Neues Testament

Regierung: Wie sich SPÖ und ÖVP als Koalition verzweifelt neu erfinden wollen

Regierung. Wie sich SPÖ und ÖVP als Koalition verzweifelt neu erfinden wollen

Drucken

Schriftgröße

Am 6. Oktober 2006 – fünf Tage nach der Nationalratswahl – sprach sich der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl, SPÖ, für „eine Große Koalition neu“ aus. SPÖ und ÖVP sollten zehn bis 15 zentrale Projekte „koordinieren und dann umsetzen“.

Am 30. September 2008 – zwei Tage nach der Nationalratswahl – forderte Hans Niessl in Eisenstadt eine „Große Koalition neu“ aus SPÖ und ÖVP: „Eine Koalition der Blockierer, der Trickser, die ist vorbei, die wurde abgewählt.“

Am 7. Oktober 2013 – acht Tage nach der Nationalratswahl – mahnte Hans Niessl, die „allerletzte Chance für die Große Koalition“ sei gekommen. Nötig sei nun eine „neue Form des Regierens“, „Ziele“ müssten „definiert“ und „Schritt für Schritt abgearbeitet“ werden.

+++ Umfrage: 67% erwarten Neuauflage der Großen Koalition +++

Dienstag vergangener Woche nahmen die Teams von SPÖ und ÖVP unter Leitung der Chefs Werner Faymann und Michael Spindelegger Koa-litionsverhandlungen auf. Zieltermin für die Regierungsbildung ist der Advent. Was dabei herauskommt, ist offen. Was draufstehen muss, schon jetzt klar, nicht nur für Hans Niessl: „Koalition neu“. Kaum ein roter oder schwarzer Spitzenpolitiker, der in den vergangenen Wochen nicht ein Bekenntnis zu Reformnotwendigkeit und -fähigkeit der Koalition abgab: Gefragt seien „ein neuer Stil“, „ein neuer Geist“, „neue Modalitäten“.

Ähnlich neomanisch klang es nicht nur 2008 und 2006, sondern auch nach den Wahlen 1995, 1994, 1990 und sogar 1986, als ÖVP und SPÖ die Neuauflage der Großen Koalition aus den 1960er-Jahren beschlossen. Insgesamt 40 Jahre lang wurde die Zweite Republik seit 1945 von einer Großen Koalition regiert. Scheitern die Noch-Mehrheitsparteien wieder daran, sich neu zu erfinden, wird der Koalitionsvertrag 2013 ihr politisches Testament gewesen sein.

Warum viel gegen und nur wenig für eine rot-schwarze Erneuerungsbewegung spricht; wie das Design einer Koalition neu aussehen könnte; und warum die potenziellen Erneuerer selbst nicht daran glauben – eine profil-Wahrscheinlichkeitsanalyse zur „Koalition neu“.

Großprojekte
„Obwohl ich selbst Großkoalitionär war, muss ich heute sagen: Wir haben nichts weitergebracht, keine großen Projekte umgesetzt, null Werbung, ja sogar Antipathie für die Große Koalition erzeugt.“ Im „Standard“-Interview sprach Josef Pröll im Juli 2008, damals Landwirtschaftsminister, Klartext. Fünf Monate später führte er die ÖVP als Vizekanzler erneut in ein rot-schwarzes Regierungsbündnis. Große Projekte sollten die Existenzberechtigung der Großen Koalition sichern – wie in den 1990er-Jahren der EU-Beitritt.

Tatsächlich sind die großen Vorhaben auch zweieinhalb Jahre nach Prölls Abschied die gleichen – und nach wie vor im Projektstadium: Bildungsreform, Pensionsreform, Staatsreform. Sozialpartner, Rechnungshof und Wissenschaft legten in den vergangenen Jahren unzählige Anleitungen für großkoalitionäre Projektarbeiten vor – vergebens. Ein unausweichliches Projekt wickelte die Koalition in den vergangenen fünf Jahren dagegen durchaus zufriedenstellend ab: das Management von Euro-, Wirtschafts- und Finanzkrise nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008. Der Wähler dankte es den Regierungsparteien freilich nicht.

Wie eine Agenda 2020 aussehen könnte, zeigt die Steiermark. Dort zogen SPÖ und ÖVP in bemerkenswerter Einigkeit und Unbeirrbarkeit Großprojekte wie Bezirks- und Gemeindefusionen oder die Halbierung der Landesverwaltungseinheiten durch – mehr „Koalition neu“ geht kaum. Bei der Nationalratswahl verlor die SPÖ 5,5 Prozent, die ÖVP 5,2 Prozent; die FPÖ wurde mit 24 Prozent stärkste Partei im Bundesland. Die Lehre: Großprojekte mögen eine Große Koalition neu zwar rechtfertigen, bringen diese aber möglicherweise um.

