profil-Serie Teil 1: Die Psychoanalyse

Wie der Kreis um Sigmund Freud wirkte

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Sektierertum, Obskurantenclub, Geheimbund, angeführt von der alles dominierenden Vaterfigur Sigmund Freud, dem „Menschenfischer“ (so dessen biblisch inspirierte Selbstbezeichnung). Die Facetten des Miss­trauens, das die traditionelle Medizin dem Verein „zur Pflege und Förderung der von Doktor Prof. Freud begründeten psychoanalytischen Wissenschaft“ entgegenbrachte, waren vielfältig. Am 15. April 1908 war die Wiener Psychoanalytische Vereinigung erstmals offiziell zusammengetreten. Diese Woche wird ihr 100-jähriges Gründungs­jubiläum mit einem Festakt und dem Bezug neuer Räumlichkeiten am Wiener Salzgries begangen; aus diesem Anlass tagt auch der Kongress der Europäischen Psychoanalytiker unter dem Motto „Schatten der Vergangenheit“ für drei Tage in Wien.

Hervorgegangen war die Vereinigung, deren Schließung wenige Wochen nach dem „Anschluss“ 1938 für die Psychoanalyse weltweit „einem Schlag gleichkam, der einem den Atem raubte“ (so Freud-Biograf Ernest Jones), aus der legendären Mittwoch-Gesellschaft. Den Zweck der anfangs „formlosen“ Zusammenkunft, die Freud 1902 ins Leben gerufen hatte, definierte er selbst so: „Es scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzt um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten.“ Jeden Mittwochabend gegen halb neun traf man sich in der Berggasse 19 im Wartezimmer von Freuds Praxis. Es wurden schwarzer Kaffee und Kuchen gereicht; Zigaretten und Zigarren lagen zur freien Verfügung am Tisch und wurden auch heftig konsumiert. „Man versteht die Psychoanalyse immer noch am besten, wenn man ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt“, war Freud gegen Ende seines Lebens überzeugt. Deshalb sind die großteils erhaltenen Mitschriften beider Institutionen, welche die Entwicklungen, Debatten Querelen, das Dissidententum und Freuds Unnachgiebigkeit bezüglich seiner Lehren dokumentieren, von unschätzbarem Wert für die Historie der Psychoanalyse und Freud-Forschung.
Wer waren die Männer und Frauen, die Freuds Tochter Anna einmal als „Sonderlinge, Träumer und Sensitive“ beschrieb, die sich um den „Seelenfänger“ (so der Freud-Schüler Alfred Adler) scharten?

Liquidierung 1938. Die Kerntruppe der Mittwoch-Gesellschaft stellte im Wesentlichen auch die Gründungscrew der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, die weltweit Vorbildcharakter bekommen sollte. Bis zu ihrer Liquidierung 1938 durch die Nazis gesellten sich aber auch Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Geisteswissenschafter zur Vereinigung. Dies war ganz im Sinne Freuds, der seine Psychoanalyse nicht ausschließlich der Medizin überantworten wollte. Neben Freuds Analysepatienten Wilhelm Stekel, einem jungen Arzt, der Freud wegen „psychologischer Impotenz“ konsultiert hatte, hingen noch drei weitere Wiener Ärzte an seinen Lippen: Max Kahane, der später Selbstmord beging, Rudolf Reitler und Alfred Adler, Sozialist und Arzt. Die prickelnd produktive Pionierstimmung aus den Anfängen der Mittwoch-Gesellschaft soll sich laut Zeitzeugen jedoch schon vor der Gründung der Psychoanalytischen Vereinigung 1908 nachhaltig gewandelt haben. Während Wilhelm Stekel noch von dem Gefühl schwärmte, „in einem unentdeckten Land“ mit „Freud als unserem Führer“ unterwegs zu sein, kons­tatierte der Musikwissenschafter Max Graf bereits knapp vor der Gründung der Vereinigung 1908: „Wir sind nicht mehr die Gesellschaft, die wir früher waren.“

Bezeichnenderweise diente die Entstehung der offiziellen Institution der Psychoanalyse im April 1908 nur als Notbehelf für den von der Gruppendynamik geschwächten Freud. Denn längst war er der zunehmenden Querelen seiner Wiener Jüngertruppe müde geworden und empfand die aus dem Ausland in Scharen herbeiströmenden „Zugvögel“, wie etwa den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung und dessen Kollegen Ludwig Biswanger, den Berliner Arzt Karl Abraham sowie den Briten und späteren Freud-Biografen Ernest Jones, als weitaus inspirierender. Die Protokolle der Zusammenkünfte belegen, dass die handelnden Geistesgrößen durchaus nicht vor skurriler Vereinsmeierei gefeit waren. Auszüge aus dem „Kindergarten“ der Psychoanalyse: Im Frühjahr 1908, knapp vor der endgültigen Auflösung der Mittwoch-Gesellschaft, beantragte der spätere Begründer der Individualpsychologie, Alfred Adler, langatmig die Aufhebung „des Sprechzwangs“ für die Anwesenden zugunsten „des Systems der freien Meldung“. Der Psychiater Paul Federn forderte die „Aufhebung des geistigen Kommunismus“; man dürfe nicht länger „Gedanken ohne Autorisation des Urhebers anwenden“. Es folgten hitzige Debatten über das Aufnahmeverfahren für neue Mitglieder, sodass kaum noch Zeit für inhaltliche Diskurse blieb. Professor Freud griff schließlich durch. Es sei ihm zwar „peinlich, jemanden zurechtweisen zu müssen“, aber „stehe die Sache so, dass die Herren sich untereinander nicht ausstehen können, dann bleibe nichts anderes übrig, als zu schließen“. Ein Vorhaben, das er bereits in einem Rundbrief im September 1907 angekündigt hatte und das er als dringliche psychohygienische Maßnahme wertete. Dort begründet er den Plan zur Auflösung der Mittwoch-Gesellschaft folgendermaßen: „Es heißt nur, dem natürlichen Wandel menschlicher Beziehungen Rechnung zu tragen, wenn man annimmt, dass dem einen oder anderen die Zugehörigkeit zu unserer ­Vereinigung nicht mehr dasselbe bedeutet wie frü­her …“ Mit der Gründung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wolle er „die persönliche Freiheit des Einzelnen wiederherstellen und es ermöglichen, dass er ohne Trübung der Verhältnisse dem Verein auch fernbleibe“.

Doch auch die neue Vereinigung sollte sich zu einer Arena für Rivalitäten, Vatermorde und Machtspiele entwickeln. Erster prominenter Freud-Dissident war Alfred Adler, der mit dem Übervater erbitterte Kämpfe ausfocht, indem er dessen radikale Erkenntnisse wie die infantile Sexualität und die sexuelle Ätiologie von Neurosen negierte. Und wenn Freud die Grundfesten seiner Lehre infrage gestellt sah, reagierte er erbarmungslos. Über den Zwist mit Adler konstatierte er in einem Briefverkehr: „Es ist die Revolte eines abnormalen und vor Ehrgeiz wahnsinnigen Individuums.“ 1911 trat Adler aus der Vereinigung aus und begründete die Individualpsychologie.

Heißhunger nach Menschen. Das jähe Ende lang­jähriger Beziehungen zog sich wie ein Leitmotiv durch Freuds Biografie und bestimmte auch nachhaltig die Dynamik der Vereinigung, in der ein reges Kommen und Gehen herrschte. „Der Orden soll so wenig eine Religionsgemeinschaft werden wie eine freiwillige Feuerwehr“, distanzierte sich Freud in einem Brief an seinen „Kronprinzen“ Carl Gustav Jung 1910 vom Nimbus der Vereinsmeierei. Zu diesem Zeitpunkt war Jung, der spätere Begründer der analytischen Psychologie, bereits Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und von Freud längst als Erbe seiner „Bewegung“ avisiert. Als er jedoch 1912 mit seiner Kritik an Freuds Libido-Theorien indirekt einen Vatermord beging, kam es auch hier zum Bruch. Der Nervenarzt Isidor Sagder analysierte Freud unbarmherzig: „Er hatte immer einen wahren Heißhunger nach Menschen, die er dann freilich, wenn sie verbraucht waren, mit gleicher Leichtigkeit wieder abstieß.“ Quasi in letzter Sekunde konnten die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, die vorrangig der gelernte Maschinenschlosser und Sekretär der „Bande“, so Freud, Otto Rank, bei den Sitzungen aufgezeichnet hatte, vor der Vernichtung der Nazis gerettet werden. Knapp vor seiner Emigration am 4. Juni 1938 – über Paris nach London – hatte der von insgesamt 35 Mundhöhlenoperationen schwer geschwächte Freud seinem loyalsten Mitarbeiter, dem Psychiater Paul Federn, die 1600 Seiten starken, handschriftlichen Aufzeichnungen übergeben. „Freud hoffte, dass mein Vater sie zu Geld machen könnte“, erinnert sich dessen inzwischen verstorbener Sohn Ernst Federn in einem profil-Interview. Ernst Federn gilt als der wichtigste Historiker der Psychoanalyse; sein in die USA emigrierter Vater Paul scheiterte jedoch am Verkauf der Protokolle: „Niemand wollte dafür das Geld aufbringen.“ Erst 1964 sollte die Herausgabe in vier Bänden gelingen. Verglichen mit dem Kahlschlag, den der Nationalsozialismus im Geistesleben sonst anrichtete, kam die Psychoanalyse im Österreich des Jahres 1938 noch glimpflich davon. Bereits am 13. März, einen Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Wien, hielt die Wiener Vereinigung eine Vorstandssitzung ab. In Kenntnis des „militanten Antisemitismus der Nazis“ wurde der Beschluss gefasst, „dass jeder, dem es möglich ist, aus dem Lande fliehen solle und der Sitz der Vereinigung dorthin zu verlegen sei, wo sich Freud niederlassen werde“.

Wenige Tage später wurde das Haus Berggasse 7, seit 1936 der Sitz der Vereinigung sowie des Internationalen Psychoanalytischen Verlags und des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums, beschlagnahmt. Als zuständiger NSDAP-Mann wurde der Chemiker Anton Sauerwald eingesetzt, laut Wolfgang Huber, Autor des Standardwerks „Die Psychoanalyse in Österreich seit 1933“, „jemand, der Freud durchaus freundlich gesonnen war“. Sauerwalds Versuch, die Wiener Institutionen dem Berliner Institut für Psychologische Forschung unter der Leitung von Matthias Heinrich Göring, einem Neffen des an der „Endlösung“ maßgeblich beteiligten NS-Politikers Hermann Göring, einzuverleiben, sollte jedoch scheitern. Die Nazis sahen in Freud „einen sittlichen Rückschritt, zerstörerischer für die Menschheit als der Weltkrieg mit elf Millionen Toten“, wie es in der Wiener Zeitschrift „Deutsche Ostmark“ hieß. Sämtliche psychoanalytischen Institutionen wurden geschlossen.
Maßgeblicher Betreiber der Psychoanalyse während des NS-Regimes war in Österreich August Aichhorn, der einzige „arische“ Psychoanalytiker in der mit Stand März 1938 102 Mitglieder zählenden Vereinigung, der von dem als „verjudet“ geltenden, aber geduldeten Adolph von Winterstein unterstützt wurde. Die Fortsetzung der psychoanalytischen Lehre erfolgte nun im Untergrund. Insgesamt blieben nur sechs Mitglieder der Vereinigung nach dem Einmarsch der Nazis in Wien. Aichhorn und Winterstein sollten auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs 1945 mit vereinten Kräften den Wiederaufbau der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung betreiben, die 1946 wieder eröffnet wurde. Freud starb bereits 14 Monate nach seiner Emigration aus Wien in London. In einem seiner letzten Briefe an Maria Bonaparte schrieb er: „Meine Welt ist wieder, was sie früher war: eine kleine Insel Schmerz schwimmend auf einem Ozean der Indifferenz.“

Von Angelika Hager und Sebastian Hofer

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