Essen jagen

Essen jagen: Obdachlose aus Ungarn in Wien

Obdachlos. Wie der Ungar Ervin E. seit zwei Jahren in den Straßen von Wien als Bettler überlebt

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Vor dem Haus in der Gumpendorfer Straße 110 in Wien stehen Männer, die mit hochgezogenen Schultern rauchen und zwischen zwei Zigarettenzügen ihre klammen Hände aneinanderreiben. Drinnen bereiten Nonnen vom Orden der Barmherzigen Schwestern ein Frühstück für die Obdachlosen zu. Mehr als 50 gleichzeitig dürfen nicht hinein.

Eine resolute Schwester wedelt durch die geheizte Stube, staucht einen jungen Rumänen zusammen – „Schrei nicht so!“ –, hebt schnaubend eine Serviette vom Boden auf und verscheucht Wartende von der Treppe. Heute gibt es Grammelaufstrich mit ordentlich Fleisch, Buttersemmeln und etwas Süßes. Die schwarzen Wecken kommen vom Sozialmarkt, der Rest stammt aus der Küche des ordenseigenen Krankenhauses. Dort holen die Nonnen um drei Uhr morgens ab, was übrig geblieben ist. 150 bis 200 Menschen verköstigen sie damit jeden Tag, außer Sonntag. Da feiern sie heilige Messe, und ihre Armenküche bleibt zu.

„Harmonie und gute Stimmung“
Die Nische links hinten gehört „den Ungarn“. Ervin E., 40, blaue Sportschuhe, dunkle Jacke, ist seit halb acht Uhr da. Die Oberschwester mag ihn, weil er für „Harmonie und gute Stimmung“ sorgt. Sein Sohn sitzt regungslos in der Ecke, ein spindeldürrer 17-Jähriger, der kaum die Augen vom Handy nimmt. Ervin E.s Bruder ist auch da, ein trauriger Koloss von einem Mann, mit Übergewicht und schweren psychischen Problemen. Sie frühstücken hier, seit sie im Mai vor zwei Jahren nach Wien kamen – nicht weil sie sich hier ein großartiges Leben erhofften. Es ging immer um das Nötigste: Essen, Kleidung, Medikamente.

In Budapest und in Györ konnten sie ebenso wenig bleiben wie in dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen sind. Ervin E.s Bruder hatte als Schweißer früher gut verdient. Als er krank wurde, ging er mit 300 Euro in Frühpension. Das reicht in einem Land, in dem Lebensmittel mit 27 Prozent Steuer belegt werden und Wohnungsmieten zwischen 300 und 500 Euro betragen, nicht für einen allein, schon gar nicht für drei. Ervin E. und sein Sohn bekommen nicht einmal Sozialhilfe. „In Ungarn landet man schnell auf der Straße“, sagt er in überraschend gewähltem Deutsch. Es ist das Einzige, was er von den Großeltern aus dem Schwabenland geerbt hat.
Laut Schätzungen des Malteserordens haben 30.000 Menschen kein Dach über dem Kopf, davon 8000 in Budapest. Seit Anfang 2011 registrieren Wiener Einrichtungen starken Andrang aus dem Nachbarland. „Und alle erzählen das Gleiche: dass es in ihrem Land für sie unerträglich ist“, sagt Martin Strecha-Derkics, Leiter der Obdachlosenunterkunft „Gruft 2“ der Caritas. Es gibt zu wenig Notbetten, die staatlichen Quartiere sind schlecht ausgestattet. Viele Obdachlose kampieren lieber im Wald oder suchen sich irgendwo in Europa eine Suppenküche. Besonders hart trifft es jene, die allein oder krank sind. Überall rotten sich Menschen zusammen, um in Gruppen außerhalb der Ballungszentren zu übernachten. Sie stellen Wachen auf und lassen sie mit Hunden patrouillieren. Das hält Prügelpolizisten fern.

