Hiesige und Fortige

Grüne Städte, schwarzes Land: Gibt es in Österreich zwei Welten?

Lebensstil. Grüne Städte, schwarzes Land: Gibt es in Österreich zwei Welten?

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Einmal im Jahr, kurz bevor der April zu Ende geht, macht sich von Maria Laach am Jauerling eine seltsame Abordnung in Richtung großer Stadt auf. Sie besteht aus der örtlichen Trachtenkapelle und einem Dutzend Freiwilliger, die stark und trinkfest sein müssen. Schließlich gilt es am Elterlein-Platz in Wien-Hernals einen 13 Meter hohen Holzstamm aufzurichten und die Gläser zu erheben, wenn er dann endlich steht: der Maibaum für die Wiener.

Martin Heintel vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien hat ein Faible für ländliche Verirrungen in der Stadt, "weil sie die Sehnsüchte der Städter nach dem Land sichtbar machen“ - und solche Wunschbilder gehören neben harten Fakten irgendwie auch zu seinem Spezialgebiet: der Erforschung und Belebung des ländlichen Raums.

In den Nachbetrachtungen zu den jüngsten Landtagswahlen in Tirol und Salzburg hoben sich Stadt und Land so scharf voneinander ab wie selten zuvor. Innsbruck, die Universitätsstadt im tiefschwarzen Bundesland Tirol, war bei dem Urnengang am 28. April mit relativer Mehrheit an die Grünen gefallen. Eine Woche später passierte dasselbe noch einmal im rot regierten Salzburg. Die ÖVP wiederum hatte ihre Bastionen in den Regionen gehalten. Österreich scheint gespalten: hier die Grünen in der Stadt, da die Schwarzen am Land.

Dabei haben Raumplaner seit jeher Mühe, die Sphären auseinander zu halten. Denn dazwischen wuchern jede Menge Übergangszonen, sogenannte "rurbane“ Räume, in denen sich Reihenhäuser, Einkaufstempel, Büroparks und alte Ortskerne wild vermischen. "Schlägt man sie dem Land zu, lebt eine Hälfte der Bevölkerung urban und die andere rural“, sagt Gerlind Weber, Professorin für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien. Auf ihrer Österreich-Karte gibt es keine zerfurchten Gebirgslandschaften, auch die Flüsse und Wälder fehlen. Nur Stadtregionen und rundherum Land, soweit das Auge reicht: Die strukturstarken Gebiete sind blau eingefärbt, die strukturschwachen rot.

Wo sich die unansehnlichen grauen Flecken der Ballungsräume ausbreiten, konzentrieren sich im richtigen Leben die Jungen und Aufstiegswilligen. Sie ziehen in die Städte, weil es dort Schulen und Universitäten gibt, interessante Jobs, Inspiration und Glamour. Dafür fehlt der Nachwuchs dort, wo Webers Landkarte in Rottönen leuchtet, im Waldviertel und im Mühlviertel, im Südburgenland und im südöstlichen Teil der Steiermark. Hier ging in den vergangenen Jahrzehnten ein Drittel der Bewohner verloren. Während die Städte ungebrochen expandieren - so soll Wien bis 2032 um die Größe von Graz wachsen -, schrumpfen Regionen wie das Kärntner Gailtal. "Das ist die Tragik des ländlichen Raums“, sagt Weber.

Das Gros der Jungen, die zu Ausbildungszwecken auspendeln, will nicht mehr zurück. Als die Bundesanstalt für Bergbauernfragen vor zehn Jahren die Tristesse der Jugendlichen im steirischen Murgebiet auslotete, fiel das Fazit ähnlich aus. Der Titel, den das Forscherduo Thomas Dax und Ingrid Machold dem Abschlussbericht verpasste, sprach für sich: "Jung und niemals zu Hause“.

Die befragten Burschen und Mädchen würdigten ausgiebig die unverdorbene Natur und fühlten sich in den dörflichen Strukturen geborgen. Doch die Idylle erwies sich letztlich als perspektivenlos: 40 Prozent pendelten nach Knittelfeld oder Klagenfurt zur Schule oder zum Lehrplatz. Die meisten von ihnen fuhren nur an den Wochenenden heim.

Eine Dekade später kann der ländliche Raum zwar mit hübschen Erfolgsgeschichten aufwarten. Das Tiroler Außerfern mauserte sich, von Oberösterreich bis nach Unterkärnten stechen Vorzeigeorte heraus. Doch das ändert wenig am Generalbefund. Vor allem die jungen Frauen kommen dem Land abhanden. Sie sind besser ausgebildet, strebsamer und mobiler als die gleichaltrigen Männer und ziehen in ihren Zwanzigern vom Waldviertel nach Krems, vom Mühlviertel nach Amstetten, um etwas aus ihrem Leben zu machen.

Zurück bleiben die Männer.
Die Statistiker des Landes Steiermark rieben sich die Augen, als sie vor einigen Jahren feststellten, dass im Gros der Verwaltungsbezirke in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen ein Frauenmangel ausgebrochen war. In schwach entwickelten Regionen wie Murau, Leoben, Judenburg oder Bruck an der Mur kamen auf sieben Männer in der dritten Lebensdekade nur noch fünf weibliche Pendants. Von den Daten aufgescheucht, beauftragte die Landesregierung in Graz die Boku-Professorin Weber mit einer Studie.

Gemeinsam mit Co-Autorin Tatjana Fischer interviewte sie jungen Frauen aus zehn Gemeinden quer durch die Steiermark: 56 Prozent von ihnen hatten bereits woanders gelebt. Ihre Wanderlust verdankte sich fehlenden Zukunftsaussichten am Land. "Eine Anstellung vor der Haustür zu bekommen ist kaum möglich“, erzählte eine Frau aus Weinburg am Saßbach.

Der regionale Arbeitsmarkt ist auf Männer zugeschnitten. Jobs gibt es vor allem dort, wo manuell zugepackt werden muss, in Handwerksberufen und in der Land- und Forstwirschaft. Junge Männer übernehmen Höfe, Betriebe und wichtige Rollen im Vereinsleben. Sie sind stärker an ihre Orte gebunden als die jungen Frauen.

Zu den wenig überraschenden Befunden gehört, dass die Jungen am Land durch und durch motorisiert sind. Pendeln ist so alltäglich wie Zähneputzen. Selbstredend besaßen alle befragten Frauen den Führerschein, fast jede hatte rund um die Uhr ein Auto zur Verfügung. Das ist, neben der höheren Bildung - 15 Prozent der Befragten hatten einen Pflichtschul-Abschluss, 38 Prozent Matura, acht Prozent ein Unistudium - der größte Unterschied zwischen den Generationen: In der Altersklasse ihrer Mütter fuhr nicht einmal jede Zehnte Auto.

"Der ländliche Raum muss urbaner werden“
, sagt Martin Heintel. Er meint die Zusammensetzung der Bevölkerung. Wenn die Jungen, die auswärts eine Lehre absolviert, ein Studium abgeschlossen und berufliche Erfahrung gesammelt haben, an eine Rückkehr denken, stoßen sie in ihrem Heimatdorf auf geschlossene Reihen. Heintel: "Man ist am Land leicht beleidigt, wenn jemand weggeht.“

Bürgermeister, die über den nächsten Frühschoppen hinausdenken, reden sich den Mund fusselig, Integration bedeute nicht nur die Einbindung von Gastarbeiterkindern und Flüchtlingen. Auch die Rückkehrer seien gemeint.

An dieser Stelle flicht Weber gerne die Geschichte von dem kleinen Ort im Mühlviertel ein, der einmal im Jahr ein Fest für "Dasige“, "Hiesige“ und "Fortige“ ausrichtet: So hält man die Einheimischen, die immer schon da waren, die Dazugekommenen und die Weggegangenen zusammen - zum Nutzen und Gaudium aller: "Das alleine reicht zwar noch nicht, um sich im Wettbewerb um die besten Köpfe zu behaupten. Aber es ist jedenfalls gescheiter, als den Jungen einzureden, dass sie ihr Dorf nur ja nicht im Stich lassen dürfen.“

Nicht alle wählen freiwillig das Leben in der Stadt.
Laut Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier ist die Landjugend auch anno 2013 traditionell gepolt: "Man orientiert sich an den Eltern und geht fast völlig in der dörflichen Gemeinschaft auf.“ Wer weder bei der Feuerwehr ist noch im Laientheater mitspielt, gilt als Sonderling. Wie Studien zeigen, halten sich die Werte der Nachkriegsgeneration erstaunlich frisch. Ein Eigenheim, Familie, Kinder gelten vielen Jungen am Land als erstrebenswerte Ziele: "Das bestimmt das Wahlverhalten weitaus stärker als die Art und Weise, wie man lebt“, so Heinzlmaier.

Das Internet vernetzt urbane Zentren mit schwer erreichbaren Talschlüssen. Selbst einst abgeschlossene rurale Miliös sind vor urbanen Einflüssen nicht gefeit. Das erklärt, warum die Meister politischer Kampagnen die klassischen Schicht-Modelle auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen haben. Gleiches Einkommen und gleiche Bildung bedeuten nicht, dass man am Wahlsonntag auch an der gleichen Stelle das Kreuzerl macht. Nur ausgefeilte Milieustudien vermögen zu erklären, warum die Vertreter des Postmaterialismus, eine Kernwählerschicht der Grünen, häufiger in der Stadt leben, warum es sie aber auch am Land gibt, und dass es sich bei ÖVP-affinen Gruppen wie den Traditionellen und Konservativen umgekehrt verhält. "Die Elite- und Leistungsmilieus finden sich überproportional in den Ballungszentren, die traditionellen-bürgerlichen Milieus am Land. Doch grundsätzlich gilt, alle Milieus finden sich überall“, erklärt Martin Mayr, Co-Geschäftsführer des Sozialforschungsunternehmens Integral.

Regionalpolitik kann Impulse setzen.
Fachhochschulen etwa wirken im Radius von 50 Kilometern belebend. "Ganze Regionen kann man nicht umdrehen, so ehrlich muss man sein,“ sagt Weber. Die kleine Waldviertler Gemeinde Langau hat heute keine 700 Einwohner mehr, ein Drittel weniger als Anfang der 1980er-Jahre. Pro Jahr wird nur noch ein Kind eingeschult. Kein Kampfmarketing-Konzept der Welt wird den Ort im Grenzland zu Tschechien herausreißen, ihm bleibt nur noch "kontrolliertes Schrumpfen“.

Die bei den Landtagswahlen grün gewordene Universitätsstadt Innsbruck hat im Vergleich dazu exzellente Karten. Die Akademikerquote beträgt 24 Prozent, außerdem macht sich die Provinzmetropole in der "blauen Banane“ breit: So nennen Raumplaner die blau eingefärbten strukturstarken Regionen, die sich wie ein Nachhall der großen Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts von London über den bayrischen Raum bis in die italienische Po-Ebene hinein ziehen. Der Westen Österreichs lag auf dem Weg. "Doch selbst hier ist es oft nur ein Katzensprung zu den Schlusslichtern der Bildungsstatistik“, sagt der Innsbrucker Politikberater Peter Plaikner: Schwaz, ein durch den Tourismus reich gewordener Bezirk und nur zwanzig Autominuten von Innsbruck entfernt, fällt landesweit durch die geringste Bildungsbeteiligung in der Gruppe der 14- bis 19-Jährigen auf.

Seit der Volkszählung 1951 wächst Österreich. Zwanzig Jahre lang konnte man sich auf die Gebärfreude im eigenen Land verlassen, seit den 1970er-Jahren auf die internationale Zuwanderung. Freilich sind Wachstumsfreuden und Niedergangsschmerzen regional unterschiedlich verteilt: Zulegen werden laut Prognosen der Österreichischen Raumordnungskonferenz die Städte und ihr Umland, allen voran der Großraum Wien. Für schwer zugängliche Regionen wie die Obersteiermark, Unterkärnten, Osttirol und den Salzburger Lungau schaut es in den Szenarien bis 2050 düster aus.

Darauf vor allem starren die Raumplaner:
Sinkt die Bevölkerungsgröße, sinken die Geburten, schwindet das Reservoir an Arbeitskräften und die wirtschaftliche Potenz. Dann will auch keiner mehr kommen. Nur Wachstum generiert noch mehr Wachstum.

Stadt und Land stecken im Kampf gegeneinander fest, nicht nur in den Prognosen der Raumplaner, sondern auch in den oft ideologisch gefärbten Debatten über Zentrum und Peripherie: Von einst einer halben Million Bauernhöfen sind heute nur noch 180.000 übrig. Die Agrarquote im ländlichen Raum sank auf 14 Prozent, die Wertschöpfung beträgt magere vier Prozent. Trotzdem wird der ländliche Raum fast ausschließlich durch das Prisma der Landwirtschaftspolitik betrachtet. "Viele Geschichten, die Städter und Landbewohner übereinander kolportieren, entsprechen schon lange nicht mehr dem Stand der Entwicklung unserer Gesellschaft. Aber sie wirken und deshalb werden sie ständig weiter erzählt“, konstatiert Harald Katzmair vom Sozialforschungsinstitut FAS.research.

Vor der Landtagswahl in Tirol wurden Bauernfunktionäre nicht müde daran zu erinnern, dass die Rotgrünen in der Stadt Eigentum nicht schätzen und bloß auf eine Gelegenheit lauern, den Landwirten Grund, Boden und Förderungen zu entziehen. Dafür pflegt sich die politische Konkurrenz mit der Mär vom Bauern zu revanchieren, der alles Geld einstreift und für Kindergärten, Spitäler und Arbeitsmarktpolitik nichts übrig lässt.

Mit dem ideologischen Vorschlaghammer lässt sich in Wahlkampfzeiten immer noch am besten mobilisieren. Die triviale Tatsache, dass Stadt und Land zwar widersprüchliche Erfahrungen sind, aber auf Gedeih und Verderb voneinander abhängen, kommt dabei zu kurz: Trinkwasser, Frischluft, Bauhölzer, Hochlandrinder, Zuchtforellen, Obst, Gemüse, Bergmilch und die Spitzenweine für die Städter kommen in der Regel aus den am wenigsten verdichteten Regionen außerhalb der Ballungsräume.

Die Zonen der Hoffnungslosigkeit könnten sich in fünfzig oder hundert Jahren als wertvolle Reserveflächen für die Gewinnung von Solarenergie oder Bio-Treibstoffen herausstellen, meint Katzmair: "Wer sagt denn, dass immer alles gleichzeitig in voller Blüte stehen muss?“ Das Brachland von heute als landwirtschaftliches Kapital der Zukunft, mit diesem Gedanken kann sich auch Boku-Professorin Weber anfreunden: "Wir müssen nur darauf schauen, dass es in den Regionen noch Menschen gibt, die nicht resigniert haben und den Wandel auch bewerkstelligen.“ Vielleicht erhalten die ländlichen Maibaum-Aufstelltruppen in ferner Zukunft Verstärkung. Sie könnte aus der Stadt kommen.

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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges