profil-Serie, Teil III: Hitler gegen Hitler

Wie Hitlers Neffe gegen den „Führer“ Front machte

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William Patrick Hitler ist gerade 28 Jahre alt geworden, als er Europa verlässt. Die Schiffspassage über den Atlantik haben er und seine Mutter Bridget Hitler unter falschem Namen gebucht, Ende März 1939 kommen die beiden in New York an. In den USA wird vom Neffen des immer unberechenbarer vorgehenden „Führers“ der Deutschen einiges erwartet. Das Nachrichtenmagazin „Time“ betitelt Patricks ersten Auftritt mit „Hitler vs. Hitler“.

Adolf Hitler hat mit seinen Truppen am 16. März 1939, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Einmarsch in Österreich, die Tschechoslowakei besetzt. Was soll, was kann einer wie William Patrick, der seinen Oberlippenbart quasi als Paraphrase auf eines der äußeren Merkmale seines Onkels trägt, in dieser Situation sagen? Im Gespräch mit der „New York Times“ sagt er: „Er (Anm. Hitler) hat die Macht, die europäische Zivilisation zu zerstören und vielleicht die ganze Welt. Die totalitären Länder gewinnen nicht durch ihre Stärke die Schlachten, sondern durch die Schwäche der Demokratien.“

Wer ist dieser junge Mann, den Hitler im innersten Kreis „meinen widerlichsten Verwandten“ genannt hat? William Patricks Leben verläuft ganz anders als jenes aller anderen in Hitlers „verlorener“ Familie (profil 4 und 5/05). Bereits seine Kindheit ist von den verwickelten Familienverhältnissen der Hitlers geprägt, später sollte der Clan jede Verwandtschaft mit ihm überhaupt abstreiten.

William Patricks Vater Alois ist ein Halbbruder Hitlers, entsprungen der zweiten von insgesamt drei Ehen von Hitler senior. Alois fühlt sich bald als Prügelknabe für den um sechs Jahre jüngeren dominanten Adolf, er verlässt die Familie, wird Kellner in Linz und Saalfelden und fasst für Diebstähle zwei Haftstrafen aus. Als 23-Jähriger verlässt er Österreich, in Dublin lernt er die Irin Bridget Dowling kennen. Sie ist von seinem altösterreichischen Charme begeistert, heiratet ihn und bereut es bald. Bridget Hitler: „Er war sehr grausam – er war Hitler der Zweite. Er drohte immer, mich zu beugen oder zu brechen.“

Als William Patrick drei Jahre alt ist, verschwindet sein Vater. Bridget hört erst viel später wieder von ihm. 1924 fleht er sie in einem Brief aus Deutschland an, sich für ihn einzusetzen: Alois Hitler hat in Hamburg noch einmal geheiratet und ist nun wegen Bigamie angeklagt. Bridget erspart ihrem Noch-Ehemann durch ein Schreiben an das Gericht eine Haftstrafe – die er gleichzeitig mit seinem wegen des Münchner Putsches von 1923 inhaftierten Bruder Adolf hätte absitzen müssen. Auf die versprochene finanzielle Hilfe warten Bridget und ihr in ärmlichen Verhältnissen aufwachsender Sohn vergebens.

1929 besucht William Patrick seinen Vater in Deutschland, der nimmt ihn zum Parteitag der NSDAP nach Nürnberg mit, wo er erstmals einen Eindruck von der späteren Macht Adolf Hitlers bekommt. Zurück in England, gibt er erste Interviews über „meinen Onkel Adolf“. Hitler beordert ihn nach Berlin und tobt: „Die Leute dürfen nicht wissen, wer ich bin! Sie dürfen nicht wissen, woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme.“ Hitlers resolute Halbschwester Angela erklärt dem jungen Briten, dass sein Vater in Wahrheit kein Bruder Hitlers und er daher mit Hitler auch nicht verwandt sei.

„Ekelhafte Erpressergeschichte“. William Patrick ist von Hitlers Obsession, alle Spuren seiner Herkunft zu verwischen, unbeeindruckt und wendet sich an die britische Botschaft in Wien. Deren Anwalt schickt ihm im Juli 1933 eine Abschrift des Geburtszertifikats, das die Hitler-Abstammung seines Vaters klar belegt.

Mit diesem Wissen kehrt William Patrick nach Berlin zurück und erreicht, dass Hitlers Sekretär Rudolf Hess ihm einen Buchhalterjob bei der Reichskreditbank verschafft. Als Neffe des „Führers“ erwartet er ein lukrativeres Einkommen als 140 Reichsmark im Monat und interveniert erneut. Im Oktober 1934 wird er auf Hitlers Briefpapier höflich in die Reichskanzlei zur „Rücksprache“ eingeladen. Dort empfängt ihn SA-Mann Wilhelm Brückner kühl: „Sie haben jetzt eine bequeme Stellung. Der Führer hat Ihnen gegenüber seine Pflicht erfüllt.“

Der 23-jährige Hitler-Neffe schreibt daraufhin an Hitlers Adjutanten Julius Schaub einen folgenreichen Brief: „Ich beabsichtige, mich von den politischen Einflüssen, die schon jahrelang mein Leben und das meiner Mutter angegriffen und verwüstet haben, endgültig zu befreien. Um das zu erzielen, werde ich eine Erklärung an die englische Presse übergeben.“ Hitler lässt William Patrick ungeschoren, vermutlich wegen dessen britischer Staatszugehörigkeit. Dem späteren Generalgouverneur in Polen, Hans Frank, soll Hitler jedoch von einer „ekelhaften Erpressergeschichte“ erzählt haben, die seine Abstammung betreffe. Frank, beim Nürnberger Prozess als einer der Hauptverantwortlichen für den Massenmord an den Juden zum Tod verurteilt, beschreibt dies in seinen Memoiren „Im Angesicht des Galgens“ (publiziert 1953). Und führt an, Hitlers Großvater könnte ein Jude namens Frankenberger in Graz gewesen sein. Franks Behauptungen sind inzwischen vielfach widerlegt: Um das Geburtsjahr von Hitlers Großvater, 1837, lebten keine Juden in Graz und auch niemand mit dem Namen Frankenberger, das gilt auch für das böhmische Gratzen, nahe der Waldviertler Heimat von Hitlers Vorfahren – doch Fragen über Hitlers angeblich jüdische Wurzeln werden immer noch gestellt.

Zu der von Hitler angeblich befürchteten Enthüllung durch seinen Neffen kommt es nie. William Patrick gibt sich als Bohemien, genießt die Aufmerksamkeit, die ihm, einem Hitler, in Berlin entgegengebracht wird. Sein Vater wiederum nutzt die offiziell verschwiegene familiäre Verbindung auf seine Weise. Er eröffnet am Berliner Wittenbergplatz 3 sein Lokal „Alois“. Die „New York Times“ berichtet, das Geschäft floriere: „Die Kellner grüßen mit ,Heil Hitler‘, aber sie sind äußerst zurückhaltend, wenn die Verwandtschaft ihres Chefs zum ,Führer‘ angesprochen wird.“ Ein im Haus lebender Jude wird von Angestellten des Lokals zusammengeschlagen. Sein Sohn erklärt später gegenüber dem US-Geheimdienst: „Herrn Hitlers Reaktion war nur: Warum verzieht ihr euch nicht, ihr dreckigen Juden?“

William Patrick Hitler verhält sich ambivalent. Er arbeitet als Opel-Verkäufer in einem Geschäft auf dem Kurfürstendamm, imitiert bei einer Visite in London Hitlers Gestik und sagt dem „Daily Express“: „Ich muss das im Blut haben.“ 1938 verliert er den Job, wofür er Hitler persönlich verantwortlich macht, kehrt Deutschland den Rücken und lässt in den USA seiner Enttäuschung schließlich freien Lauf: Hitler habe für ihn keinen Finger gerührt, im Gegenteil – zuletzt sei auf ihn Druck ausgeübt worden, Deutscher zu werden, wodurch er Hitler ausgeliefert gewesen wäre.

Brief an Roosevelt. Während William Patrick Hitler in Amerika mit Vorträgen über seinen Onkel Geld macht, meldet sich seine Mutter zur Kriegsfürsorge. In der „New York Herald Tribune“ wird sie mit dem Ausspruch zitiert: „Aufhängen wäre für meinen Schwager Adolf zu gut. Er sollte durch langsame Folter getötet werden.“

Ihr Sohn versucht, in die kanadische Airforce aufgenommen zu werden. 1942 wendet sich Hitlers Neffe direkt an US-Präsident Franklin D. Roosevelt: Er wolle „als Soldat ins Feld ziehen und Ihnen in diesem großen Krieg für die Freiheit beistehen“. Das FBI lässt William Patrick eingehend überprüfen, für das Geheimprojekt der Erstellung eines psychologischen Profils Adolf Hitlers wird er als Informant herangezogen. Im März 1944 tritt William Patrick Hitler in die US Navy ein und erklärt: „Als Mitglied der bewaffneten Streitkräfte hoffe ich, eine aktive Rolle bei der Liquidierung dieses Mannes zu spielen, meines Onkels, der so viel Unglück über die Welt gebracht hat.“1)

Knapp zwei Jahre später beendet er als „Seemann Erster Klasse“ den Dienst in der Navy. Seine Verabschiedung am 26. Februar 1946 in Boston ist der letzte öffentliche Auftritt von William Patrick Hitler.

Angst. Wie sein Vater Alois in Hamburg nennt er sich nun zunächst Hiller. Während Hitlers Halbbruder im Nachkriegs-Deutschland hin und wieder etwas Geld verdient, indem er für britische Soldaten Postkarten mit Hitler-Porträts signiert, taucht William Patrick ganz unter. Nach jahrelanger Suche forscht ein britischer Journalist die Familie auf Long Island aus.2)

Bridget Hitler starb 1969, William Patrick 1987. Er war ein Gespaltener geblieben: Nach der verbalen Kriegserklärung „Hitler gegen Hitler“ war er als Mitglied der US-Streitkräfte gegen seinen Onkel in den Krieg gezogen und wurde dabei vermutlich auch verwundet. Seinen endgültigen Familiennamen Hiller wählte er dann jedoch in Anlehnung an den Namen eines bekannten Bewunderers von Adolf Hitler. Den ersten seiner vier Söhne ließ er Alex Adolf taufen.

Alex arbeitet heute als psychischer Betreuer, unter anderem mit Veteranen des Vietnamkriegs. Howard, der Jüngste, kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Brian und Louis betreiben auf Long Island ein kleines Unternehmen zur Gartenpflege. In David Gardners Buch „The last of the Hitlers“ (Die letzten Hitlers) ist, entgegen dem Versprechen des Autors, ein Foto des kleinen Holzhauses abgedruckt, in dem William Patricks Witwe lebt. Seither fürchtet die Familie um ihr Leben. Ein Freund: „Sie haben wirklich Angst. Nicht nur davor, als Parias angesehen zu werden, sondern auch physisch, dass irgendein Verrückter ihnen etwas antun könnte.“

Ansprüche auf Hitlers materielles Erbe lehnen William Patricks Söhne ab, ebenso wie ihre Verwandten in Österreich. „Es ist Blutgeld“, sagt einer von ihnen.

Ende der Serie