Der Antinazi

Der Antinazi Albert Göring

Zeitgeschichte. Hermann Görings jüngerer Bruder als unerschrockener Judenretter

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Albert Göring mochte schnelle Autos, ganz Wien soll gewusst haben, dass das schokoladebraune Steyr-Cabrio, mit dem er in der Stadt aufkreuzte, ein Geschenk seines mächtigen Bruders Hermann war. Er wurde als charmant, heiter, amüsant und Liebhaber schöner Frauen beschrieben. Als er sich im besetzten Prag in eine frühere tschechische Schönheitskönigin verliebte, war ihm klar, die Gestapo „würde nicht tolerieren, dass ich im Begriffe war, eine tschechische Frau zu heiraten“, und heiratete sie. Die gebotene Führer-Verehrung soll er unorthodox unterlaufen haben. In seinem Direktions­büro in den Pilsner Skoda-Werken fehlte das Hitler-Bild, den Führer-Gruß erwiderte er mit „Grüß Gott“. Wehrmachtsoffizieren in Bukarest soll er verächtlich „Leckt mich am Arsch“ zugerufen haben, nachdem sie herausgefunden hatten, wer er war und mit „Heil Hitler“ salutiert hatten.

In der englischsprachigen Welt sind Hermann Göring, der skrupellose Generalfeldmarschall und Hitlers Organisator der „Endlösung der Judenfrage“, und sein bisher weitgehend unbekannter jüngerer Bruder Albert, der Antinazi, seit einiger Zeit als Bruderpaar zugange, wie es unterschiedlicher kaum sein könnte. Ein britischer Filmregisseur veröffentlichte seine Spurensuche im Doppelporträt „The Warlord and the Renegade“1), auf dem TV-Sender Channel Four lief eine Filmdokumentation, der junge australische Historiker William Hastings Burke schaffte es mit seinem Buch über den guten Göring zu einem ausführlichen Bericht in der renommierten Londoner Zeitung „The Guardian“.2) Hastings Buch ist nun auf deutsch im Berliner Aufbau-Verlag erschienen.

Nun wird Albert Göring von einem Überlebenden der Shoah als herausragender Judenretter geradezu geadelt. Der bekannte Autor Arno Lustiger, der als Kind in die Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau verschleppt worden war, würdigt ihn in seinem eben erschienenen Erinnerungsband beinahe hymnisch: „Oft und lebenslang riskierte Albert Karriere und Leben, um verfolgten Juden zu helfen, wobei er seinen Namen als Bruder des Reichsmarschalls benutzte.“ Als Albert Göring 1966 starb, sei von seinen Rettungstaten nichts bekannt gewesen, „er hatte sein Wissen für sich behalten“.

Hermann Göring, von Adolf Hitler zum „Führer“-Nachfolger bestimmt, zuletzt aber entmachtet, war in Nürnberg 1946 als NS-Hauptkriegsverbrecher verurteilt worden; der Vollstreckung der Todesstrafe mit dem Strang entzog er sich durch Selbstmord. Die Familienverhältnisse des prunksüchtigen und morphinabhängigen NS-Machthabers waren schon bald danach Thema. Simon Wiesenthal hatte Fäden einer reichlich obskur scheinenden Geschichte schon sehr früh in der Hand und breitete auf Anfragen – „Steht der Bruder Hermann Görings auf der Kriegsverbrecherliste?“ – Anfang der fünfziger Jahre aus, was er zusammengetragen hatte.

Gegen Albert Göring selbst liege nichts vor, er sei nicht einmal Mitglied der NSDAP gewesen, antwortete Wiesenthal und fuhr verschwörerisch fort, um Albert und die weiteren Geschwister Hermann Görings habe es im Dritten Reich aber ein großes Geheimnis gegeben. Sie seien nämlich Kinder aus der Liaison der Mutter mit dem „getauften Juden Ritter Hermann von Epen­stein und galten als Halbjuden“.

Für Wiesenthal war das ein schlagender Beweis dafür, wie zynisch Hermann Göring seinen mörderischen Ausspruch „Wer Jude ist, bestimme ich!“ verfolgte: Auf der einen Seite habe er seine halbjüdischen Geschwister geschützt, „auf der anderen Seite beauftragte er die SS-Bestie Heydrich mit den Arbeiten zur Endlösung der Judenfrage“.

Beim NS-Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg habe die Familie Hermann Göring sogar damit entlasten wollen, dass er seine Hand immer über sie, die Halbjuden, gehalten habe. Die Gestapo habe ein dickes Dossier über die Göring-Geschwister angelegt, heißt es in einem vergilbten Dokument in Wiesenthals Archiv: „Am meisten Schwierigkeiten hatte Ing. Albert Göring.“ Dass Görings Bruder als aktiver Gegner des Nationalsozialismus in Bedrängnis gekommen war, findet sich darin nicht.

Wer war dieser Mann, der mit seinen feinen Gesichtszügen und dem schwarzen Haar so ganz anders war als der blonde, blauäugige, bullige Bruder Hermann und der dem jüdischen Patenonkel Epenstein angeblich so ähnlich sah? Nachweise dafür, dass er und seine anderen Geschwister tatsächlich Kinder ihres gönnerhaften Patenonkels Epenstein waren, gibt es keine. Ge­sichert ist, dass die Görings auf dem ­Epenstein’schen Schloss Mauterndorf im Salzburger Lungau häufig Gast waren und Epensteins Witwe das Anwesen 1939 Hermann Göring vererbte.

Zu Albert Görings Hilfeleistungen für Verfolgte gibt es naturgemäß aus der NS-Zeit selbst nur wenige Dokumente, jedoch viele nachträgliche Schilderungen und eine Aufzählung mit 34 teils höchst illustren Namen von ihm Geretteter, unter anderen die jüdische Frau des Komponisten Franz Lehár; der jüdische Chef der bekannten Wiener Sascha-Film, Oskar Pilzer; ein wegen Sabotage verfolgter Direktor der tschechischen Skoda-Werke – und Erzherzog Joseph Ferdinand.

Was den Ende März 1938 aus seinem Domizil am Mondsee in das KZ Dachau verschleppten Habsburger angeht, klingt die Erzählung über den Hilfseinsatz des guten Herrn Göring abenteuerlich, hat aber den Segen der Kapuzinergruft. Auf der Homepage der Kaisergruft heißt es: „Der persönlichen Beziehung zur Familie Hermann Görings verdankte der Erzherzog seine Befreiung aus dem KZ Dachau nach nur achttägigem Aufenthalt 1938.“ Laut Albert Göring hatte sein Bruder Hermann nach dem umjubelten „Anschluss“ Österreichs jedem Familienmitglied die Erfüllung eines Wunsches versprochen, und er habe sich eben die Freilassung des Erzherzogs gewünscht. Das sonderbare Familientreffen soll in Alberts Domizil in der noblen Cobenzlgasse 87a in Wien-Grinzing stattgefunden haben. Albert Göring war im Jahr 1927 als Exportchef der deutschen Junkers-Werke nach Wien gekommen und fünf Jahre später als technischer Direktor zur Sascha-Film gewechselt.

Mit dem Direktor der Tobis-Sascha-Filmindustrie, Oskar Pilzer, erlebte er unmittelbar, wie die von seinem Bruder aufgebaute Gestapo gegen Juden vorging: Pilzer war einer der Ersten, die von der Gestapo im März 1938 verhaftet wurden. Sein Sohn Georges sagte später: „Mr. Göring war informiert, und er … bot all seinen Einfluss auf, und ich unterstreiche: all seinen Einfluss, um herauszufinden, wo sie meinen Vater gefangen hielten, und seine sofortige Entlassung zu erreichen.“

Albert Göring war in seiner Zeit in Wien österreichischer Staatsbürger geworden, bei der Volksabstimmung über den „Anschluss“ im April 1938 kreuzte er laut Aussage gegenüber US-Ermittlern „Nein“ an, Ende Juni verließ er Österreich und wurde von einem Freund als Exportleiter zu Skoda im tschechischen Pilsen geholt. Ein Brief aus dem Jahr 1942 ist eines der raren Dokumente über Albert Görings Hilfsaktionen. Demnach erwirkte er bei Hitlers gefürchtetem Statthalter in Prag, Reinhard Heydrich, persönlich die Freilassung verhafteter Skoda-Manager. Seinem jüdischen Arzt Kovac soll er als Motiv genannt haben, er verabscheue jede Art von Unterdrückung und Tyrannei. Seine offen ausgedrückte Verachtung für das NS-­Regime soll ihn mehrmals ins Visier der Gestapo gebracht, der große Bruder die drohende Verhaftung jedoch mehrmals verhindert haben.

Die Liste Geretteter schrieb der damals 50-jährige Albert Göring im Herbst 1945 zusammen. Damals saß er als potenzieller Kriegsverbrecher in einem US-Gefängnis in Deutschland, und die Sonderermittler der 7. US-Armee schenkten seiner Version der Geschichte absolut keinen Glauben. Er wolle sich nur „auf sehr geschickte ­Weise reinwaschen“, notierten sie und ­folgerten angewidert, „Albert GÖRINGS fehlendes Feingefühl kann man nur mit der Korpulenz seines dicken Bruders vergleichen“.

Im Juli 1946 wurde Albert Göring dem Verhörspezialisten Victor Parker vorgeführt, und dieser stellte trocken fest: „Der erwähnte Bericht wird für wahr gehalten, da der Befrager persönlich weiß, dass der Betreffende Franz Lehár geholfen hat, welcher der Onkel des Befragers ist.“ Parker war der Neffe von Lehárs Frau Sophie Pashkis, die nach Intervention Albert Görings kurzerhand zur „Ehrenarierin“ gemacht worden war. Für Lehárs berühmten Librettisten Fritz Löhner-Beda hatte dagegen niemand interveniert, er starb qualvoll in Auschwitz.

Albert Göring siedelte sich in Salzburg an, Arbeit bekam er aufgrund seines Namens keine mehr. Knapp vor seinem Tod 1966 heiratete er seine frühere Haushälterin, um ihren Anspruch auf Witwenpension zu sichern.