Pensionslügen und keine Hacklerregelung

Pensionslügen und keine Hacklerregelung: Protokoll von Dilettantismus und Scheitern

Protokoll von Scheitern und Dilettantismus

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Von Eva Linsinger und Josef Redl

Beinahe tausend Demonstranten hatten sich am Donnerstag vergangener Woche trotz Schneetreibens auf dem Wiener Ballhausplatz eingefunden. Der Großteil von ihnen: Pensionisten. Fast alle: sauer. Unter den vom Interessenverband der Pensionskassenberechtigten mobilisierten Veranstaltungsteilnehmern ist auch Herbert Dworak. Der 61-Jährige trägt statt eines Pensionistenausweises ein Schild mit der Aufschrift „–43 Prozent“. So viel hat die von seinem ehemaligen Arbeitgeber Bank Austria abgeschlossene Firmenrente gegenüber dem ursprünglichen Wert verloren. „Ich habe mit 55 Jahren ein Angebot meines Arbeitnehmers angenommen und bin in Frühpension gegangen. Seither sehe ich zu, wie die Firmenpension an Wert verliert“, so Dworak. Bitterer Nachsatz: „Ein Ende ist nicht abzusehen.“

Es scheint fast so, als würde sich keiner so recht für die Anliegen der versammelten Pensionisten interessieren. Bundeskanzler Werner Faymann, dem man eine Petition übergeben wollte, war vergangenen Donnerstag im Ausland. Dabei bedarf nicht nur das Pensionskassensystem einer dringenden Überholung. Trotz mehrerer Reformen bleibt Österreich das Land der Frühpensionisten. Denn beinahe alle Ausnahmeregelungen, die es erlauben, vor dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter in den Ruhestand zu gehen, treffen die Falschen.

Der Gier-Faktor
Betriebliche Vorsorge. Was von der zweiten Säule bleibt, sind Pensionskürzungen.

Post von der VBV-Pensionskasse bedeutet für Norbert Hubert meist nichts Gutes. So schlimm wie im November vergangenen Jahres war es noch nie. „Unter Berücksichtigung der oben genannten Performance müssen wir Ihre VBV-Firmenpension ab 1.1.2009 zunächst in einem 15% reduzierten Ausmaß abrechnen“, heißt es in dem Schreiben knapp. Norbert Huber ist kein Einzelfall. Im Durchschnitt haben die österreichischen Pensionskassen im Jahr 2008 13,1 Prozent verloren. Tatsächlich ist die zweite Säule des Pensionssystems ins Wanken geraten. Die Wut der Betroffenen ist besonders groß, weil sie ursprünglich eine gesicherte Firmenpension zugesagt bekommen hatten. Große Betriebe hatten schon seit Langem Betriebspensionen eingerichtet. Üblicherweise sah der Ansparplan vor, dass die Mitarbeiter am Ende ihres Erwerbslebens mit 80 Prozent des Letztbezugs in Rente gehen konnten. In den neunziger Jahren drohten Großunternehmen unter der Last der Rückstellungen zu kollabieren. Die Gründung von externen Pensionskassen sollte Abhilfe schaffen. Die Frage lautete: Wie viel Kapital müssen die Unternehmen den Pensionskassen übertragen, damit die Arbeitnehmer am Ende zu ihrer Pension kommen. Eine solche Berechnung ist eine Gleichung mit einer Unbekannten: dem Veranlagungsgewinn. Dieser wird in der finanzmathematischen Kalkulation mit ­einem fiktiven Wert, dem so genannten Rechnungszins, angegeben. Je höher der Rechnungszins, also der angenommene Gewinn, desto weniger Startkapital muss an die Kassen gezahlt werden. Für die Arbeitgeber war es also sinnvoll, möglichst hohe Renditen einzupreisen, da sie ihre Pensionszusagen dann billig loswerden konnten. Die Pensionskassen wiederum mussten aggressiv (also mit hohen Rendite­zielen) anbieten, um auf dem Markt zu bestehen. Das Risiko, dass die Ertragsziele nicht halten und die Pension gekürzt werden muss, trägt allein der Arbeitnehmer. „Das war eine Art kollektive Fehleinschätzung“, sagt Christian Böhm, Obmann des Wirtschaftskammer-Fachverbandes der Pensionskassen. Bei etwa einem Fünftel der 560.000 Anspruchsberechtigten wurde in den Anfangsjahren mit einer extrem hohen Verzinsung von sechs Prozent und mehr gerechnet. Für diese Generation wird – das lässt sich heute schon sagen – die Höhe der ursprünglich vom Betrieb garantierten Pension nicht zu halten sein. „Es gibt Fälle, die auf 20 Prozent ihres ursprünglich geplanten Niveaus gefallen sind“, so der Vorstand einer großen österreichischen Pensionskasse. Aber auch jene mit einem moderaten Rechnungszins müssen Kürzungen hinnehmen. Aufholen lassen sich angefallene Verluste so gut wie gar nicht: Mit jedem Verlustjahr sinkt das Veranlagungskapital, dadurch werden die Gewinne späterer Jahre geschmälert.

Die 61-jährige Helene Juznic, pensionierte Devisenhändlerin bei der Bank Austria, hat früh geahnt, dass die Prognosen nicht eintreffen werden. „Ich habe ersucht, dass man mir das Kapital auszahlt, aber die Pensionskasse hat abgelehnt“, so Juznic. Seit Pensionsantritt im Jahr 2002 hat sie rund 30 Prozent ihrer Rente verloren. Das Problem: Kaum eine der Betriebspensionen hat ein garantiertes Fixum. Als die meisten Großunternehmen ihre Pensionskassen an private Anbieter übertrugen, ließen sich auch die Arbeitnehmervertreter bei den Verhandlungen von den hohen Erwartungen blenden. Statt einer fixen Pension wurde ein beitragsorientiertes System gewählt, also ein monatlicher Fixbeitrag des Arbeitgebers. Bei hohen Gewinnen eine schöne Sache. Mit dem Platzen der New-Economy-Blase war der Traum von einer Rente jenseits der 80 Prozent vom Letztbezug ausgeträumt. Die Jahre 2001 und 2002 brachten empfindliche Verluste, von denen sich das System bis heute nicht mehr erholt hat. In guten Jahren wird zwar ein Teil der Rendite abgeschöpft, um Schwankungsrückstellungen zu bilden, die in schlechten Jahren ausgeschüttet werden können. „Nach 2008 ist fast nichts mehr da“, so Pensionskassen-Obmann Böhm. Und das, obwohl Mindererträge in Form von Kürzungen ohnehin auf die Pensionen durchschlagen. Gesichert sind Betriebspensionen so gut wie gar nicht. Bis auf die so genannte Mindestertragsgarantie. Die Kassen müssen über einen Zeitraum von fünf Jahren einen Mindestwert garantieren, der sich vor allem am Zinsniveau von Staatsanleihen orientiert und meist bei etwa 1,5 Prozent liegt. Über fünf Jahre gerechnet kommt es so gut wie nie zu einem solch schlechten Ergebnis (die langjährige Durchschnittsrendite der Pensionskassen liegt bei 5,7 Prozent). Auch dann machen die Sparer ein Minus, da für die Berechnung der Pension selbst bei konservativen Modellen drei Prozent Rendite eingepreist werden. „Die Mindestertragsgarantie wäre 2003 zum ersten Mal schlagend geworden und wurde im Handumdrehen auf Drängen der Pensionskassen vom Gesetzgeber beseitigt. Das hat Unmut bei den Betroffenen ausgelöst“, so Josef Wöss von der Arbeiterkammer Wien. Die Neuregelung sah eine deutlich reduzierte Mindestertragsgarantie vor. Da die Anspruchsberechtigten für die Mittel zur Bildung des Garantiefonds selbst aufkommen müssen, verzichtet so gut wie jeder darauf.

Der Rechenfehler
Mitarbeitervorsorge. Dem Erfolgs-modell Abfertigung neu liegt
eine Fehlkalkulation zugrunde.

Die Neuregelung des Abfertigungssystems war Wolfgang Schüssel einst eine Herzensangelegenheit. Als „Mega-Projekt“ und „Herzstück der Reformpolitik der rotweißroten Bundesregierung“ bezeichnete der damalige Bundeskanzler die „Abfertigung neu“ nach der Einigung mit den Sozialpartnern im Frühjahr 2002. Tatsächlich hat die Regelung, die für alle Beschäftigungsverhältnisse seit dem 1. Jänner 2003 gilt, zahlreiche Vorteile gebracht. Die Arbeitgeber zahlen von Beginn an in Vorsorgekassen ein und müssen daher keine Rückstellungen bilden. Arbeitnehmer verlieren ihre Ansprüche nicht, wenn sie selbst kündigen oder der Betrieb Konkurs anmelden muss. „Das Ziel war es, am Ende des Erwerbslebens ein Jahresgehalt des Letztbezugs an Abfertigung zu erhalten“, sagt Wifo-Pensionsexpertin Christine Mayrhuber. Nachsatz: „Das ist in weite Ferne gerückt.“ Bei der Berechnung der Beiträge waren die Sozialpartner nämlich gar optimistisch gewesen. Neben einer jährlichen Lohnerhöhung von drei Prozent war ein Anlagegewinn von sechs Prozent pro Jahr erwartet worden. Die Realität: Im Durchschnitt erwirtschafteten die neun österreichischen Vorsorgekassen seit ihrem Bestehen gerade einmal vier Prozent.

Der Etikettenschwindel
Hacklerregelung. Sie hilft Beamten und Selbstständigen.
Nur Arbeitern nicht.

Manchmal kann der Abschied von der Macht einen Ehrlichkeitsschub auslösen. Als Sozialminister hätte Herbert Haupt nie ein schlechtes Wort über die „Hacklerregelung“ verloren. Wurde doch diese Sonderpensionsform im Jahr 2000 erfunden, um zu signalisieren: Unsere schwarz-blaue Pensionsreform ist gerecht, denn wer lange und schwer arbeitet, wird durch die Hacklerregelung geschützt. Heute hingegen sagt Herbert Haupt in aller Klarheit: „Der klassische Hackler kommt nie in den Genuss der Hacklerregelung.“

Mehr als ein Etikettenschwindel war die Hacklerregelung, die es 2003 sogar zum Wort des Jahres brachte, nie. Unter Hackler stellt man sich gemeinhin einen Bauarbeiter oder sonst jemand vor, der unter anderem Schweiß produziert. Das richtige Klischeebild wäre aber – Anzug und Ärmelschoner. Denn die Hacklerregelung, das Schlupfloch in die Frühpension ohne Einbußen, ist für Beamte, Bankangestellte oder Unternehmer maßgeschneidert. Die Statistik zeigt, dass am Arbeitsmarkt Privilegierte via Hacklerregelung von der Abschaffung der Frühpension ausgenommen sind: Mehr als jeder dritte Bundesbedienstete, der im Vorjahr in Pension ging, tat das via die begünstigte Hacklerregelung. Unter den 2008 pensionierten Angestellten liegt der Anteil der „Hackler“ bei 33, unter den Selbstständigen immerhin noch bei 27 Prozent. In der Berufsgruppe der Arbeiter, für die diese Pensionsform gedacht war, erreichen nur 14 Prozent den begehrten Hackler-Status. „Wir treffen die völlig falsche Zielgruppe“, summiert Martin Gleitsmann, Chef der Abteilung Sozialpolitik der Wirtschaftskammer.

Ein prominentes Beispiel für jemand, der von der Sonderpensionsform profitiert, ist Hans Sallmutter. Der ehemalige Chef der Gewerkschaft der Privat­angestellten verabschiedete sich mit 60 Jahren als „Hackler“ in Frühpension. Wer aber nicht wie ein Gewerkschaftsfunktionär ununterbrochen angestellt war, kommt nie auf die notwendigen 45 (für Männer) oder 40 (für Frauen) Arbeitsjahre. „Der klassische Bauarbeiter schafft es wegen Phasen der Arbeitslosigkeit nicht, in die Hacklerregelung zu rutschen“, weiß Christoph Klein, Leiter der Abteilung Sozialpolitik in der Arbeiterkammer, aus der Praxis.

Das Urteil der Experten über die Hacklerregelung fällt eindeutig aus: Alois Guger vom Wirtschaftsforschungsinstitut nennt sie „unfair“, Sozialrechtler Wolfgang Mazal „sozial nicht treffsicher“. Zudem ist sie einer der Hauptgründe dafür, warum das Pensionsantrittsalter in Österreich kaum steigt: Im Vorjahr wurde der bisherige Rekord verzeichnet, 60 Prozent aller Frühpensionisten sind Hackler, zumindest dem Namen nach. Wenig Wunder, dass die EU-Kommission in der Vorwoche Österreich aufforderte, den Weg in die Frühpension zu erschweren. Der Druck roter und schwarzer Gewerkschafter wog aber schwerer als alle Einwände: Die neue Regierung hat die Hacklerregelung bis 2013 verlängert.

Der Flop
Schwerarbeiterregelung. Produziert wurden viele Expertisen, aber keine Schwerarbeiter.

Es war im Sommer 2004, als Österreich plötzlich ein Land von lauter Schwerarbeitern wurde. Kaum war bekannt, dass für bestimmte belastende Jobs eine Sonderpensionsform geschaffen werden sollte, versuchte sich jede Berufsgruppe in diese Schwerarbeiterpension hineinzureklamieren: Ärzte wegen ihres Stresses, Polizisten wegen ihres Risikos, Chemiearbeiter wegen der Dämpfe oder Forstarbeiter wegen der Kälte im Winter. Berufslisten wurden erstellt und wieder verworfen, der Kalorienverbrauch pro Tätigkeit berechnet, bis 2007 endlich die Definition von Schwerarbeit geregelt war. Die Mühe hätte man sich getrost sparen können. Denn so gut wie niemand schafft vor der Pensionsversicherung den Nachweis, wirklich ein Schwerarbeiter gewesen zu sein. In Zahlen: Nicht mehr als 1300 Menschen gingen unter dem Titel in den vergangenen zwei Jahren in Pension, davon 575 Bauern. „Die Regelung ist ein totaler Flop“, bilanziert der grüne Sozialsprecher Karl Öllinger. „Ein tatsächlich schwer arbeitender Mensch hat keine Chance auf diese Sonderpension.“

Die Klassengesetzgebung
Invaliditätspension. Die Sonderpensionsform wird
vor allem von Bauern und Facharbeitern genutzt.

Ob jemand zu krank zum Arbeiten ist oder nicht, das hängt in Österreich nicht von Bandscheiben, Burn-out und anderen Befunden ab. Sondern schlicht vom Beruf. Hilfsarbeiter, zum Beispiel im Tourismus, können noch so krank sein, sie schaffen es fast nie, den Status „invalid“ zugeschrieben zu bekommen. Unter Bauern hingegen wird 66 Prozent die Invaliditätspension zuerkannt. „Bauern haben eine eigene Pensionsversicherung, die vielleicht freundlich begutachtet“, vermutet Christoph Klein von der Arbeiterkammer einen Grund für die hohe Invalidenrate in gerade diesem ­Berufsstand.

Die Hauptursache für die Schieflage sehen aber er und andere Experten in der Ungleichbehandlung verschiedener Berufe. In der Theorie ist die Invaliditätspension dafür gedacht, schwer Abgearbeiteten den Rückzug in den Ruhestand zu ermöglichen, wenn auch mit Abschlägen. In der Praxis profitieren davon Bauern und Facharbeiter, weil sie Berufsschutz genießen und ihnen kein anderer Beruf als ihr erlernter zugemutet wird. Ungelernte Arbeiter haben zwar teils hohes körperliches Risiko, aber keinen Berufsschutz, sie gelten ­daher als theoretisch auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar, auch wenn es keine Jobs für sie gibt – und landen statt in der Invaliditätspension in der Arbeitslosigkeit oder Notstandshilfe. Selbst der Sozialrechtler Wolfgang Mazal, dem ansonsten jeder Klassenkampf fremd ist, urteilt: „Die Invaliditätspension trägt Züge einer Klassengesetzgebung wie aus dem 19. Jahrhundert. Sie bevorzugt die Bessergestellten.“ Auch Martin Gleitsmann von der Wirtschaftskammer sagt: „Das System ist keineswegs gerecht.“

Diese Ungleichbehandlung ist bekannt, mehrere Sozialminister haben sich schon an der Reform der Invaliditätspension versucht, zuletzt wollte Erwin Buchinger „Gerechtigkeitslücken“ schließen. Auch er ist aber über den Bericht einer Expertengruppe nie hinausgekommen. Sein Nachfolger im Sozialministerium, Rudolf Hundstorfer, hat sich wieder einmal eine Novelle vorgenommen. Sozialrechtler Mazal bezweifelt, dass diesmal die Reform über eine Ankündigung hinauskommt. Denn von einer Änderung wäre die Klientel beider Koalitionsparteien betroffen: „Die Verlierer wären einerseits die Facharbeiter. Außerdem würden bei einer sinnvollen Reform die Arbeitgeber mehr in die Vorsorge investieren müssen.“ Damit gibt es schon zwei maßgebliche Gruppen, die eine Reform keineswegs forcieren – und allemal stärkere Lobbys als Hilfsarbeiter haben.

Fotos: Monika Saulich