Entführungszeugnisse

Entführungszeugnisse

Kindesentziehung. Der Rosenkrieg eines Dänen und einer Österreicherin wurde zum Politikum

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Die Mutter hat die Reporter ins Wohnzimmer gebeten. Da steht sie nun, eine zierliche, perfekt geschminkte Frau im hellblauen Leinenkleid, und erzählt von ihrer Angst und wie sehr sie hoffe, dass ihr Sohn bald zu ihr zurückkomme. In einer anderen Ecke des Raums räsoniert ihre Anwältin vor laufender Kamera über das „angemessene und gerechte Urteil“, das der Richter in Graz eben gesprochen hat.

Zwei Stunden ist es her, da stand der Vater im feinen, dunklen Anzug vor dem Gebäude, in dem das Landesgericht untergebracht ist. Ein Jahr bedingte Haft hatte Thomas S. für schwere Nötigung und Kindesentziehung in erster Instanz ausgefasst. Seine Anwältin hat sofort dagegen berufen. Sie war es auch, die den Medienleuten nach dem Prozess Interviews gab. Der groß gewachsene Däne stand daneben und schaute mit einem Pokerface-Lächeln auf Kameras, Mikrofone und Notizblöcke herunter.
Danach hastete er zum Flieger – „ein unbescholtener, freier Mann“, wie es seiner Anwältin wichtig war zu betonen. „Das Urteil ist ja nicht rechtskräftig.“ Es soll keine Auswirkung auf die Obsorge-Entscheidung in Dänemark haben, lautete ihre Botschaft. Mehr als 1000 Kilometer weiter ging das Gezerre um das Kind indes in die nächste Runde. S.s Maschine hatte noch nicht auf dänischem Boden aufgesetzt, da goss sein „Sprecher“ Janus Bang, der zu Hause die Stellung gehalten hatte, bereits Öl ins Feuer. „Wir sind schockiert“, wurde er von dänischen Journalisten zitiert. Das Pressevolk in Graz habe „Lynchstimmung“ verbreitet.

Das stimmt zwar nicht, aber der Boulevard liebt nun einmal das Drama.
Als die Reporter aus W.s Wohnzimmer abziehen und die erschöpfte Hausherrin mit der Hälfte der belegten Brötchen zurückbleibt, stehen die dänischen Berichte bereits online. Die Mutter kommt darin nicht vor, der Pressesprecher des Vaters dafür umso ausführlicher. Tenor: Es sei „ungerecht“, den Vater zu bestrafen. Der Mann habe seinen Sohn bloß „zurückentführt“. Es wäre hilfreich, würde nicht nur er, sondern auch die Mutter bestraft. Österreich habe „hart“ gegen den Vater geurteilt. Die Mutter hingegen habe „die dänischen Behörden bisher noch nicht am Hals“.
Es geht längst nicht mehr nur um ein Paar im privaten Rosenkrieg. Der Däne und die Österreicherin, die einander vor zwölf Jahren beim Skifahren in St. Anton kennen lernten, wurden zu Treibern und Getriebenen in einem Politikum. Dem Vater, der vergangene Woche im Gerichtssaal ein ums andere Mal wiederholte, wie sehr ihm daran gelegen sei, dass der fünfjährige Oliver einen guten Kontakt zur Mutter pflege, stehen obskure Gestalten aus der Väterrechtsbewegung zur Seite. Seit zwei Jahren kampagnisieren sie via Facebook und YouTube: „Thomas, hol dir deinen Buben!“ Jemand postete anonym, man sollte der Mutter „die Kehle durchschneiden“.

Vergangene Woche distanzierte sich S. überraschend. Seine Grazer Anwältin richtete auf profil-Anfrage zunächst aus, der Vater rede nicht mit Journalisten, alle Anfragen seien an seinen Sprecher zu richten. Kurze Zeit später revidierte sie: „Wie in allen europäischen Staaten gibt es auch in Dänemark recht aktive Väter-Plattformen. Herr Bang hat seinen eigenen Verein und eigene Interessen. Das scheint eine Eigendynamik bekommen zu haben.“ Offizielle Auskunftsperson in Dänemark sei seine Anwältin Maryla Wroblewski, was diese in einem Telefonat bestätigte. Warum Bang reihenweise Interviews in S.s Namen gibt, wollte sie weder erklären noch kommentieren.

Auf Facebook nennt sich Janus Bang „Fighteren“ (auf Deutsch „Kämpfer“). Auf seinem Blog www.borgersagen.dk ist der kleine Oliver Dauergast. Nach der Entführung reiste er nach Österreich, um die heimischen Vaterrechtler in der Causa zu briefen. Laut einem profil vorliegenden Dokument erteilte S. ihm im August 2010 eine weitreichende Vollmacht: Seither darf Bang mit Behörden und Journalisten reden und alle Akten einsehen.

Auch die ausländerfeindliche Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei) machte sich für S. stark. Im August des Vorjahrs versprach ihr Sprecher Peter Skaarup öffentlich, „die Sache bis zum Ende zu verfolgen, das ist 100-prozentig sicher“, und warf dem Vater ebenso kryptisch wie aufmunternd zu: „Mach dir keine Sorgen, er kommt nach Hause!“ Hinter den Kulissen galt die Causa bereits damals als Minenfeld. Am 4. April 2012, einen Tag nach Olivers Verschwinden – die heimischen Behörden hatten einen europäischen Haftbefehl gegen seinen Vater erlassen –, mailte eine deutsche Polizeibeamtin an ihren Kollegen in Graz-Eggenberg: „In dieser Angelegenheit haben sich ja scheinbar beide Regierungen eingeschaltet, somit werden dort auf diplomatischem Wege Absprachen getroffen. Die Polizeiführung ist sehr sensibel mit Auskünften, um keine diplomatischen Irritationen herbeizuführen.“ Das Schreiben liegt profil vor.

Die Medien trieben das Sorgerechts­drama voran. Im August des Vorjahrs ­durfte der Vater in der öffentlich-rechtlichen „Aftenshowet“ sein Leid klagen, er erzählte seine Geschichte im Dansk Radio und verteilte Olivers Foto an Zeitungsreporter. In Online-Foren stimmten Leser darüber ab, wo der Bub besser aufgehoben wäre. Seine Mutter sagt, als die „Schmutzkampagne“ auf Österreich übersprang, sei sie „aktiv geworden“. Vergangene Woche strahlte die ORF-Sendung „Thema“ beklemmende Bilder aus; die Anwältin der Mutter, Britta Schönhart, hatte sie am 5. September 2012 in Dänemark aufgenommen. Sie zeigen, wie Mutter und Sohn einander zum ersten Mal seit Monaten begegnen. Oliver windet sich vor Pein und klammert sich am Vater fest. Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass er überfordert und alles andere als glücklich ist.

Seit fünf Monaten steht Olivers Kinderzimmer in Graz leer. Am 3. April 2012 war genau das passiert, wovor seine Mutter sich gefürchtet hatte: Der Vater hatte sie vor dem Kindergarten abgepasst, hatte den Sohn an sich gerissen und war mit ihm davongefahren. Ein Komplize hielt unterdessen die schreiende Frau fest. Er wurde bis heute nicht ausgeforscht. Der Vater verweigert jede Aussage, wer ihm bei der Nacht-und-Nebel-Aktion zur Hand gegangen war. Marion W. sagt, das Gesicht des Unbekannten tauche noch heute in ihren Albträumen auf: „Ich würde den Mann jederzeit wiedererkennen.“

Zweimal durfte sie seither mit ihrem Sohn skypen: „Er sagt nicht einmal Baba zu mir. Ich habe keine Ahnung, was man ihm erzählt hat.“ Auf ihrem Esstisch liegen Fotos aus unbeschwerten Tagen neben den Skype-Bildern, auf denen er kein einziges Mal lacht, immer zur Seite schaut und sein Gesicht mit den Händen verdeckt. Warum er das Kind mit Gewalt an sich gerissen habe, wollte Richter Günther Sprinzel vom Vater auf der Anklagebank wissen. S. wich aus: Er habe das Gefühl gehabt, das Richtige zu tun. Oliver gehe es prächtig, was er mit dem Schreiben einer Kindergartenpädagogin belegen könne.

Marion W. hatte den Mann, den sie nur mehr „Herr S.“ nennt, mehrmals verlassen und war immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Als sie 2006 bemerkte, dass sie von ihm schwanger war, wollte das Paar es noch einmal miteinander versuchen. Oliver war ein halbes Jahr auf der Welt, als der Frau endgültig klar wurde, „dass es nicht geht“.

Bereits Ende 2009 habe ihr Ex-Partner mitbekommen, dass sie nach Österreich zurückwollte, sagt sie. Er habe das für leere Drohungen gehalten, sagt er. Bis heute pocht er darauf, dass sie Oliver zuerst „entführt“ habe – er habe seinen Sohn nur zurückgeholt. Da kann die Anwältin der Mutter noch so viele Dokumente vorlegen, die belegen, dass Marion W. legal aus Dänemark ausgereist ist.

Der Richter, die Journalisten, Familienangehörige, Freunde und Bekannte, alle fragen nun, ob die verfahrene Geschichte noch einen guten Ausgang finden kann. Ja, sagte Vater Thomas S. vergangene Woche: „Wenn ich die Obsorge habe. Ich bin überzeugt, dass Oliver bei mir besser aufgehoben ist.“ Und die Mutter, später in ihrem Wohnzimmer: „Wie soll ich einem Mann vertrauen, der so tut, als wäre er an einer Lösung interessiert, aber in Wirklichkeit alles macht, damit es keine gibt?“

Am 13. Jänner 2012 hatte der 41-jährige Computerfachmann im Rahmen des Pflegschaftsverfahrens sein Wort gegeben, sein Kind „nicht widerrechtlich nach Dänemark zu bringen“. So steht es im Protokoll. Und: „Ich würde niemals wollen, dass mein Kind den Kontakt zu seiner Mutter verliert.“ Eineinhalb Monate später entriss er es seiner Ex-Freundin. Wie es zu diesem „Gesinnungswandel“ gekommen sei, wollte Richter Sprinzel wissen. S. konnte es nicht plausibel machen. Dänische Juristen und Behördenvertreter hätten ihm geraten: „Schnapp ihn dir!“
Nie verliert der Vater ein Wort des Bedauerns. Auf der Fahrt nach Dänemark habe er dem Buben erklärt, seiner Mutter sei nichts passiert. Danach habe Oliver nicht mehr nach ihr gefragt, sondern sich auf seine Oma in Dänemark gefreut. Die Videos, Fotos und Empfehlungsschreiben, die der Vater gesammelt hat, sollen belegen, wie gut sich der Bub entwickle. Seine Mutter aber hat „irre Angst“ um ihn.

Egal, an welcher Stelle man einsteigt, nie führen die Geschichten von Marion W. und Thomas S. zueinander. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier ein Mann seiner Ex-Freundin zeigen will. Als Oliver zwei Jahre lang in Graz lebte, bezahlte er keinen einzigen Cent an Alimenten. Nachdem er sich den Buben am 3. April „geschnappt“ hatte, forderte er jedoch umgehend Unterhaltszahlungen von der Mutter.
Marion W. fühlt sich von der heimischen Justiz im Stich gelassen: „Warum schützt man mich und mein Kind nicht?“ Wenn es hart auf hart geht, muss die Frau in Dänemark um die Obsorge für Oliver weiterkämpfen. „Dort sind wir chancenlos“, sagt ihre Anwältin. „Man kann sich nicht vorstellen, was wir schon alles erlebt haben, bis hin zu einem Obsorgeverfahren, bei dem weder das Kind noch die Mutter angehört wurde. Das wäre bei uns undenkbar.“

Dänemark gegen Österreich: Auch dar­um geht es inzwischen.
Auf der Kommode in Marion W.s Wohnzimmer stehen zwei Laufmeter Aktenordner. Die Hausherrin im hellblauen Leinenkleid streicht mit den Fingern darüber. Sie wirkt müde, doch sie ist zäh und entschlossen. Bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof will sie für Oliver „und alle anderen“ gehen. Eine Sammelklage von Vätern und Müttern, die Ähnliches erlebt haben, ist bereits eingebracht: „Wenn Herr S. mit seiner Gewalttat durchkommt, ist kein Kind in Europa mehr sicher. Das ist ein Präzedenzfall.“

Die Grazer Anwältin Prasthofer arbeitet seit einem Vierteljahrhundert familienrechtliche Causen ab. Der Fall Oliver erinnert sie an den kaukasischen Kreidekreis, „nur dass der ein Rechteck ist. Rund ist gar nichts, gerecht auch nicht.“

Irgendwann wird Oliver sich vielleicht selbst ein Bild von seiner Geschichte machen. Dokumentiert ist sie inzwischen ja bestens.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges