Medizin: Wann wird Krebs heilbar?

Medizin: Angriffspläne. Wann wird Krebs heilbar? Die Überlebenschancen steigen.

Präzisere Diagnosen, wirksamere Medikamente

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Vor zehn Jahren hatte die Salzburger Ökonomin Doris Mayerböck über ständige Müdigkeit geklagt, über geringe Belastbarkeit und teils heftige Schmerzen mal da, mal dort. Wie so oft bei dieser Art von unspezifischen Symptomen vergingen vier lange Monate, bis die Ärzte endlich die richtige Diagnose stellen konnten: multiples Myelom, Knochenmarkskrebs. Sie gaben ihr damals noch höchstens drei Jahre.

Zehn Jahre später lebt Patientin Mayerböck, 63, mit ihrer chronisch gewordenen Krankheit relativ gut. Sie erfreut sich zwar nicht eben bester Gesundheit und muss sich immer wieder Behandlungen mit teils sehr unangenehmen Nebenwirkungen unterziehen, aber sie ist nicht gestorben. Doris Mayerböck lebt, weil die Krebsmedizin heute an einem Punkt angelangt ist, der vor zehn Jahren noch als reine Fantasterei abgetan worden wäre. Und wenn man die Entwicklungskurve so fortschreibt, wird in zehn Jahren ein gleichlautendes Resümee zu ziehen sein.

Wenn, wie in Mayerböcks Fall, ein Medikament die Myelomwerte im Blut nicht mehr normalisieren konnte, war bald ein anderes da – wirksamer bei oft geringeren Nebenwirkungen. Und wenn auch dieses Präparat dem Ansturm der Krebszellen nicht mehr standhalten konnte, gab es wieder eine neue Substanz, die für einige Monate oder auch Jahre helfen konnte. Und jetzt, so hofft Mayerböck, sei wieder eine neue Substanzklasse „in der Pipeline“, die ihr irgendwann in naher Zukunft das Leben als Krebspatientin erleichtern werde.

Sie steht mit ihrer Hoffnung auf zunehmend festerem Boden: In der gesamten westlichen Welt sinkt die Sterblichkeitsrate bei Krebs. Das ändert zwar nichts daran, dass diese heimtückische Erkrankung in vielen Fällen noch immer tödlich endet – bei etwa 35.000 jährlich diagnostizierten Krebsfällen erliegen hierzulande Jahr für Jahr rund 19.000 Personen ihrem Leiden, aber die Statistik macht Mut.

Erst vor zwei Wochen berichteten die US Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta (CDC), dass in den USA die Sterblichkeitsrate bei Krebs im Zeitraum 2002 bis 2004 um jährlich 2,1 Prozent gesunken ist. Das klingt zunächst bescheiden. In den zehn Jahren davor hatte der Rückgang demgegenüber aber nur 1,1 Prozent im Jahr betragen.

Bei fast allen der 15 meistverbreiteten Krebsarten sinkt in den USA die Sterblichkeit, vor allem bei Lungen-, Prostata-, Brust- und Darmkrebs. Und während die Anzahl der Krebsdiagnosen im Zeitraum 1975 bis 1992 anstieg, geht sie seither bei allen Krebsarten leicht zurück, heißt es in einem Vorabbericht zum jährlichen CDC-Report, der am 15. November im Fachjournal „Cancer“ erscheinen wird. „Das ist eine sehr ermutigende Erkenntnis, ein Schlüsselindikator für den Fortschritt bei Krebs“, sagt der CDC-Krebsepidemiologe David Espey, federführender Autor des Berichts.

Sehr wahrscheinlich haben zu diesem Rückgang auch Verhaltensänderungen in der amerikanischen Bevölkerung beigetragen: Erstens setzte dort die Anti-Raucher-Welle schon zu Beginn der achtziger Jahre ein. Zweitens nahmen von Jahr zu Jahr mehr Menschen die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch. Drittens deutet eine Studie, die im vergangenen Frühjahr im „New England Journal of Medicine“ erschienen ist, auf einen bemerkenswerten Umstand hin: Dort berichtet eine Forschergruppe um Peter M. Ravkin von einem auffallend starken Rückgang der Brustkrebsdiagnosen in den USA ab der Jahresmitte 2002.

Während in den Jahren davor die Zahl der diagnostizierten Brustkrebsfälle jährlich um ein Prozent gesunken war, fiel die Kurve vor allem im Jahr 2003 rapide nach unten: Zuerst um sechs, dann um neun Prozent, in der Altersgruppe der 55- bis 69-jährigen Frauen sogar um zwölf Prozent. Die Forscher sehen einen Zusammenhang mit der Hormonersatztherapie: Nachdem die „Women Health Initiative Study“, eine 1991 von den National Institutes of Health (NIH) gestartete Langzeitstudie, gezeigt hatte, dass Hormonersatztherapien mit Östrogen das Brustkrebsrisiko erhöhen können, wurden die Ersatzhormone nicht mehr verschrieben. Ein Zusammenhang mit den plötzlich sinkenden Brustkrebsraten ist nahe liegend.

In Österreich hingegen, wo die Ärzte bei der Verschreibung von Hormonersatztherapien eher zurückhaltend waren, ist keine vergleichbare Entwicklung bei Brustkrebs zu beobachten. Aber ein Trend verläuft, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, parallel zu den USA, wie der Epidemiologe Gerald Haidinger vom Zentrum für Public Health der Wiener Medizinuniversität bemerkt: „Es wird immer nur getrommelt, dass die Krebsfälle zunehmen, auf der anderen Seite registrieren wir seit Jahren, dass die Sterblichkeit bei Krebs zurückgeht.“ Und das, obwohl die Anzahl der gestellten Krebsdiagnosen, anders als in den USA, in Österreich steigt.

Früher entdeckt. Dieser Anstieg ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Menschen immer älter werden und Krebs eine Erkrankung ist, die mit steigendem Alter exponentiell häufiger auftritt. Die zweite Erklärung ist: Es werden durch Vorsorgeprogramme wie regelmäßige Mammografien, Darmspiegelungen oder Prostata-spezifische Bluttests zunehmend bösartige Tumore entdeckt, die früher unentdeckt blieben. Und diese Programme funktionieren in Österreich besser als in den USA.

In einer Krebskategorie steigt allerdings nicht nur die Zahl der registrierten Fälle, sondern auffallenderweise auch die Sterblichkeitsrate stetig an, und das seit Jahrzehnten – nämlich in der Kategorie Lungenkrebs bei Frauen. Experten sehen einen eindeutigen Zusammenhang mit dem Rauchverhalten eines wachsenden Anteils von Mädchen und Frauen, der in den vergangenen Jahrzehnten zur Zigarette griff. Aber abgesehen von dieser gegenläufigen Entwicklung, sinkt die Sterblichkeit auch hierzulande bei nahezu allen Krebsarten, zwar nicht rapide, aber offenbar deutlich genug, dass der Chefonkologe und Vizerektor der Grazer Medizinuniversität, Hellmut Samonigg, von einem „Paradigmenwechsel“ spricht.

Seit 1970 ist die Krebssterblichkeit in Österreich um etwa 25 Prozent zurückgegangen, bei Frauen bis zum 54. Lebensjahr sogar um 40 Prozent. Besonders deutlich sinkt die Kurve seit etwa Mitte der neunziger Jahre (siehe Grafik auf Seite 121). Das geht nach Meinung von Onkologen auf eine ganze Reihe von Faktoren zurück oder, wie es Samonigg formuliert, auf einen „ganzen Fächer von Möglichkeiten, der da aufgegangen ist“. Ein Teil dieses Fächers ist die Früherkennung. Denn je weniger fortgeschritten das Tumorwachstum ist, desto besser ist im Allgemeinen die Prognose.

Auch scheinen die Appelle, bei verdächtigen Veränderungen möglichst frühzeitig zum Arzt zu gehen, allmählich zu greifen. Fälle wie vor 20 Jahren, wo Frauen aus ländlichen Gebieten mit riesigen entzündlichen Tumoren eine onkologische Abteilung in der Stadt aufsuchten, gibt es heute praktisch nicht mehr. Und die Netze der Hightech-Diagnostik sind mittlerweile derart dicht gespannt, dass darin immer mehr Tumore „hängen bleiben“ und die Gefahr des Nichterkennens von Krebsgeschwüren tendenziell schwindet.

Aber kein Diagnosenetz und kein Screening-Programm ist so perfekt, dass es nicht auch immer wieder Krebserkrankungen gibt, die unerkannt bleiben. Onkologen fürchten besonders die so genannten Intervallkarzinome – aggressive Krebsarten, die sich sehr schnell entfalten.

Bei manchen Tumoren, wie beispielsweise beim Brustkrebs oder beim Rektumkarzinom, entscheidet oft die Kunst des Chirurgen, ob das Tumorgewebe zur Gänze entfernt wurde, sodass es zu keinem Rückfall mehr kommt. International standardisierte Qualitätskriterien legen fest, nach welchem Modus das optimal zu geschehen hat. Bei der so genannten mesorektalen Resektion wird beispielsweise das Rektumkarzinom Schicht für Schicht abgetragen. Studien belegen, dass bei Einhaltung dieser Kriterien die Überlebenschancen günstiger sind.

Und solche Kriterien einzuhalten ist heute im Gegensatz zu früher schon deshalb leichter, weil ein Teil des Zeitdrucks im OP weggefallen ist. Chirurgen erinnern sich mit Schaudern an den Stress, der noch vor 20 Jahren herrschte, wenn am Ende eines zweistündigen Eingriffs der Anästhesist zur Eile mahnte. Heute sind bei einer deutlich verfeinerten Narkose- und Operationstechnik selbst achtstündige Operationen kein großes Problem, auch nicht bei älteren Menschen.

Die Chance, als Krebspatient in erfahrene ärztliche Hände zu geraten, ist in Österreich vergleichsweise höher als beispielsweise in Deutschland. Während hierzulande Krebsbehandlungen ausschließlich in dafür ausgewiesenen Zentren durchgeführt werden, widmen sich in Deutschland auch niedergelassene Ärzte der onkologischen Betreuung. Die zentral gesteuerte Behandlung hat überdies den Vorteil, dass der Zugang zu hochwertigen und zumeist sehr teuren Medikamenten erleichtert wird.

Positiver Trend. Das ist noch kein Grund zu überhöhten Erwartungen, trägt aber vermutlich dazu bei, dass Österreich im Ergebnis der Krebsbehandlung zusammen mit Schweden, Finnland und den USA zur internationalen Spitzengruppe zählt. Die Sterblichkeit über alle Krebsformen liegt zwar noch immer deutlich über 50 Prozent, aber einige Eckpunkte deuten doch auf einen positiven Trend, der sich in der Kinderkrebsmedizin schon länger abzeichnet als in der Erwachsenen-Onkologie.

„Wir sind seit 15 Jahren überzeugt, dass Krebs im Kindesalter heilbar ist“, sagt der Kinder-Onkologe Helmut Gadner, Leiter des St. Anna Kinderspitals in Wien. Schon in den siebziger Jahren gab es bei der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) Langzeiterfolge von 50 Prozent, heute liegt die Heilungsrate laut Gadner bei 80 Prozent. Beim Wilmstumor, einem Nierenkrebs, der 1995 durch den „Fall Olivia“ bekannt wurde, halten die Wiener Kinderkrebsspezialisten sogar bei einer Heilungsrate von 90 Prozent. „Der Wilmstumor und die ALL sind eine Erfolgsstory, an die keiner vorher geglaubt hat“, erzählt Gadner, „deshalb sind wir überzeugt, dass wir die restlichen zehn oder 20 Prozent auch noch schaffen.“

Obwohl die Chemotherapien im Lauf der Jahre erheblich besser und zielgerichteter geworden sind, trachtet der Kinderonkologe, von dieser belastenden Therapieform allmählich wegzukommen. Große Hoffnungen setzt er in die molekulare Medizin, die durch Eingriffe in den Zellstoffwechsel und in die Signalübertragung versucht, die Überlebensstrategien der Krebszelle zu durchkreuzen. Weil aber die großen Pharmaunternehmen kaum Produkte für Kinder entwickeln, müssen die Kinderonkologen die Forschung selbst vorantreiben und hoffen dabei auf Unterstützung durch die EU im Rahmen des so genannten Orphan-Drugs-Programms, das die Medikamentenentwicklung für kleine Patientengruppen fördert und die Zulassung beschleunigt.

Die Ergebnisse der Erwachsenen-Onkologie reichen bei Weitem nicht an die der Kinderkrebsmedizin heran, aber dass sich die Situation auch dort allmählich bessert, lässt sich am Beispiel der Darmkrebsbehandlung zeigen: Noch zu Anfang der neunziger Jahre waren die Aussichten düster. Es gab für die Behandlung ein einziges Chemotherapeutikum, und selbst da lag die Ansprechrate nur zwischen fünf und 15 Prozent. „Wir waren oft verzweifelt“, erinnert sich Onkologe Samonigg.