„Viele Ungarn, die bei uns landen, hätten in Österreich eine Gemeindewohnung. Ihr Pech ist, dass sie nicht 300 Kilometer weiter westlich geboren wurden“, sagt Strecha-Derkics. Sie lebten in Häusern und konnten Frankenkredite, die sie dafür aufgenommen hatten, nicht mehr bedienen. Sie hatten ganz normale 40-Stunden-Jobs, trotzdem wuchsen ihnen die Ausgaben des täglichen Lebens über den Kopf. Wer eine der begehrten Stellen im Audi-Werk ergattert, kommt auf 400 bis 500 Euro im Monat, so viel kostet eine Wohnung. Inzwischen drängen sich viele Mieter auf engem Raum zusammen, um nicht auf der Straße zu landen.

„Die Basisversorgung funktioniert"
In Wien gibt es nicht nur das Frühstück der Barmherzigen Schwestern, sondern Armenküchen, Tageszentren mit Mittagstisch, Kleiderausgaben, Notquartiere, kostenlose ärztliche Beratung, Medikamente. „Die Basisversorgung funktioniert, niemand muss verhungern“, sagt Strecha-Derkics. Nach zwei Jahren in der Stadt weiß Ervin E. inzwischen auch, wo die Abfalltonnen stehen, in denen er Joghurt, Milch, Apfelsaft und gefrorene Hühner findet, nur einen Tag älter als das Ablaufdatum: „Wir ernähren uns oft von dem, was weggeworfen wird. In Ungarn ginge das nicht. Da ist sogar der Müll leer.“ Abgelaufene Lebensmittel würden dort unter der Hand um die Hälfte des Preises weiterverkauft. Ausländische Handelsketten sperrten ihre Mistplätze ab, damit sie nicht nach Essbarem durchsucht werden könnten. Spenden an karitative Organisationen kämen bei den Bedürftigen nie an. „Was brauchbar ist, wird gestohlen und weiterverkauft“, erzählt Ervin E. Er meint es nicht vorwurfsvoll: „Meine Landsleute sind arm. Sie müssen korrupt sein.“

Es ist inzwischen halb elf Uhr am Vormittag, und der Mann, der im Alter von 14 Jahren sein rechtes Auge verlor, als eine Glasflasche mit Kunststoffschaum in seiner Hand explodierte, sitzt wie so oft am Westbahnhof und schaut anderen beim Jausnen zu. „Essen jagen“ nennt er diese Beschäftigung. Lässt jemand ein angebissenes Weckerl liegen, geht er hin und fragt, ob er es haben kann. Selten versenkt jemand genießbare Reste vor seiner Nase im Mistkübel. Manchmal laden ihn Fremde auf eine Reisbox ein, er mag sie mit viel Knoblauchsauce.

In seinem schwarzen Rucksack trägt Ervin E. eine wattierte Hose mit sich, in der Aktentasche befinden sich USB-Sticks, Festplatten und Schraubenzieher für Computerreparaturen. Damit zieht Ervin E. am Nachmittag zur Hauptbibliothek am Wiener Urban-Loritz-Platz weiter. Im Internetsaal trifft er immer neue Obdachlose aus Ungarn. Sie scharen sich um die Terminals. Verscheucht wird hier niemand, solange er nicht randaliert, säuft oder einschläft. Für Ervin E. ist es der Ort der Gefälligkeiten und kleinen Tauschhandel, bei denen oft ein paar Euro abfallen. Heute wird er für zwei Ungarn, die am Bau Arbeit gefunden haben, Dienstverträge übersetzen und für ein paar Bekannte Musik und Filme herunterladen. Ab fünf Euro geht sich ein Einkauf bei Billa aus: Orangensaft um einen Euro, eine Packung Blaubrie um 1,49 Euro, Kekse um einen Euro, Milch.

