ÖBB: Ein Datenskandal mit System

ÖBB: Datenskandal mit System - Kranke Mitarbeiter müssen Diagnose preisgeben

Mitarbeiter müssen ihre Diagnose preisgeben

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Die Geschichte war nicht zu glauben: Ein ÖBBler, der im Verschub arbeitet, hatte sich die Hand gebrochen. Als er aus dem Krankenstand zurückkam, wurde er zum Betriebsarzt bestellt. Reine Routine nach dem Eisenbahndienstrecht.

Was dann passierte, war allerdings weit außerhalb des Üblichen und des Erlaubten: Im arbeitsmedizinischen Zentrum lief ihm sein Chef über den Weg, der es sich partout nicht nehmen lassen wollte, beim ärzt­lichen Gespräch dabei zu sein. Auch in einem zweiten Fall soll es zu ­einer derartigen ungesetzlichen Vor-Ort-Recherche gekommen sein. Von profil dazu befragt, hielt sich der Regionalleiter kurz: „Wenden Sie sich an die Kommunikationsabteilung. Ich habe kein Bedürfnis, mit ­Ihnen zu reden.“

Da war er vergangene Woche nicht der Einzige. Via „News“ war publik geworden, dass ein aidskranker ÖBB-Mitarbeiter von seinen Vorgesetzten gezwungen worden war, seine Diagnose preiszugeben. Nun steht bleiern schwer der Verdacht im Raum, dass sich der staatliche Konzern – nach Deutscher Bahn, Lidl und Tiger Lacke – in die Reihe der großen Datenmissbrauchsaffären einreiht.

Laut profil vorliegenden Informationen wurden körperliche Gebrechen, Verletzungen und ärztliche Behandlungen in großem Stil erfasst und auf Anweisung von oben quer durch alle Bereiche für die Bewertung von Mitarbeitern herangezogen. Unter dem sperrigen Titel „‚Fehlzeitenmanagement“ etablierten sich unter der Ägide des im Sommer abgetretenen Personalchefs Franz Nigl dubiose Praktiken – alle mit dem erklärten Ziel, die Krankenstände zu verringern. Empfohlen wurden Hausbesuche durch Vorgesetzte und Krankenstandsrückkehrgespräche, im ganzen Konzern kursierten Formulare mit ­einem „Diagnose“-Feld zum Ausfüllen.

Sowohl Nigl als auch sein Nachfolger konnten vergangene Woche „aus zeitlichen Gründen“ nicht Stellung nehmen. Selbst der Chef der Eisenbahner-Gewerkschaft, Wilhelm Haberzettl, war nicht erreichbar. Im ÖBB-Konzern liefen die Telefone heiß, nach außen war man um Abkühlung bemüht. Der Sprecher richtete aus, der Vorstand der ÖBB Holding AG, Peter Klugar, „hat sofort reagiert und unter der Leitung des neuen Personalchefs Emmerich Bachmayer eine Untersuchungskommission installiert. Die Kommission ist seit Mittwochnachmittag im Einsatz. Als erster Schritt wurden mit sofortiger Wirkung alle Formulare durchforstet bzw. werden ab ­sofort alle Felder, die das Thema Diagnose betreffen, gestrichen.“

Daten löschen. Alle Verantwortlichen seien angewiesen worden, „dass etwaige Erhebungen von Diagnosen sowohl schriftlich als auch mündlich zu unterlassen sind“. Was es nicht gebe, sei eine „zentrale Datenbank, die sämtliche Fälle archiviert. Die ÖBB haben sofort gehandelt und werden in den nächsten Tagen in sämtlichen Unternehmen des Konzerns dafür sorgen, dass alle diesbezüglichen Daten gelöscht werden, so vorhanden.“

Dem grünen Nationalrat Karl Öllinger ist das zu wenig. Er verlangt, dass die Causa von Datenschützern untersucht wird, „die über jeden Verdacht erhaben sind. Es muss sichergestellt werden, dass nichts ­vertuscht wird. Hier wurde ein Überwachungssystem offenkundig, das dazu diente, Mitarbeiter einzuschüchtern und Kranke auszusortieren.“ Auch für Infrastrukturministerin Doris Bures, zu der die ÖBB ressortieren, steht außer Frage, „dass eine solche Praxis sowohl vom menschlichen als auch vom rechtlichen Standpunkt aus nicht zu tolerieren wäre“. Allerdings gehe sie ­davon aus, „dass die von den ÖBB eingesetzte Untersuchungskommission Klarheit schafft. Alle Vorwürfe müssen restlos aufgeklärt werden.“

