Österreichs Abfahrts- team in der Krise

Österreichs Abfahrtsteam in der Krise: Vor allem der Nachwuchs schwächelt

Skisport: Vor allem der Nachwuchs schwächelt

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Von Rosemarie Schwaiger

Der Gag kam gut an, zumindest in Österreich: Im Herbst 2005 startete der Schweizer Skiverband (Swiss-Ski) eine Solidaritätsaktion für den lokalen Wintersport. „Retten Sie den Schweizer Skistar vor dem Aussterben“ stand auf Plakaten, die um Spenden für die notleidende Branche warben. Präsentiert wurde die Kampagne im Zürcher Zoo, wo die Ski­stars des Landes neben anderen bedrohten Arten wie Luchs und Braunbär posierten und um rasche Hilfe baten: „Wir dürfen nicht von der Erdoberfläche verschwinden.“ Das österreichische Publikum lachte herzlich über so viel Selbstironie. Auch ein wenig Mitleid mit dem alpinen Erzrivalen fand sich auf den Sportseiten heimischer Tageszeitungen: Tief sind sie gesunken, die Schweizer. Arm, irgendwie. Sogar Peter Schröcksnadel, Präsident des österreichischen Skiverbands (ÖSV), bewies Empathie: „Die Schweizer haben es verabsäumt vorzusorgen. Jetzt stecken sie in einer Krise, aus der man sehr schwer wieder herauskommt“, sagte er.

Aber im Rennsport kann es nun mal schnell gehen – und das nicht nur bergab. Geld hat Swiss-Ski laut eigenen Angaben nach wie vor zu wenig, aber das Aussterben wurde bis auf Weiteres verschoben. Didier Defago, einer der traurigen Posterboys von 2005, hat in der laufenden Weltcupsaison bereits die Abfahrtsklassiker in Wengen und Kitzbühel gewonnen. Zwei Herrenabfahrten gingen an italienische Fahrer, nur in Gröden war der Österreicher Michael Walchhofer vorne. Bei den Damen holten die USA und Schweden je einen Abfahrtssieg, einmal triumphierte die junge Schweizerin Dominique Gisin. Die Österreicherinnen gingen leer aus und schafften in drei Rennen keinen einzigen Podestrang. Bestes Ergebnis der Damen waren zwei fünfte Plätze.

Königsdisziplin. Krisen pflegen im heimischen Skisport, wenn überhaupt, nur auf hohem Niveau stattzufinden. In der Nationenwertung liegt Österreich wie immer weit voran, und auch im Slalom und Riesenslalom gibt es Erfolge en suite. Doch die Schwächen beim Schussfahren kann das nicht wirklich kompensieren. Die Abfahrt (vor allem der Herren) gilt nach wie vor als Königsdisziplin im alpinen Skirennsport und fasziniert das Publikum mit Abstand am meisten. Das Selbstverständnis Österreichs als Top-Skination stammt zu einem großen Teil von Siegen, die in tiefer Hocke errungen wurden. Triumphe im Stangenwald sind auch ganz nett, führen aber nicht schnurstracks in Richtung Unsterblichkeit. Richtige Männer fahren geradeaus – und das nach Möglichkeit schneller als die Schweizer.

Am Dienstag beginnt im französischen Val d’Isère die Skiweltmeisterschaft, und Österreich gilt dort zum ersten Mal seit langer Zeit nicht als erklärter Favorit für die Titel in der Abfahrt. Renate Götschl, so genannte „Speed Queen“ im Damenteam, laboriert an einem hartnäckigen Formtief. Die Herren stellen mit Michael Walchhofer und Klaus Kröll zwei potenzielle Medaillengewinner, aber logische Anwärter auf den Sieg sind die beiden nicht. Dass ein anderer Österreicher die Sensation schafft, ist fast auszuschließen: Während es in der Vergangenheit stets ein heftiges Gerangel um die vier Startplätze bei der WM gab, hatten die Trainer diesmal Mühe, neben Walchhofer und Kröll noch zwei halbwegs passable Kandidaten aufzutreiben.

Gesucht: jung, mutig. ÖSV-Präsident Schröcksnadel leugnet nicht, dass es um den heimischen Abfahrtssport schon einmal besser bestellt war. Die Damen bräuchten wieder einmal „ein paar Junge, die sich was trauen“, findet er. Das Herrenteam leide hauptsächlich an den Ausfällen möglicher Siegläufer. „Hans Grugger, Mario Scheiber und Andreas Buder sind verletzt. Da hat die Mannschaft natürlich ein Problem.“ Das solle allerdings keine Ausrede sein. „Wir müssen uns überlegen, wie wir in Zukunft auf so eine Verletzungsserie rea­gieren.“ In Gesprächen mit dem Trainerteam wurde nun ein Maßnahmenpaket beschlossen, das bis zur WM 2013 in ­Schladming eine Besserung bewirken soll. Details will Schröcksnadel nicht verraten. „Sonst machen es uns wieder alle nach.“

Martin Rufener, Cheftrainer der Schweizer Herren-Nationalmannschaft, sieht im Moment allerdings keine Notwendigkeit, dem Rivalen etwas abzuschauen. „Wir haben uns gesteigert, und die ­Österreicher stagnieren“, fasst er die Situa­tion bündig zusammen. Aufrichtige Schadenfreude will bei Rufener aber nicht aufkommen. Denn letztlich haben die Schweizer ähnliche Sorgen wie die Österreicher: Gute Resultate erzielen in erster Linie die Routiniers mit zig Rennjahren in den Oberschenkeln. Subtrahiert man vom Schweizer Abfahrtserfolg die Oldies Cuche und Defago, bleibt nicht viel übrig. „Der Nachwuchs ist seit Jahren ein großes Problem“, seufzt Rufener.
Der Mangel an jungen Talenten liegt zum Teil daran, dass die arrivierten Kräfte immer rüstiger werden und justament nicht in Pension gehen wollen (siehe Kasten). Für den Nachwuchs wird die Wartezeit auf einen Platz im Weltcup damit schier endlos. „Die Durststrecke ist sehr lang“, sagt Peter Schröcksnadel. „Da bleiben leider viele auf der Strecke.“

Doch die Schwierigkeiten beginnen schon vor dem Kampf um die Startplätze im Weltcup. „Im Europacup-Kalender gibt es zu wenig Speed-Rennen“, analysiert der Schweizer Rufener. Grund seien die hohen Kosten für Präparierung und Sicherheitsvorkehrungen, die sich kaum ein Veranstalter im finanziell schwach dotierten Europacup leisten wolle. Der Welt-Skiverband FIS müsste nach Rufeners Meinung endlich eine Mindestzahl von Abfahrten festlegen. Sonst könnte es bald eng werden mit dem Gladiatoren-Nachschub. Als Übungsgelände für die ambitionierte Jugend eignen sich die Weltcupstrecken nämlich nicht. Wer in Kitzbühel oder Wengen an den Start geht, sollte seinen Job bereits halbwegs beherrschen.

Nachwuchssorgen sind für den ÖSV ein relativ neues Problem. Bis vor ein paar Jahren herrschte im Team ein solches Überangebot an Siegläufern, dass es meist nur von Tagesform und Zufall abhing, welcher Österreicher wo auf dem Podest stand. Stephan Eberharter, Hermann Maier, Fritz Strobl, Hans Knauss und Kollegen dominierten die Speed-Disziplinen nach Belieben. Im Dezember feierte der ÖSV das zehnjährige Jubiläum eines österreichischen Neunfachsieges im Super-G auf dem Patscherkofel. Der Abfahrtsweltcup gehörte den Österreichern zwischen 2000 und 2006 gleichsam im Abonnement.

Doch seither spießt es sich. Im Vorjahr gewann der Schweizer Didier Cuche die kleine Kristallkugel, Zweiter war der Amerikaner Bode Miller, erst auf Rang drei landete Michael Walchhofer. Zwischen Dezember 2007 und Dezember 2008 gab es keinen einzigen österreichischen Abfahrtssieg zu feiern. Dafür setzte es Mitte Jänner die schwerste Niederlage seit 15 Jahren: Beim Lauberhornrennen in Wengen war der bestplatzierte Österreicher auf Rang 18 zu finden. In einem Ranking von Sportkatastrophen ist das ungefähr so, als würde Brasilien in der Vorrunde einer Fußballweltmeisterschaft ausscheiden.

Mag sein, dass die Serienerfolge früherer Jahre im ÖSV die Ansicht reifen ließen, das Schussfahren erledige sich quasi von selbst. Seit Frühling 2007 gibt es keine eigene Trainingsgruppe Abfahrt mehr, die Funktion des Spartentrainers wurde nicht nachbesetzt. Aus heutiger Sicht würde der ÖSV diese Entscheidung vielleicht nicht mehr treffen. „Hinterher ist man immer gescheiter. Kann schon sein, dass das ein Fehler gewesen ist“, überlegt Peter Schröcksnadel. Doch dem Skiverband geht es hauptsächlich um den Sieg im Gesamtweltcup. Allrounder wie Benjamin Raich werden deshalb stärker gefördert.

Abfahrt verkümmert. Alex Reiner, Präsident des Salzburger Landesskiverbands, beginnt mit der Analyse von Schwachstellen noch ein paar Stufen tiefer. Bei Nachwuchsmeisterschaften gingen in Österreich deutlich weniger Fahrer an den Start als etwa in Italien. „Wir haben in den letzten Jahren die Abfahrt verkümmern lassen“, findet Reiner. Nicht mal ordentliche Trainingsstrecken für die Jungen gebe es mehr, weil die Sicherheitsvorkehrungen so teuer seien. Nach dieser Saison wünscht sich Reiner eine umfassende Bestandsaufnahme mit anschließendem Neustart.
Geht es nach Hermann Maier, hat die Abfahrtskrise aber ohnehin ganz andere Gründe. Der 36-Jährige hält den Nachwuchs für zu verwöhnt. Heutzutage würde jeder sofort zum Star erklärt, „nur weil er einmal gescheit fährt“, maulte Maier vor ein paar Wochen. „Ich bin damals durch Maurern und Skifahren jeden Tag um eins ins Bett und um fünf aufgestanden. Solche Erfahrungen muss man machen, der Körper muss etwas gewohnt werden. Man muss auch einmal den schwierigen Weg gehen.“ Kollege Michael Walchhofer diagnostiziert Ähnliches: „Die Jungen fahren eh am Limit. Aber manchmal muss man über das Limit hinausgehen.“

Abgesehen davon, dass in der Geschichte der Menschheit vermutlich jede Generation die nachkommende für verweichlicht hielt, kommen solche Erkenntnisse für die bevorstehende WM zu spät. Diesmal muss es noch ohne Maurerlehre und Schlafentzug funktionieren. Peter Schröcksnadel wünscht sich mindestens sechs Medaillen von seinen Skifahrern. „Alles darunter wäre für unseren Aufwand eine Enttäuschung.“ Die Abfahrer müssen nicht unbedingt ein Edelmetall beisteuern. Aber schön wäre es schon.