„Halb-zwei-Stelle“
Was er wisse und könne, teile er mit anderen Obdachlosen, sagt Ervin E. Er produziert sogar YouTube-Filme zu existenziellen Fragen der Armutsmigranten: Meldezettel, Jahreskarte, Bankkonto, Essen, Duschen, Schlafen. Bereitwillig erzählt er weiter, dass es sonntags bei der Freien Christengemeinde Worte aus dem Evangelium zu hören und danach etwas zu essen gibt, dass in der Ungargasse in Wien um 13.30 Uhr ausgespeist wird (seine Freunde nennen den Platz „Halb-zwei-Stelle“) und dass in Tageszentren der Mittagstisch symbolische 50 Cent kostet. „Manche Obdachlose haben nicht einmal das.“ Information ist die Währung der Nomaden aus Not. Ervin E. versteckt sein liebstes Arbeitsutensil im Ärmel, damit es nicht gestohlen wird: Es ist ein schneller USB-Stick, 40 Euro hat er gekostet.

Mehr als sein leichtes Gepäck drücken ihn die Geschichten, die er zeit seines Lebens mit sich herumschleppt: Sein Großvater war bei der SS. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet nicht nur er auf eine schwarze Liste, sondern auch seine Kinder und Enkel. Ervin E. glaubt, weder er noch seine Eltern hätten je eine Chance auf Normalität gehabt: Seine Mutter litt an einer Persönlichkeitsstörung, sein Vater war seelisch gebrochen, seit er Ende der 1960er-Jahre als Rekrut desertierte und versuchte, nach Österreich zu fliehen. Dafür büßte er 20 Monate im Gefängnis. Seinen Kindern erzählte er später, wie man ihn und seine Mithäftlinge gefoltert und zermürbt hatte.

Als Ervin E. acht war, zogen seine Eltern aus dem 600-Einwohner-Dorf Nagyesz-terga’r am Fuß des Bakony-Gebirges in die Nähe von Györ. Der Vater, der als Lkw-Fahrer für eine Aluminiumfabrik gut verdient hatte, verfiel in eine schwere Depression und begann zu trinken. Die Kinder standen unter permanentem Druck. Ihre Familie galt als politisch unzuverlässig, und die Lehrer wurden nicht müde, sie über alle Vorkommnisse zu Hause auszufragen. Mit 14 verließ Ervin E. die Schule und versuchte, sich als Tagelöhner durchzuschlagen. Die Jobs waren schlecht bezahlt, schwarz und meistens gefährlich: „Niemand war bereit, mich regulär zu beschäftigen.“

Das Paria-Dasein setzte ihm zu. Als er 21 Jahre alt war und als Tierpfleger für Versuchskaninchen in einer Augenklinik in Budapest Arbeit gefunden hatte, verließ ihn der Lebensmut. Eine Woche lang bereitete er sich auf dem „Gellert-Gebirge“ – so nennen die Budapester die Anhöhe neben dem Gellert-Hotel, von der sich die Selbstmörder der Stadt in die Tiefe stürzen – auf seinen letzten Sprung vor. Dort lernte er seine spätere Frau kennen. Sie war 17, hatte Schlimmes mitgemacht, seit einer Woche nichts gegessen und wollte noch am selben Abend Schluss machen. Ungarn feierte seinen Nationalfeiertag, in der Stadt gab es ein Feuerwerk: „Wir sind beisammengesessen und haben uns alles erzählt, es war ja schon egal.“

Die beiden heirateten, bekamen zwei Söhne, heute 14 und 17. Doch die Ehe hielt den Schicksalsschlägen, die noch folgen sollten, nicht stand. 2004 starb Ervin E.s Mutter, und die ungarischen Behörden hatten beschlossen, eine 20 Jahre alte Zollstrafe rückwirkend einzutreiben. Um sie zu begleichen, musste Ervin E. sein Haus notverkaufen: Es war sechs Millionen Forint wert, er bekam die Hälfte. Die Familie brach auseinander. Seine Ex-Frau lebt heute mit dem jüngeren Sohn in einem Obdachlosenheim in Ungarn, für das sie monatlich 50 Euro zahlen muss. „Was ich mir in 20 Jahren aufgebaut hatte, ist damals innerhalb kurzer Zeit zerbrochen.“
In fest gemauerten Häusern schläft Ervin E. nur noch selten. Die Notquartiere machen ihm Angst. Auch in Wien. Sie sind eng, und es tummeln sich Betrunkene und psychisch Kranke darin. Monatelang nächtigte der Ungar lieber auf einer Bank neben einer Kirche. Sein aktueller Schlafplatz ist am Flughafen. Um 18 Uhr verabschiedet er sich, um die S-Bahn nach Wien-Schwechat zu nehmen und sich unter die schlafenden Touristen zu mischen, möglichst weit weg von anderen Obdachlosen. Es gebe unter ihnen zu viele Wohnungseinbrecher, Metalldiebe und Menschen, die auf Stress mit Gewaltausbrüchen reagierten, sagt er.

Meistens liegt er bei einer Steckdose. Während Ervin E. schläft, ragt aus seiner Jacke das Aufladekabel für sein Handy. Die Vorstellung amüsiert ihn, Passanten könnten sich bei seinem Anblick denken, da lade einer sein Herz auf. Nach vielen schweren Krankheiten, menschlichen und finanziellen Verlusten, nach all dem „Horror“ zählt für ihn nur mehr das Heute: „Wenn ich zu essen habe, bin ich zufrieden. Was morgen ist, interessiert mich nicht.“ Vermutlich wird er wie jeden Tag um 6.37 Uhr in die Schnellbahn nach Wien-Mitte steigen. Um halb acht gibt es Frühstück bei den Barmherzigen Schwestern. Und dann geht es wieder los: „Essen jagen“ am Westbahnhof und der ganze Rest.

Hintergrund

Nomaden aus Not
Armutsmigration in Europa ist nicht vorgesehen. Es fehlt an grenzüberschreitenden Programmen.

Im November 2012 erfand die ungarische Regierungspartei Fidesz unter Premier Viktor Orban ein neues Verwaltungsstrafdelikt: Obdachlose, die innerhalb eines halben Jahres zum wiederholten Mal bei der „sachfremden Nutzung öffentlicher Plätze“ ertappt werden, sollten bis zu 150.000 Forint Strafe zahlen (rund 500 Euro) oder ersatzweise im Gefängnis dafür büßen. Nach Protesten kippten die Höchstrichter das Gesetz. Um sie künftig auszuhebeln, soll der Passus gleich in den Verfassungsrang gehoben werden. Dagegen protestiert der Europäische Dachverband der Serviceeinrichtungen für wohnungslose Menschen (Feantsa) ebenso scharf wie die österreichische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (www.bawo.at). Es sei unverantwortlich, „eine Verfassung so zu verbiegen, dass die Grundrechte verhöhnt werden und Menschen für ihre Armut bestraft werden“, heißt es in einem Brief an die ungarische Botschaft in Wien sowie an Außenminister Michael Spindelegger. Die Armutskonferenz drängt die EU-Kommission, rechtliche Schritte gegen Ungarn zu prüfen. Dass Mittellose dorthin wandern, wo die Versorgung mit dem Allernötigsten funktioniert, ist noch kaum auf dem sozialpolitischen Radar;

Armutsmigranten innerhalb Europas sind nicht vorgesehen. Deshalb fehlt es an grenzüberschreitenden Wohlfahrtsprogrammen. Vielleicht ist das Problem zu neu: In Österreich sprang die miserable Lage der Obdachlosen aus EU-Ländern, die kein Auffangnetz spannen oder sie – wie im Fall Ungarn – kriminalisieren, erst Ende 2009 ins Auge, als das von Studenten besetzte Audimax geräumt wurde. Viele hatten hier ihren Schlafplatz aufgeschlagen. „Obdachlosigkeit innerhalb der EU wird uns in den nächsten zehn Jahren noch beschäftigen“, prophezeit Caritas-Mitarbeiter Martin Strecha-Derkics.

Foto: Sebastian Reich für profil

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges