gedrängte Curricula, die kaum noch ein Auslandssemester erlauben, und weiterhin überfüllte Hörsäle. Am Arbeitsmarkt wird der Bachelor bis heute kaum honoriert. Der erste verlässlich anerkannte akademische Grad blieb sein großer Bruder, der Master. Für die Universitäten heißt es nun, die Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen – neudeutsch: „employability“ – im Auge zu behalten, ohne die Wissenschaftlichkeit aufs Spiel zu setzen. Campbell: „Das zu verbinden ist alles andere als trivial.“

Was brachte die Gründung der Fachhochschulen?

1999 lag Österreich mit einer Akademikerquote von zwölf Prozent auf dem Niveau von Mexiko oder Portugal. Mit Rückenwind aus Politik und Wirtschaft, ausgestattet mit kräftigen Anschubfinanzierungen, wurden quer durch das Land Fachhochschulen hochgezogen. Binnen 16 Jahren stieg die Zahl der Studenten von anfangs 700 auf über 34.000. Heute suchen sich viele Fachhochschulen ihre Studenten aus. An den Universitäten unkt man, „dass wir die Nieten kriegen, die dort nicht unterkommen“, erzählt ein Mittelbauvertreter. Finanziert werden Fachhochschulen auf Basis von Studienplätzen. In den Seminaren sitzen 25 Leute, in den Vorlesungen 100. Die goldene Ära geht jedoch zu Ende: Seit 1993 wurde der Beitrag, den der Bund pro FH-Studienplatz im Jahr zahlt – zwischen 5814 und 6904 Euro –, nicht valorisiert.

Dürfen Studenten studieren, was sie wollen?

Die Probleme an den Universitäten konzentrieren sich auf wenige Fächer. „Wir haben es mit einer Krise der Massenfächer zu tun“, konstatiert Martin Unger vom Institut für Höhere Studien (IHS). Der Grund: „Österreich ist eines der wenigen Länder mit einem offenen Zugang, aber ohne entsprechende Finanzierung.“ Vor den Hörsälen bilden sich Warteschlangen, Studierende sitzen am Boden. Wenn der Hochschulforscher Campbell ein Proseminar hält, sitzen 80 bis 90 Leute darin: „Sinnvoll arbeiten kann man da fast nicht mehr.“ Dennoch will er niemanden abweisen. Schließlich liegt Österreich bei den Studienanfängern immer noch 15 Prozent unter dem OECD-Schnitt. Wenig hält Campbell auch davon, den Ansturm umzulenken. Es sei „oberflächlich“, Studienrichtungen bloß nach „employability“ zu bewerten. Statt den Leuten zu sagen, was sie studieren sollen, sollten die Universitäten die Studienpläne besser gestalten und aufbauen. Umdenken müssten auch die Unternehmen. In Deutschland beschäftigen Banken mit der größten Selbstverständlichkeit Politikwissenschafter, hierzulande werde „sehr konservativ rekrutiert“. Campbells Vision: „Es sollten nicht nur Juristen und Ökonomen in die Firmenwelt ­hinausgehen, sondern viel mehr Sozial- und Geisteswissenschafter. Das schafft einen größeren Kreativitätspool.“

Schaffte das UG 2002 die Demokratie ab?

Das Universitätsgesetz 2002 entließ die Universitäten in die Autonomie, die Position des Rektors wurde nach US-Vorbild gestärkt. Allerdings „vergaߓ der Gesetzgeber darauf, die Zweiklassengesellschaft abzuschaffen. Wer in den USA eine Unistelle antritt, wird ein gleichberechtigtes Mitglied der „Faculty“ und kann aufgrund der Leistung vor Ort bis zum „Full Professor“ aufsteigen. Hierzulande sind nur Professoren in der Kurie vertreten, der Mittelbau blieb abhängig und beim Forschen eingeschränkt. Dieser „widersinnige, leistungsfeindliche und entwürdigende Zustand sorgt für Unsachlichkeit, Willkür und unnötige Reibungsverluste, die allen schaden“, sagt der renommierte Salzburger Zellbiologe Stefan Galler. Freilich war es auch vor dem UG 2002 mit Demokratie und Mitbestimmung nicht so weit her. Professoren, einmal berufen, konnten auch früher schon tun und lassen, was sie wollten.

Sind Unis schlechter, die alle nehmen müssen?

Das Gros der Top-Unis verrechnet Studiengebühren und beschränkt die Studienplätze. Auf den ersten Blick spricht viel dafür, diesem Vorbild nachzueifern. Doch das Modell hat Nachteile: In den USA wird die Kluft zwischen der Minderheit reicher Unis und der Vielzahl unterfinanzierter Unis immer größer, auch der Kenntnisstand der Studienanfänger differiert beträchtlich. WU-Professor Rony Flatscher: „Dort weiß man nicht, was Leute können, wenn sie von einer Highschool abgehen.“ Hierzulande hingegen attestiert das Maturazeugnis die Hochschulreife. Rund die Hälfte der Maturanten nimmt laut Universitätsbericht 2008 ein Hochschulstudium auf (47 Prozent). Allerdings schlägt in Österreich schon in der Schule ein versteckter Numerus clausus zu. Mit zehn werden Kinder in Hauptschüler und Gymnasiasten unterteilt. Diese frühe Selektion benachteiligt einkommensschwache und bildungsferne Schichten und führt zu einer unterdurchschnittlichen Rate an Maturanten. Dies wird seit Langem angeprangert, auch von der Wirtschaft. „Wie ist es möglich, die Potenziale einer Gesellschaft und deren Jugend zu erkennen, zu fördern und zu entfalten, wenn ,oben‘ fast alles möglich ist und ‚unten‘ Potenziale verloren gehen?“, fragt etwa Gerhard Riemer, Bildungsexperte der Industriellenvereinigung.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges