Der dreißigjährige Krieg

Pius Walder: Ein Wildererdrama hält Osttirol seit 30 Jahren in Atem

Pius Walder. Ein Wildererdrama hält Osttirol seit 30 Jahren in Atem

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Die Töchter und Enkelkinder sind heimgefahren. In der holzvertäfelten Stube ist es ruhig geworden. Hermann Walder setzt sich unter den Herrgottswinkel. Da, wo normalerweise ein Jesus vom Kruzifix herunterschaut, hängt das Ölbild seines toten Bruders. Ein thailändischer Straßenkünstler hat es vor vielen Jahren von einem Foto abgemalt.

Der Hausherr stellt ein Kaffeehäferl auf den Tisch: „Zur Erinnerung an Wildschütz Pius.“ Daneben die Kerze mit den wütenden Reimen gegen seine „Meuchelmörder“ und das „Schandurteil der österreichischen Justiz“. Marken, Ansichtskarten, Briefbögen. Hermann Walder hat sie mit dem Obduktionsfoto bedrucken lassen. Man sieht einen kahl rasierten Schädel, in dem das Einschussloch deutlich zur Geltung kommt.

„Manche Leute finden das geschmacklos“
, sagt er und zuckt mit den Schultern. Es ist seine Art, den Schwur zu halten, den er am offenen Grab des Bruders leistete. „Das werden sie büßen!“, hatte er am Friedhof im Osttiroler Innervillgraten gebrüllt. Seither sind 30 Jahre vergangen. Fragt man ihn, ob er es nicht manchmal leid sei, das Unrecht hinauszuschreien, donnert es aus ihm hervor: „Gegen diese Saubande werde ich bis zu meinem letzten Zappler kämpfen.“

Mit seinen schlohweißen Haaren, dem pechschwarzen Schnauzer und dem roten Tuch um den Hals wirkt Hermann Walder manchmal wie ein Rächer auf großer Bühne, der es darauf anlegt, das Publikum auch noch auf den hintersten Rängen bis ins Mark zu erschüttern. In einem seiner seltenen, leiseren Momente wird er hinzufügen: „Wäre ich an Pius’ Stelle erschossen worden, hätte er das Gleiche für mich gemacht.“

Vor wenigen Wochen starb der Villgrater Jäger Johann Schett. Am Tag des Begräbnisses postierte sich Hermann Walder mit einem Schild vor dem Friedhof und rief, der Satan habe den Mörder in die Hölle unter die Glut befördert. Aus Schetts Gewehr stammte die Kugel, die in Pius’ Hinterkopf steckte. Die Staatsanwaltschaft hatte seinerzeit auf Mord plädiert. Das Gericht bestrafte den Schützen 1984 wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ mit drei Jahren Haft. Davon saß Schett nur die Hälfte ab.

Die Walders waren nicht die Einzigen im Tal, die gefunden hatten, das milde Urteil stinke zum Himmel. Doch ihr rabiater Feldzug gegen die Justiz war vielen hier unheimlich und irgendwie peinlich. Der Kriminalfall hatte Reporter aus dem In- und Ausland angelockt. Die Illustrierten „Bunte“ und „Stern“ schrieben über den „Wildererkrieg von Osttirol“, „die Walder-Buben und ihre Rache“ und das „Mördertal“, die „Kronen Zeitung“ rapportierte hingebungsvoll sämtliche Etappen einer „Wildereraffäre ohne Ende“.

Im Winter 1985 lag eine tote Gämse auf dem Grab. Unbekannte hatten einen Zettel mit der Botschaft hinterlassen, den Jägern möge das Gleiche widerfahren. So flammte die Geschichte immer wieder auf. Einmal watschte Hermann Walder den Ortspfarrer ab, weil dieser einen Partezettel von der Kirchentür gerissen hatte. Dann wieder bezeichnete er den Schützen Schett vor laufender ORF-Kamera als „Meuchelmörder“. Ein anderes Mal drückte er Urlaubern Broschüren mit dem Obduktionsfoto in die Hand und kassierte eine Strafe wegen „fremdenverkehrsschädigenden Verhaltens“. Bald pilgerten Touristen zum pompösen Wilderer-Grab, um die Inschrift zu knipsen, die manche im Ort bis heute zur Weißglut treibt: „Von Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig und gezielt beschossen und vom 8. Schuss tödlich in den Hinterkopf getroffen.“

Das lieferte Stoff für Bücher, Reportagen und Filme.
Der „Kurier“-Journalist Winfried Werner Linde dokumentierte die Aktenlage der „Walder-Saga“. Der Dramatiker Felix Mitterer nahm für das „Tatort“-Drehbuch „Elvis lebt!“ Anleihen bei den wahren Begebenheiten. Der Sozialforscher Roland Girtler hielt alle fünf Jahre eine Brandrede vor Ort und romantisierte den Verstorbenen in einem Buch über „Rebellen in den Bergen“ als Relikt einer altehrwürdigen Tradition. Girtler: „Die Wilderer genossen hohes Ansehen, weil sie ein Jagdrecht beanspruchten, das den Reichen gehörte. Sie waren faire Jäger, die nur das geschossen haben, was sie auch essen konnten.“ Starb einer von ihnen, lebte er in Erzählungen und Liedern weiter.

Die Wilderei lässt sich in Osttiroler Gemeinderatsprotokollen bis in die 1920er-Jahre zurückverfolgen. Tatsächlich hatte früher einmal der Hunger die Menschen mit Schießeisen in den Wald getrieben. Hermann Walder, Jahrgang 1944, erfuhr Not und Mangel noch am eigenen Leib: „Überall gab es zehn bis 15 Kinder, die nicht satt wurden. Bei uns waren es auch zwölf.“ In den 1960er-Jahren kippte die Motivlage jedoch. Das räumt auch Walder ein: „Da waren dann Sucht und Naturliebe mit im Spiel. Sollte man alles Wild den Jägern lassen und selbst nichts haben?“

Jäger und Wilderer reizten einander bis aufs Blut.
In der Walder-Familie, wo man Ausgrenzungen und Demütigungen immer besonders scharf empfunden hatte, steigerte sich die Wut auf „die da oben“: Jäger, Gendarmen und alle, die meinten, ihnen etwas vorschreiben zu können. Hermann Walder sagt, noch heute klängen ihm die Sprüche „naziartiger Satans-Beamten“ in den Ohren: „Werden Sie nicht frech, sonst sperren wir Sie ein!“

Als Hermann zehn war, zerschossen österreichische Zöllner einem Südtiroler die Beine, weil er ihre Zurufe neben dem rauschenden Bach überhört hatte und weitergegangen war. Sein Vater erzählte ihm die Geschichte immer wieder, als Beweis für die Niedertracht und grundlose Gewalt der Grenzwächter. Am Gendarmerieposten seien neue Kollegen gewarnt worden: In der Gegend wimmle es von Verbrechern, Schmugglern und Wilderern – „und ihr König war in ihren Augen mein Vater!“

Mit 15, 16 hatte er vom Vater genug Geschichten über Willkür, Machtmissbrauch und Hinterhältigkeit gehört und selbst bereits genug Ungerechtigkeiten erlebt, um sowohl die Justiz als auch die Kirche zu verabscheuen: „Ich hatte meinen Schöpfer, der Rest konnte mir gestohlen bleiben.“ Nach dem Grundwehrdienst riss er sich den Stern des Gefreiten herunter: „Ich wollte von dieser Republik nichts haben, nicht einmal einen Keks.“

Jetzt, da Hermann Walder sich in Rage geredet hat, weiß er nicht mehr, was er zuerst erzählen soll: dass der Obergendarm des Orts seinem Bruder eines Tages „einfach so“ die Pistole an die Schläfe gesetzt habe, zwei Wiener dies mitansahen und vor Gericht bezeugten – und dem Beamten trotzdem nichts passiert war? Oder dass er selbst beim Schafehüten einst vom Weg abkam, Gendarmen ihm daraufhin angedichtet hätten, die Tiere über die Grenze schmuggeln zu wollen, und ihn in den Gemeindekotter sperrten? Damals habe er sich die erste Strafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingehandelt: „Ein Kind, das sich so schneidig gegen unfaire Behandlung wehrt, war man nicht gewohnt.“

Diese „Sauereien und noch viele mehr“ seien in seinem Kopf gespeichert. Inzwischen gelingt es Hermann Walder kaum noch, von Obrigkeiten zu reden, ohne Schimpfwörter voranzustellen: „Sau-Justiz“, „Nazi-Beamte“, „Satans-Behörde“. Hat ein Amtsveterinär mit spärlicher Kopfbehaarung an seiner Gimpelzucht etwas auszusetzen, echauffiert er sich über dessen „Satansbehördenglatze“, als wäre er eine von Thomas Bernhard erfundene Figur. Das Zusammentreffen mit dem Amtsinhaber endete – nicht zum ersten Mal – tumultartig: „Ich habe dem Schwein gesagt, dass ich ihn krankenhausreif schlage, sollte er es noch einmal wagen, einen Fuß in meinen Garten zu setzen.“

Er habe einen Hang zum Theatralischen, könne recht laut werden, und es falle ihm leicht, sich in „wilde Rollen“ hineinzuversetzen. Das bestreitet Hermann Walder gar nicht. In einem Spielfilm mimte er einst einen Mann, vor dessen Augen ein Drachenflieger abstürzt. Die Regisseurin war begeistert, wie „echt“ sich der Osttiroler entsetzen konnte. Es ärgert ihn nur, dass man seine zarten Seiten übersieht. In seinem Garten wachsen 75 verschiedene Bäume, die er alle mit Namen kennt, er päppelt kranke Tiere auf, beschenkt Leute mit selbst gezogenen Teekräutern und spielt passabel Mundharmonika: „In der Öffentlichkeit aber darf ich nur der Wilde sein, der mit üblen Geschichten von sich reden macht.“

Bereits 1976 waren Pius und Josef Walder wegen Verdachts auf Wilderei aktenkundig geworden. Der Jäger Josef Schaller will sie damals „zweifelsfrei“ bei dem gesetzlosen Treiben beobachtet haben. Die Gendarmen luden die Brüder zum Verhör; sie bestritten die Vorwürfe. Zu einer Anklage kam es nicht. Sechs Jahre später stellte derselbe Schaller gemeinsam mit dem Jäger Johann Schett den Jüngsten der Walder-Dynastie im Wald. Pius’ Gesicht war mit Ruß geschwärzt, von seiner Schulter baumelte ein Gewehr. Als er flüchtete, schoss Schett ihm von hinten in den Kopf. Eine Stunde lang lag der 30-jährige Holzfäller im eigenen Blut. Als der Arzt und die Gendarmerie anrückten, war es für jede Hilfe zu spät.

Hermann Walder trieb Zeugen auf, die Unterredungen von Jägern belauscht haben wollen: „Wenn ihr den Pius erwischt, schießt ihm nicht in die Füße, sondern auf den Kopf.“ Er habe die Männer zur Kripo geführt, dort hätten sie ihre Aussagen bestätigt: „Das Gericht hat sie nicht einmal angehört.“ Die Erfahrung, herablassend und ungerecht behandelt zu werden, zieht sich wie ein roter Faden durch seine Biografie. Vor zehn Jahren weigerte sich der Dekan von Innervillgraten, eine Gedenkmesse für Pius zu zelebrieren. Hermann Walder wandte sich an den Bischof, er möge den Geistlichen aus der Gemeinde entfernen – er könne sonst für nichts garantieren. Der Würdenträger leitete das Schreiben an die Staatsanwaltschaft weiter. Der Verfasser bekam eine Bewährungsstrafe, der Dekan blieb auf dem Posten. „So ging es ständig weiter! Fürch!Ter! Lich!“, schreit Hermann Walder.

Erlebnisse wie dieses hätten ihn „förmlich in den Hass hineingetrieben“, und so sei er „immer wilder geworden“. Als man ihm zutrug, der im Juli verstorbene Schütze Schett habe vor seinem Tod sehr gelitten, entgegnete er ungerührt: „Von mir aus hätte er länger leben können. Dann hätte er länger gelitten.“ Josef Schaller, der zweite Jäger, der seinen Bruder Pius im Wald gehetzt hatte, dafür aber nie angeklagt wurde, verweigert jeden Kontakt zu Medien. Im Vorjahr stieß Hermann Walder auf der Tankstelle mit ihm zusammen. Wie ein Blitz sei ihm die Wut eingefahren: „Ehe ich michs versah, klebte meine Hand in seinem Gesicht.“ Gott sei Dank habe er es „tief in mir drin, dass ich mit der flachen Hand zuschlage – mit der Faust hätte es anders ausgesehen“.

Nur wenige Medien widerstanden der Verlockung, die Walder-Buben zu alpinen Robin Hoods zu stilisieren. Zu fantastisch waren die Geschichten, die sich bereits vor Pius’ gewaltsamem Tod um sie rankten. Hermann hatte von 1962 bis 1982 als Holzfäller in Deutschland gearbeitet, Pius war ihm nachgefolgt. Wahr sei, dass der um acht Jahre jüngere Bruder ohne Führerschein mit dem Auto fuhr, von der Polizei aufgehalten wurde und log, er habe das Dokument zu Hause vergessen. Es sei auch richtig, dass Hermann sich die Haare färbte, die Brüder sich gleich anzogen und die Beamten bei der Gegenüberstellung nicht mehr beschwören mochten, wen sie drei Tage zuvor kontrolliert hatten. Hermann Walder amüsiert sich noch heute königlich über diese Spaßette. Dass er in Koblenz die Einrichtung einer Bar mit der Kettensäge zerschnitten und dem Besitzer danach einen Packen Tausender für den Schaden in die Hand gedrückt haben soll, sei hingegen „frei erfunden“.

In der größeren Osttiroler Geschichte sei das Schicksal des Wildschützen Pius Walder eine „traurige Marginalie“, sagt der Lienzer Historiker Martin Kofler. In Villgraten hingegen entzweit es die Familien bis heute. Als „Sonderregion in der Sonderregion“ hatte Kofler das Tal einmal ­beschrieben, nicht nur wegen der ab­geschlossenen Lage, sondern auch, weil seine erzkatholischen, konservativen Bewohner sich besonders zäh allem widersetzten, was von außen kam. Am 10. April 1938 stimmten in Villgraten 75 Prozent für den Anschluss an Hitler-Deutschland, im Rest des Landes waren 99 Prozent ­dafür.

In der jüngsten Vergangenheit verteidigte das tiefschwarze Villgraten bei jedem Urnengang seinen Ruf als Hort der Rückständigkeit. Bei der Nationalratswahl 2008 errang die ÖVP 73 Prozent der Stimmen. 2002 waren es über 90 Prozent ­gewesen. Gleichzeitig entfalteten sich ausgerechnet hier die streitbarsten und fortschrittlichsten Geister, so wie der Schriftsteller, Heimatforscher und Volksschuldirektor Johannes E. Trojer (1935–1991). Er gab den „Thurntaler“ heraus, eine über das Tal hinaus viel beachtete und gerühmte Kulturzeitschrift.

In seinen Essays und Glossen scheute Trojer kaum eine Kontroverse. Um das Wilderer-Thema machte er jedoch einen Bogen. „Er hat einen Karton voll Zeitungsartikel gesammelt, erstaunlicherweise hat er zu dem Fall aber keine einzige Glosse verfasst“, sagt Kofler, der an einer Gesamtausgabe des Trojer-Werks mitarbeitete. In einem Brief sorgte sich Trojer, die Folgen der Bluttat könnten das Villgraten-Tal lange beschäftigen und es am Ende tief spalten. Selbst in der Rolle des Außenseiters hatte der Intellektuelle hier alles andere als einen leichten Stand. Drohbriefe und Schmähungen machten ihm das Leben schwer. Sie hörten nicht einmal nach seinem Tod im Jahr 1991 auf.

Im Osttirol von heute ringen Bewahrer und Modernisierer, Massentouristiker und Vertreter der sanften Tour um die Ausrichtung einer Region, die mit Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung zu kämpfen hat: Soll man mehr Lifte bauen und auf Teufel komm raus neue Kraftwerke erschließen? Soll man lieber auf Naturnähe setzen und die raue, unverfälschte Schönheit der Region als kostbare Rarität vermarkten?

Darauf setzt zum Beispiel der Villgrater Bergbauer und Tourismus-Obmann Josef Schett, dem der Werbeslogan zugesprochen wird: „Kommen Sie zu uns. Wir haben nichts.“ Das Wildererdrama eignet sich nicht als touristische Attraktion. Viele Wunden, die vor 30 Jahren aufgerissen wurden, sind bis heute nicht geschlossen.

Pius Walder war der letzte von Jägern erschossene Wilderer Österreichs. Das Wilderermuseum im oberösterreichischen St. Pankraz widmet ihm eine Sonderausstellung. „1982, als er starb, wilderte niemand mehr aus Hunger und Not“, sagt Museumsleiterin Gertraud Zotter. Ganz von heute sei der Walder-Spross aber auch noch nicht gewesen: „Das macht seine Geschichte einzigartig.“ Zur Eröffnung des Museums im Jahr 2000 war viel Polit-Prominenz angereist, und der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer hatte dem Bruder des erschossenen Wildschützen die Hand geschüttelt. Das wird ihm Hermann Walder nie vergessen: „Ein Spitzenmann ist das, vor dem ziehe ich meinen Hut. In Tirol wäre das in hundert Jahren nicht passiert.“

Überhaupt wäre alles anders gekommen, „hätte es seinerzeit ein gerechtes Urteil gegeben, wäre der Mitmörder angeklagt worden und wäre der Pfarrer nicht so gegen uns vorgegangen“, sagt er. Am 8. September jährt sich der Tod seines Bruders zum 30. Mal. Journalisten klopfen bereits bei ihm an, um auszuloten, ob er wieder etwas „Wildes“ vorhat. „Was soll schon sein?“ Hermann Walder hält kurz inne, als könnte er selbst nicht recht glauben, was er gerade im Begriff ist zu sagen: „Es wird ein ruhiges Gedenken.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.