Nach den Datenmissbrauchsaffären der Vergangenheit war es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste auffliegt, sagt Hans Zeger, Obmann von Arge Daten. Der erwähnte Fall der Verschubmitarbeiter birgt selbst für ihn eine erschreckende, neue Qualität: Dass ein Vorgesetzter zum Arzt mitgeht, sei „völlig jenseits“. Davon abgesehen, dass so eine „Dienstverfehlung ein Grund für eine Entlassung ist“, zeigten solche Auswüchse, „dass es nicht mehr um ein bisschen Überwachung hier und da geht, sondern darum, dass man über die Leute wirklich drüberfährt“. Rechtlich ist es belanglos, ob Bedienstete „freiwillig“ über ihre Krankheiten reden oder sie dazu genötigt werden. „Es ist verboten, nach einer Diagnose auch nur zu fragen. Gesundheitsdaten dürfen am Arbeitsplatz nicht ermittelt werden“, sagt Zeger. Leider seien die Sanktionen zahnlos. Die geschädigten Mitarbeiter haben im Prinzip nur einen Unterlassungsanspruch. Erst wenn ein konkreter Schaden entstanden ist, wird Schadenersatz fällig.

Bis zum Juli fungierte der 2004 zu den ÖBB geholte Telekom-Manager Nigl als oberste Instanz für 42.000 Mitarbeiter. Nigl war nicht nur Geschäftsführer der Dienstleistungsgesellschaft (DLG), sondern darüber hinaus Prokurist in 16 Konzerngesellschaften, zuständig für Personalangelegenheiten. Sein Steckenpferd war die „betriebliche Gesundheitsvorsorge“, wie er in einer Pressekonferenz 2007 erörterte. Im Konzern zeigte sich bald, dass es ihm jene „Goldenen Regeln“ besonders angetan hatten, die das Beratungsunternehmen McKinsey in einer Langzeitstudie ­herausgefiltert hatte: Als erfolgreiche Maßnahmen zur Fehlzeitenreduzierung werden darin Krankenbesuche, Rückkehrgespräche und – auf Platz zwölf – Gespräche mit behandelnden Ärzten gepriesen.

„Etwa 2007 wurde klar, dass Diagnosen systematisch erfasst und eingesetzt werden“, erinnert sich ein Betriebsrat. Jeder, der versetzt oder befördert werden wollte und mehr als eine intern festgelegte Zahl von Krankenstandstagen aufwies – anfangs galt alles bis 20 Tage als „unbedenklich“, später wurde der Wert auf 15 reduziert –, musste seine Krankenstände offenlegen.

Intensiv kritisch. Ein internes ÖBB-Handbuch, das profil vorliegt, unterweist die Führungskräfte in drei Arten des Krankenstandsrückkehrgesprächs: das „kurze fürsorgliche“, das „intensiv fördernde“ und das „intensiv kritische“. Letzteres ist für Mitarbeiter gedacht, denen unterstellt werden darf, „dass egoistisch geleitete und dem Unternehmen Schaden zufügende Gründe die Ursache für das Fehlen“ sind. Die Gespräche mussten dokumentiert werden. Ein profil ebenfalls vorliegendes Schreiben vom August 2007 legt den Führungskräften der ÖBB Infrastruktur Bau ein spezielles Formular ans Herz. Darauf findet sich die Rubrik: „Erklärungen des Mitarbeiters zum Krankenstand“. Was sich im Unternehmen unter dem Schlagwort „Gesundheitsvorsorge“ ausbreitete, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Angstregime, erzählt ÖBB-Betriebsrat Klaus R.*: „Die Botschaft lautete: Wer krank ist, hat Nachteile.“

Vergangene Woche erst habe sich ein Kollege bei ihm ausgeweint. Der Fahrdienstleiter auf einem Großbahnhof in Oberösterreich hatte sich um einen Posten beworben und wurde von seinem Vorgesetzten aufgefordert, seinen Krankenstand zu „begründen, und zwar zurück bis zum ersten Tag“. Nachsatz: „Das verlangt die DLG.“ Die Auflistung reichte bis Mitte der achtziger Jahre zurück und enthielt unter anderem einen Autounfall und eine Magenblutung, die den Mann fast das Leben gekostet hätte. Den Posten habe er – wenig überraschend – nicht bekommen.

Betriebsrat R. seufzt: „Chronisch Kranke bewerben sich nicht einmal mehr.“ Einem anderen Kollegen machten die Bandscheiben zu schaffen. Monatelang stopfte er sich mit Schmerzmitteln voll. Sich krankschreiben lassen wollte er nicht: „Da hätte er seine Versetzung vergessen können.“ Für die Operation habe er sich Urlaub genommen. R. sagt, er habe den Kollegen aufmerksam gemacht, dass das nicht rechtens sei. „Hast du eine bessere Idee?“, fragte er. Der Betriebsrat hatte keine.