Um das Jahr 2000 kamen dann gleich mehrere, wesentlich wirksamere Chemotherapeutika auf den Markt, mit einer Ansprechrate von 45 bis 50 Prozent. Die Präparate wurden teilweise auch vor der Operation verabreicht. Die mittlere Überlebenszeit konnte beim metastasierten Darmkrebs solcherart von zehn Monaten auf zwei Jahre gesteigert werden, „jetzt sind wir auf dem Sprung, den Wert zu verdreifachen“. Das soll mithilfe von so genannten „targeted therapies“ (gezielten Therapien) gelingen.

Solche Therapien sind seit einigen Jahren auf dem Markt, und laufend kommen neue hinzu. Im Gegensatz zur Chemotherapie wird dabei nicht der gesamte Organismus attackiert, um die Krebszellen zu vernichten, sondern nur ganz gezielt in einen Mechanismus eingegriffen, der für das Überleben der entarteten Zellen von zentraler Bedeutung ist. Die Forscher wollen immer mehr solcher Mechanismen und Wege aufklären, welche die Krebszelle nutzt, um sich im Körper auszubreiten.

Und nach und nach, so die Vorstellung der Wissenschafter, ließen sich auf Basis dieses Wissens dann Medikamente nach Art eines Köchers mit einem ganzen Bündel von Pfeilen entwickeln, die in den Prozess der Krebsentstehung und -ausbreitung blockierend eingreifen. Auf diese Weise könnte es der Krebsmedizin gelingen, die Krankheit, wenn schon nicht zu heilen, so doch für einen vernünftigen Zeitraum so weit einzudämmen, dass man bei guter Qualität und ohne nennenswerte Nebenwirkungen damit leben kann.

Dass diese Strategie plausibel, gangbar und „eine große Hoffnung“ (Gadner) ist, daran wollen viele Onkologen glauben. Die Frage ist, ob und in welchem Zeitraum es gelingt. Manche Wissenschafter, wie der israelische Krebsforscher Yitzhak Witz, meinen, es könnte unter Umständen in den kommenden zehn Jahren gelingen, „vielleicht aber doch erst in 15 Jahren“ (siehe auch Kasten rechts). Christoph Zielinsky, Chefonkologe des Wiener AKH und Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Wiener Medizinuniversität, hingegen hält es für nicht ausgeschlossen, dass dieses Vorhaben nie gelingt: „Möglicherweise wird es ein Fass ohne Boden.“

Aber dass die bisherigen gezielt ansetzenden molekularen Therapien im Bereich des jeweiligen Angriffsziels recht gut funktionieren und das Krebsgeschehen zumindest für einen gewissen, wenn nicht sogar für einen längeren Zeitraum bremsen können, lässt die Forscher hoffen. Michael Micksche, Vorstand des Wiener Instituts für Krebsforschung, reagiert mit unverhohlener Begeisterung, wenn er etwa von Glivec spricht, einem Präparat der neuen Generation: „Ein Quantensprung.“

Falsch verheilt. Das seit den Jahren 2000/2001 in den USA und in Europa zugelassene Medikament fußt auf der Erkenntnis, dass die chronisch myeloische Leukämie durch eine ganz bestimmte molekulare Veränderung gekennzeichnet ist, nämlich einen Chromosomenbruch, der falsch verheilt. Dabei entsteht an der Bruchstelle ein so genanntes Fusionsprotein, das nur in entarteten Zellen, nicht aber in gesunden Blutzellen vorkommt. „Und wenn man dieses Fusionsprotein attackiert und abstellt, sterben die Krebszellen“, erklärt Micksches Forscherkollege Walter Berger.

Das Brustkrebsmedikament Herceptin wiederum, ein anderer Wirkstoff aus der Palette der gezielten Therapien, ist ein so genannter Antikörper oder ein Antigen, das sich auf der Oberfläche der Krebszelle auf einen Rezeptor mit der Bezeichnung HER-2 setzt. Solche Antigene nutzen Körperzellen normalerweise dazu, um dem Immunsystem zu signalisieren: „Mit mir ist etwas nicht in Ordnung, kill mich.“ Da aber Krebszellen um jeden Preis überleben wollen, schalten sie den Mechanismus aus und werden dadurch von den Killerzellen des Immunsystems nicht als „feindlich“ erkannt.

Das Antigen stellt dieses Label „feindlich“ wieder her. Zugleich blockiert es damit den HER-2-Rezeptor, der normalerweise Signale an die Umgebung aussendet, Wachstumsfaktoren herbeizuschaffen, die dann in die Zelle einwandern und diese zur Teilung anregen. Durch die Blockade kann sich die Zelle nicht mehr teilen. „Damit werden zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen“, sagt Berger.

Herceptin ist aber nur bei Patientinnen anwendbar, deren Zelltyp diesen HER-2 Rezeptor aufweist, das sind etwa 20 bis maximal 25 Prozent. Das Medikament wird derzeit nur als so genannte adjuvante Therapie verabreicht, das heißt, nur im Anschluss an die Chemo- und Strahlentherapie – allerdings laut Zielinsky mit einigem Erfolg: An seiner Abteilung konnte die Zahl der Rückfälle um 52 Prozent, die der Todesfälle um 33 Prozent gesenkt werden. Heinz Ludwig, Chefonkologe des Wiener Wilhelminenspitals, sieht die Erfolgsberichte in einem etwas kritischeren Licht, unter anderem auch deshalb, weil ungünstige Auswirkungen auf die Herzgesundheit nicht auszuschließen seien.

Einen ganz anderen Ansatzpunkt verfolgen die so genannten Angiogenesehemmer, welche verhindern, dass die Tumorzellen mit Nahrung versorgt werden. Das erste derartige Präparat, Avastin, wurde im Jahr 2003 beim amerikanischen Krebskongress ASCO in Chicago vorgestellt. Es beruht auf einer alten Theorie des amerikanischen Chirurgen Judah Folkman. Diese besagt, dass ein Tumor nicht wachsen könne, wenn es gelänge, die Blutversorgung zu kappen. Die Frage war nur, wie.

Ein beginnendes Krebsgeschwür kann nur kurzfristig ohne Versorgung mit Nahrung und Sauerstoff existieren, dann muss es ans Blutgefäßsystem angeschlossen werden, um weiter wachsen zu können. Zu diesem Zweck senden die Krebszellen Signale aus, um in ihrer Umgebung das Wachstum neuer Blutgefäße zu stimulieren, die dann in das kleine Geschwür einwachsen. Avastin unterbindet den Signalweg und verhindert damit die Blutversorgung des Tumors.

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe solcher Präparate.

Aber all diese Versuche, die Überlebensstrategien der Krebszelle auszutricksen, funktionieren oft nur für einen gewissen Zeitraum. Denn irgendwann hat sich die Krebszelle wieder eine neue Eigenschaft angeeignet, die ihr ein Entkommen ermöglicht. „Das ist unser eigentliches Problem“, sagt Zielinsky. Denn die Krebszelle besitzt die Fähigkeit, sich jede Art von Überlebensstrategie, die sich Körperzellen je angeeignet haben, zu eigen zu machen. Mehr noch: Sie vermag es sogar, das Immunsystem für ihre Zwecke zu nutzen. So hält sie beispielsweise Makrophagen, wichtige Zellen des Immunsystems, wie Haustiere, um diese zu „melken“. Denn die Makrophagen produzieren ihrerseits Angiogenesefaktoren, welche der Krebszelle dabei helfen, das Blutgefäßsystem anzuzapfen.

Aufgrund dieser Fähigkeiten müssen die Forscher sehr erfinderisch sein, um in der Trickkiste der Krebszellen einen Faktor nach dem anderen auszuschalten. Erst kürzlich enthüllte eine Forschergruppe der Wiener Medizinuniversität rund um den Genetiker Markus Hengstschläger im renommierten Fachblatt „Oncogene“ ein neues Element dieser Trickkiste. Hengstschläger und seine Kollegen konnten einen wichtigen Mechanismus aufklären, wie es die Krebszelle schafft, dem programmierten Zelltod zu entgehen. Dieses Programm wird normalerweise angeschaltet, wenn eine Zelle Gefahr läuft, sich unkontrolliert zu teilen. Die Entdeckung könnte irgendwann als Basis für die Entwicklung neuer Wirkstoffe dienen.

Der Epidemiologe Gerald Haidinger vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien findet all diese Forschungsschritte „ganz toll“, sieht aber außer einem Silberstreif schon neue Probleme am Horizont: „Auf der anderen Seite müssen wir uns darauf einstellen, dass wir im Alter erst recht in die Krebsbehandlung hineinkommen, weil wir wahrscheinlich noch den Zweit- und den Drittkrebs erleben.“

Von Robert Buchacher