Als Viktor Klima im Jänner 1997 Bundeskanzler wurde, sprach er in seiner Antrittsrede gar vom „großen Projekt Aufbruch ins nächste Jahrtausend“. Daher sei er ein „Anhänger der Großen Koalition“. Das erste Millenniumsprojekt, die Einführung eines Bildungsministeriums mit Schul- und Universitätsagenden, drehten Klima die eigenen Genossen ab, alle weiteren Wolfgang Schüssel.

Gerade das Beispiel des vorerst letzten ÖVP-Kanzlers beweist, dass rot-schwarze Koalitionen in der Realität des Machtausgleichs große Projekte eher blockieren als befördern. Allein mit seinem freiheitlichen Juniorpartner konnte Schüssel ambitionierte Ziele wie eine Pensionsreform und Privatisierungen umsetzen. Will Werner Faymann das rote Großprojekt einer gymnasiumfreien Gesellschaft verwirklichen, bräuchte er dazu die Grünen. Die Volkspartei wird die Gesamtschule kraft innerkoalitionärer Wirkungsmacht ebenso verhindern wie die SPÖ den Teilverkauf der ÖBB.
Aktuelle Lage: Bekenntnisse zu Großprojekten wie Staats- und Bildungsreform werden sich auch im Koalitionspakt 2013 finden – unter Umständen sogar mit verbindlichem (deswegen aber nicht garantiertem) Umsetzungstermin.

Koalitionsfreie Räume
Wegen Friedensreich Hundertwasser wollte die ÖVP die Koalition 1989 dann doch nicht platzen lassen. Monatelang hatte der Maler – unterstützt von der „Kronen Zeitung“ – gegen die Pläne von SPÖ-Verkehrsminister Rudolf Streicher zur Einführung weißer Nummerntafeln agitiert und eigene Entwürfe für traditionelle schwarze Tafeln vorgelegt. ÖVP-Klubobmann Heinrich Neisser witterte einen medialen Coup und schlug eine Abstimmung über die Farbgebung im koalitionsfreien Raum vor – was die SPÖ erbost ablehnte.

Im November 1994 – einen Monat nach der Nationalratswahl – forderte Niederösterreichs Landeshauptmanns Erwin Pröll, „das freie Spiel der Kräfte im Parlament“ müsse „im Interesse einer lebendigen Demokratie verwirklicht werden“, sonst gäbe es „keine Koalition neu“.

Die Theorie des koalitionsfreien Raums wirkt bestechend: Wo die Lösungskompetenz der Regierungsparteien nicht gegeben ist, soll die Opposition als Mehrheitsbeschaffer einspringen – Demokratie pur. Was in den Ländern auch in der Praxis funktioniert, bedeutet im Bund aus großkoalitionärer Sicht freilich quasi-anarchistische Zustände.

Die SPÖ lehnt koalitionsfreie Räume seit jeher ab. „Nicht einen Millimeter“ wollte Kanzler Franz Vranitzky der ÖVP 1990 konzedieren. Im Koalitionspakt 1996 setzte Wolfgang Schüssel schließlich eine milde Form der parlamentarischen Freiraumgestaltung in definierten „Gewissensfragen“ wie dem Schutzalter für Homosexuelle durch. Doch im Juli 1997 endete eine freie Abstimmung zur Senkung der Alkoholgrenze im Straßenverkehr auf 0,5 Promille im kompletten Chaos, nachdem SPÖ und ÖVP einander wechselseitig überstimmt hatten. Die Klubchefs Peter Kostelka und Andreas Khol vereinbarten daraufhin, den koalitionsfreien Raum aus dem Arbeitsübereinkommen der Regierung wieder zu streichen. Freiraum-Fan Khol gab sich geläutert: „Es ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Man kann schließlich nicht gleichzeitig verheiratet und geschieden sein.“
In den Großen Koalitionen seit Jänner 2007 waren Freiräume explizit ausgeschlossen. Allein Ausnahmezustände ermöglichten das ungezügelte Spiel der Kräfte im Nationalrat. So schaffte eine Regenbogenkoalition aus SPÖ, Grünen und FPÖ im September 2008 gegen den Willen der Volkspartei die Studiengebühren ab – freilich nachdem Wilhelm Molterer („Es reicht!“) Alfred Gusenbauer bereits Neuwahlen erklärt hatte.

Aktuelle Lage: Sowohl namhafte ÖVP-Vertreter (Innenministerin Johanna Mikl-Leitner) als auch SPÖ-Politiker (Klubobmann Josef Cap) lehnten das freie Kräftespiel im Parlament im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen ab.

Neu regieren
Kuschelekstasen sind auch von einer Koa-lition neu nicht zu erwarten. Sie könnte das Publikum freilich anderweitig überraschen. Etwa durch Ressorttäusche und einen Mix aus alten und neuen Gesichtern: ein roter Wirtschaftsminister (Wiens Vizebürgermeisterin Renate Brauner), ein schwarzer Arbeits- und Sozialminister (AMS-Geschäftsführer Johannes Kopf); ein roter Innenminister (Josef Ostermayer), ein schwarzer Verteidigungsminister (Abgeordneter Werner Amon); ein roter Wissenschaftsminister (Infineon-Österreich-Chefin Monika Kircher), ein schwarzer Unterrichtsminister (Karlheinz Töchterle); ein roter Außenminister (Andreas Schieder), eine schwarze Frauenministerin (Michae-la Steinacker, Nummer zwei auf der ÖVP-Kandidatenliste). Doch derartige Ämter-Swaps sind auszuschließen. Eher verzichten sozialistische Gewerkschafter auf den 1. Mai als auf das Sozialministerium. Und eine ÖVP ohne Wirtschaftsressort wäre wie ein schwarzer Bundesparteiobmann ohne richtiges religiöses Bekenntnis.

Vorschläge für eine Koalition neu gäbe es zur Genüge – allein die Umsetzungswahrscheinlichkeit geht gegen null. So ist ein gemeinsam nominierter unabhängiger Kandidat für Bildungs- oder Justizressort schlicht unvorstellbar, weil er die Parteichefs ein Amt und damit ein Pfand im innerparteilichen Interessensausgleich kosten würde.

Schwierig wird es für die Koalitionsparteien, aus einer selbst gestellten Falle herauszukommen. Zwar wäre der Ausbau der direkten Demokratie sowohl symbolisch als auch sachpolitisch ein Nachweis für eine Koalition neu, doch SPÖ und ÖVP bereuen mittlerweile ihre großmäuligen und wenig durchdachten Ankündigungen der vergangenen Monate. Zu erwarten ist maximal ein Modell „direkte Demokratie light“. Mit etwas Fantasie gäbe es andere Reformansätze: Demokratiepolitisch wäre die Wiedereinführung der vierjährigen Gesetzgebungsperiode wünschenswert, regierungstechnisch die Neueinführung einer Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler.

Mangels substanzieller Neuerungen wird die Große Koalition freilich wieder nur an ihrem Außenauftritt und der vielbeschworenen „Kommunikation der Regierungsarbeit“ basteln – wie es schon Franz Vranitzky nach den Wahlen 1994 ankündigte: „Man wird sich darum bemühen, auf den österreichischen Reflex zu verzichten, also darauf, dass eine Partei automatisch nein sagt, wenn die andere einen Vorschlag macht. Themen müssen stärker gemeinsam vertreten werden, so dass nicht der Eindruck entsteht, man gehöre nicht der gleichen Regierung an.“ Auch sonst sind die Empfehlungen roter und schwarzer Politiker für eine Koalition neuen Stils die gleichen wie vor 20 Jahren: „Kein Drüberfahren, kein Erbsenzählen, vertrauensbildende Maßnahmen, partnerschaftlicher Umgang, kein wechselseitiges Ausrichten über die Medien, besserer Umgang mit dem Parlament, mehr Transparenz, …“

Aktuelle Lage: Wenn schon nicht den Inhalt, werden die Koalitionäre wenigstens die Verpackung erneuern. Denkbar wäre die Installation eines gemeinsamen Regierungssprechers – der bald den unmöglichsten Job der Republik hätte.

Fazit
In einer perfekten rot-schwarzen Welt würde die Große Koalition neu eine Agenda 2020 mit terminlich fixierten Reformprojekten für Österreich erstellen. In der Realität werden die gewöhnlichen und außergewöhnlichen (Hypo Alpe-Adria) Staatsschulden den Handlungsspielraum der nächsten Regierung extrem einengen.Im vertraulichen Gespräch bezeichnen rote und schwarze Minister eine „Koalition neu“ je nach Gemüt als „Hirngespinst“ oder „theoretisches Konstrukt“. Ein Bündnis aus SPÖ und ÖVP wird eben auch in den Jahren 2013 bis 2018 nach politischen Naturgesetzen wie Machtausgleich, Kompromissen und Interessensdurchsetzung funktionieren.

Ein ÖVP-Politiker hat für seine größte Nachwuchshoffnung daher einen durchaus wohlgemeinten Rat: „Sebastian Kurz sollte jetzt sein Studium beenden und dann für zehn Jahre in die USA gehen. Jeder, der in der nächsten Großen Koalition sitzt, wird sich selbst beschädigen.“

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.