Fiebereinsatz. profil traf Max S.* in einem Café in Wien. Er ist Verschubbediensteter. Wo, will er nicht sagen. Auch er ist schon mit 38,7 Grad Fieber im Dienst gestanden, nur um bei den Krankenstandstagen im Rahmen zu bleiben. Er weiß, wie verantwortungslos das ist. Der Job des Verschiebers gehört zu den gefährlichsten in den ÖBB. Das persönliche Risiko ist enorm, wenn ein Mann vier bis fünf Waggons, von denen jeder zwischen 50 und 80 Tonnen wiegt, mit einem Hemmschuh abfangen muss. Immer wieder kommt es zu Verletzungen. S. kennt Kollegen, die ihre Finger verloren, manchen wurden beide Beine abgedrückt. Was passieren kann, wenn ein Güterzug ungebremst in einen Passagierzug kracht, will er sich nicht ausmalen: „Im Verschub gibt es Extremsituationen, wo man bereit sein muss, sein Leben zu ­riskieren.“ Vor zwei Jahren bekam S. Probleme mit den Knien. Ein Meniskus musste entfernt werden, „seither gehe ich am Knorpel“. Nach fünf Monaten Krankenstand drängte man ihn, sich gesundschreiben zu lassen. Der Chefarzt aber verbot S., an die Arbeit im Verschub auch nur zu denken – und schrieb ihn einen Monat länger krank.

Als S. sich später näher an seinen Wohnort versetzen lassen wollte, schaffte er es nicht einmal in die engere Auswahl. Offiziell hat er den Grund dafür nie erfahren. Irgendwann raunte ihm sein Chef zwischen Tür und Angel zu: „Du hast halt mit den Krankenständen nicht entsprochen.“ S. sagt, er habe kein Problem damit gehabt, über seine gesundheitlichen Probleme zu reden. Einen Krebsbefund oder eine Geschlechtskrankheit behalten Menschen lieber für sich.

Druck von oben. Die Vorgesetzten, die ihre Mitarbeiter so lange quälen, bis sie mit einer Diagnose herausrücken, stehen ihrerseits unter Druck, sagt ein Wiener Betriebsrat: „Auf Deutsch gesagt: Die stiegen ihren Leuten auf die Zehen, damit sie ihre Kennzahlen erfüllen.“ Im Internet kursiert seit Ende vergangener Woche ein Video, auf dem ein schwarz eingefärbter Mann die ÖBB anonym anklagt: „Das hat System“, sagt er mit verzerrter Stimme, aus Angst „vor schlimmsten Repressalien“ traue sich niemand in der Öffentlichkeit dagegen aufzutreten (http://www.youtube.com/user/heinzpool).

Auch Franz P.* berichtet nur unter dem Schutz der Anonymität über seine Erfahrungen mit „dem System Nigl“. Der ÖBBler, ein Lokführer um die 45, macht keinen schüchternen Eindruck. Doch er wollte weder seinen Namen noch seinen Dienstort öffentlich machen. „Wenn rauskommt, dass ich mit Ihnen gesprochen habe, bin ich erledigt.“ P. sagt, in seinem Bekanntenkreis gebe es „25 Leute, denen eine Krankheit zum Verhängnis geworden ist“. Im Kollegenkreis sei das Thema kein Geheimnis: „Es ist Gespräch im Pausenraum.“

Im August 2008 interessierte sich P. für einen anderen Posten. Als sein Vorgesetzter davon erfuhr, legte er die Stirn in Falten und erklärte, P. liege zwei Tage über dem Krankenstandslimit und müsse mit einer Ablehnung rechnen. Dann fragte er: „Was hast du gehabt?“ Schnippisch fragte P. zurück: „Ist das wichtig?“ „Ich muss es aufschreiben, die DLG will das wissen“, bekam er zur Antwort.

P. erzählte seinem Chef, den er seit vielen Jahren kennt und mit dem er fast befreundet ist, dass der Arzt einen Herzfehler festgestellt habe und weitere Untersuchungen nötig seien. Ein paar Wochen später erkundigte sich sein Vorgesetzter: „Ist alles wieder okay?“ P. sagte: „Das weiß nur der Doktor.“ Den Posten hat er nicht bekommen. Eine schriftliche Begründung für seine Ablehnung auch nicht. Sein Chef sagte: „Weißt eh, das war ein Problem mit deinen Krankenständen.“

Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, und die Angst, in der Öffentlichkeit als Tachinierer dazustehen, lähmen den Widerstand. Inzwischen erübrigt sich der Druck: Viele Bedienstete legen von sich aus alles auf den Tisch, „manche geben ihre Dia­gnose mündlich bekannt, manche schriftlich, und manche schicken ihren ganzen Befund an die Personalabteilung“, sagt Betriebsrat Klaus R.: „Es ist zum Verzweifeln.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges