Die Rote Armee in Österreich

Zeitgeschichte. Neue Einblicke in den Alltag der sowjetischen Besatzungssoldaten

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In Moskau war es bereits dunkel, als Stalin am Abend des 13. April 1945 Freudenschüsse befahl. 324 Geschütze donnerten zum Salut, Feuerwerke beleuchteten den nächtlichen Himmel: Der Diktator ließ kundtun, dass die Rote Armee Wien erobert hatte.

Er werde „Berge grüner Schokolade aus dem Kaukasus“ bringen, hatte der junge Revolutionär Josef Stalin Jahrzehnte davor ­einem Wiener Mädchen versprochen. „Sosso“, wie er von Freunden und Genossen gerufen wurde, sollte in der Hauptstadt der Vielvölkermonarchie an einem Konzept zur Nationalitätenfrage arbeiten. Stalin wohnte damals bei der Familie des jungen linken Aristokraten Alexander Trojanowski in der Schönbrunner Straße. An diesem Haus ist heute noch eine Gedenktafel angebracht, vermutlich die einzige Stalin-Ehrung in Westeuropa.

Im Frühjahr 1945 überschritten Hunderttausende Rotarmisten Österreichs Grenzen. Sie hatten einen höchst verlustreichen Vormarsch mit Eroberung des Balkanraums von Bulgarien über Rumänien nach Ungarn hinter sich, allein bei der Eroberung Wiens mit erbittertem Häuserkampf starben noch einmal 20.000. Von den Alliierten gegen Hitler hatte die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg die meisten Opfer zu beklagen.

Einer der ersten Befehle an die Soldaten auf österreichischem Boden war Warnung und Beschwörung in einem: „Seid stolze Träger des ruhmreichen Namens der Roten Armee. Die ganze Welt soll nicht nur die alles besiegende Stärke der Roten Armee sehen, sondern auch den hohen Grad an Disziplin und Kultur ihrer Soldaten.“

Sie waren als Befreier gekommen, wurden aber nicht als solche erlebt. Für die Hunderttausenden Kämpfer war es die erste und wohl auch einzige direkte Begegnung mit dem kapitalistischen Westen. Nach der Erfahrung mit dem grausamen Vernichtungskrieg der Wehrmacht in ihrem eigenen Land trafen sie selbst im ausgebombten Wien auf einen Wohlstand, den sie nicht kannten. Mehr als andere Besatzungssoldaten sind die Angehörigen der Roten Armee als Vergewaltiger und Plünderer in die kollektive Erinnerung der Österreicher eingegangen. In den sowjetischen Zonen herrschten Willkür und Unrecht wie in keinem anderen Teil des besetzten Landes. Trotz strikter Verbote und harter Strafen beteiligten sich alle Ränge der Sowjetarmee an den Übergriffen. Mit Beginn des Kalten Kriegs 1947 wurde die Rote Armee auch von den Westalliierten wie dem französischen Hochkommissar in Österreich „als Instrument des Schreckens“ propagiert. Österreich selbst wollte die ersehnte Unabhängigkeit und wagte nur leise Kritik. SPÖ-Vorsitzender Adolf Schärf, späterer Bundespräsident, fragte 1948 bei Staatskanzler Karl Renner an, was er aus seinen Aufzeichnungen über die Befreiung Wiens veröffentlichen könne: „Darf man über Plünderungen, Schändungen, Beschlagnahmungen schreiben, ohne die Sowjets zu verärgern?“

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abzug 1955 ist das Bild der Roten Armee negativ besetzt. Ein gerechtes Urteil, wie Bruno Kreisky es in seinen Memoiren fand, ist selten: „Ohne Russen wäre Hitler nicht besiegt worden. Ob man will oder nicht, diese Rolle der Sowjet­union muss man sehen. Weder Roosevelt noch Churchill konnten ihren demokratischen Staaten zumuten, diesen Preis zu bezahlen.“

Feind! Freund!

Frühling, Sieg, Jugend, Walzer, Liebe: Damit verbinden und verklären Veteranen der Roten Armee schwärmerisch ihre Gefühle für Österreich.

Im Frühling 1945 waren sie mit anderen Gefühlen gekommen. „Als wir uns nach Österreich vorkämpften, als die ersten Dörfer kapitulierten“, schreibt Rotarmist Boris Sluckij, „verstand unser Soldat endgültig, dass der Krieg in eine Phase der Vergeltung eingetreten war. Die Armee witterte den Deutschen.“

Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion waren sie einander jahrelang auf den Schlachtfeldern gegenübergestanden. Österreichische Wehrmachtssoldaten hatten mit den Deutschen mitgehalten, selbst k. u. k. Haudegen wie Carl Zedtwitz-Liebenstein rechtfertigten Massaker an der russischen Zivilbevölkerung, „bestialische“ Methoden seien im Osten üblich. Der Roten Armee wiederum waren die Österreicher verhasste „deutsche Okkupanten“ wie alle Wehrmachtsangehörigen. „Töte den Deutschen! – das bittet die alte Mutter, bittet dich dein Kind“, dichtete der Chefpropagandist der Roten Armee, Ilja Erenburg.

Bis Anfang April 1945 war die sowjetische Propaganda voll mit Racheparolen gegen den „faschistischen Feind“, ob Deutscher, Österreicher, Militär oder Zivilist. Wien sollte als „letzter Unterschlupf der faschistischen Bestie“ erobert werden. Mehr als 20.000 Rotarmisten verloren auf österreichischem Boden ihr Leben.

Doch von einem Tag auf den anderen sollten Stalins Soldaten plötzlich Feind und Freund, Rache und Schonung auseinanderhalten. Genau das verlangten die sowjetischen Militärräte in einem ihrer ersten Befehle auf österreichischem Boden von ihren Truppen: „Während ihr erbarmungslos mit dem deutschen Volk abrechnet – verschont dabei das friedliche österreichische Volk.“ Gemäß der Moskauer Deklaration sollten Stalins Soldaten die Österreicher als Hitlers erstes Opfer als Befreite, die Deutschen als Besiegte behandeln.

Rotarmist Boris Sluckij rekapitulierte, die Männer hätten den Ermahnungen zugehört, aber kein Wort geglaubt: „Der Krieg nahm klare, persönliche Formen an. Der Deutsche war der Deutsche. Ihm musste man es ‚geben‘. Und sie begannen, es dem ‚Deutschen‘ zu geben.“ Im Übrigen habe keiner die deutsche Sprache gut genug gekannt, um Preußisch und Steirisch auseinanderhalten zu können. In der Steiermark kämpften fanatische kriegsverwundete Hitler-Anhänger noch bis zur Kapitulation am 8. Mai.

Die erste Woge der Gewalt versuchten die sowjetischen Truppenführer als NS-Propaganda wegzuwischen, sie habe die Österreicher durch „erfundene Hirngespinste über Verwüstungen, Gräuel- und Untaten“ verängstigt. „Genossen Rotarmisten! Ihr wisst, dass dies eine Lüge ist! Die Rote Armee macht einen Unterschied zwischen Österreichern und deutschen Besatzern!“ Dass aus ­ihrer Armee ein disziplinloser Haufen wurde, musste die Sowjetmacht beunruhigen. Denn sie brauchte die Rotarmisten zur großen Konfiskation und Demontage Hunderter Betriebe: 31.000 Waggon­ladungen voll rollten Richtung Moskau.

In der Folge sollte ein anderer Feind der Roten Armee zu schaffen machen: „Trunksucht“ („p’janstvo“). Im August 1945 wurde befohlen, zu Feiertagen nicht mehr kostenlos Wodka auszugeben. Im Herbst war in internen Berichten von „zunehmenden Alkoholexzessen“ die Rede, vor allem dem „jungen Wein“ werde zugesprochen. Am Ende des ersten Besatzungsjahres musste die Armee schließlich einbekennen, was ihrem Ruf in Österreich bis heute anhängt: „Die Grundlage beinahe sämtlicher Verbrechen bilden Saufereien.“

270.000 Vergewaltigungen

Intime Beziehungen über die ehemals feindlichen Linien hinweg gab es in allen Besatzungszonen. Die Österreicherinnen waren von der prüden „Volksgemeinschaft“ der Nazis befreit, die Briten erschienen ihnen galant, die Franzosen als Charmeure, und die GIs waren so beliebt, dass das US-Nachrichtenmagzain „Newsweek“ bald erschrocken fragte: „Do the Fräuleins change our Joe?“ Auch für Rotarmisten schwärmten Österreicherinnen. „Russenliebchen“ stießen in Österreich auf Ächtung, die sowjetische Militärführung verfolgte sie als gefährliche Werkzeuge der westlichen Geheimdienste und ließ etliche als Spioninnen in Moskau erschießen; eine Bordellbesitzerin wurde in ein Gulag-Besserungslager verbannt. Die Heirat einer Ausländerin war Sowjetsoldaten verboten.

Die dunkle Seite der Besatzung, die Schockwelle massenhafter Vergewaltigungen durch die Rote Armee, wirkt im österreichischen Gedächtnis bis heute nach. Historikerin Barbara Stelzl-Marx beschreibt die Dimension der Übergriffe als schwer fassbar. In „Stalins Soldaten in Österreich“ versucht sie es dennoch: Sie geht von 270.000 Vergewaltigungen durch Rotarmisten in Österreich aus. Demnach wurden rund 240.000 Frauen in Wien und Niederösterreich Opfer, in der Steiermark erlitten laut amtlichen Aufzeichnungen 10.000 Frauen dieses Schicksal, im Burgenland waren es Schätzungen zufolge 20.000.

Behauptungen, Stalin habe seinen Soldaten aus Anlass der Maifeiern 1945 erlaubt, drei Tage lang zu plündern und zu vergewaltigen, sind falsch. Vom jugoslawischen KP-Funktionär Milovan Djilas auf die Verbrechen angesprochen, bagatellisierte Stalin: „Kann er nicht verstehen, wenn ein Soldat, der durch Blut und Feuer gegangen ist, an einer Frau seine Freude hat?“

Sexuelle Gewalt war auch Teil von Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gewesen, sowjetische Plakate appellierten an die Rotarmisten, ihre Frauen vor der „faschistischen Bestie“ zu schützen. Die Wehrmacht unterhielt in Frontnähe Bordelle, die Rote Armee nicht. Beim Vormarsch der sowjetischen Soldaten kam es bereits in Rumänien und Ungarn zu Vergewaltigungen. Grausames Massenphänomen wurden sie in Ostpreußen. Für Deutschland wird die Zahl vergewaltigter Frauen und Mädchen insgesamt auf 1,9 Millionen geschätzt. In diesem Raum waren vier Millionen Rotarmisten eingesetzt, statistisch wurde jeder Zweite von ihnen zum Täter. Da viele sich an mehreren Frauen vergingen, dürfte ihre tatsächliche Zahl geringer gewesen sein. Die Zahl der Übergriffe überschritt jene der Opfer: In Berlin wurden mindestens 110.000 Frauen vergewaltigt, beinahe 40 Prozent von ihnen dürften mehrfach, die meisten zwischen zwei- und viermal Opfer geworden sein.

Dass sie mehrfache Übergriffe durch Rotarmisten über sich ergehen ließen, um Mädchen zu schützen, berichteten auch Österreicherinnen. Viele hatten auch die ersten Offiziere als Schutz gesehen, bevor der so genannte „Trek“ ankam. Sowjetische Zahlen sind bisher nicht bekannt, das Thema ist in Moskau ­immer noch tabu. Dokumente, die dem „Ansehen der Roten Armee“ schaden, befinden sich unter Verschluss. Die wenigen verfügbaren offiziellen Berichte erschüttern in ihrem kühlen, bürokratischen Ton. „Einige Dutzend Frauen vergewaltigt und bis zu 17 friedliche Bewohner verletzt. Dieser Vorfall wurde vom Tribunal untersucht und der Schuldige erschossen“: So berichtete der Politberater des sowjetischen Hochkommissars Evgenij Kiselev im August 1945 über einen „schwerwiegenden Fall“ in Krems, Niederösterreich. Formal stand in der Roten Armee auf Vergewaltigung die Todesstrafe. Während der Besatzung hieß das Urteil – so die Täter überhaupt gefasst wurden – üblicherweise jedoch fünf Jahre Besserungslager; Soldaten mit guter Kampfbilanz kamen mit zwei Jahren davon.

In einem Truppenteil, der 4. Garde-Armee, wurden allein im Juli 1945 neun Soldaten des Verbrechens beschuldigt. Von ihnen konnten vier unerkannt flüchten, unter ihnen auch jener Rotarmist, der eine Frau und danach ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Im Zuge dieser Vergewaltigungen wurden drei Frauen und zwei Mädchen ermordet. In vier Fällen war Alkohol im Spiel gewesen.

Bei Eisenstadt fielen im Sommer 1947 vier junge betrunkene Rotarmisten über zwei Radfahrer her, fesselten den Mann und vergewaltigten seine Frau. Das Ehepaar gehörte der KPÖ an, ein Militärtribunal verurteilte die vier Soldaten zum Tod. Am Ende der Verhandlung bat der Mann der Vergewaltigten das Tribunal, man möge über den Fall Stillschweigen bewahren, „denn wir sind Kommunisten, und Sie sind Kommunisten“.

Gefährlicher Systemvergleich

Den Funktionären in Moskau war bewusst, welchen Verführungen der einfache Rotarmist ausgesetzt war, wenn er dem Kapitalismus im Alltag begegnete. Man befürchtete, beim Systemvergleich nicht allzu gut abzuschneiden. Man machte sich Sorgen um den „moralisch-psychologischen Zustand von Offizieren und Soldaten, die nach den schwierigen Zeiten des Kriegs nun die Atmosphäre eines relativ friedlichen Lebens erfuhren“, wie es in einem internen Papier hieß.

Der Gefahr begegnete man mit Vorschriften, Regeln, Schulungen und einem dichten Netz an Kontrollen und Verantwortlichkeiten. Die Militärkommandanten waren angewiesen, „den Versuchungen des Lebens zu widerstehen, wachsam und stets aufmerksam zu sein, sich in gebührender Weise zu benehmen sowie allzeit daran zu denken, dass sie Repräsentanten der Roten Armee der Großen Sowjetunion sind“. Ausdrücklich verboten waren Plünderungen, Schwarzmarktgeschäfte, der Besuch von Volksfesten, Nachtlokalen, Kaffeehäusern und Gaststätten mit Alkoholausschank. Es wurde nicht gern gesehen, wenn Soldaten mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt traten, Freundschaften schlossen oder sich gar verliebten. Es nützte alles nichts. Bei Razzien in Vergnügungsvierteln wurden innerhalb weniger Stunden jeweils Hunderte verhaftet.

Ein aus bäuerlichen Kreisen stammender Rotarmist, der im Offizierskasino mit der Klage „Hier in Österreich gibt es Lüster, luxuriöse Häuser, Kleidung, während meine Familie Hunger leidet und nichts anzuziehen hat“ aufgefallen war, wurde zur Strafe degradiert und aus der Partei ausgeschlossen. Vollkommen dem westlichen Luxus erlag der stellvertretende Hochkommissar V. M. Kraskevic. Er hatte eine 256 Quadratmeter große Wohnung bezogen, die er für 160.000 Schilling aus Staatsgeldern renovieren und mit Stilmöbeln, Teppichen und Seidenvorhängen ausstatten ließ. In Baden hatte er überdies eine Datscha mit 15 Zimmern requiriert. Sein Fall kam im September 1952 vor den Ministerrat der UdSSR. Er kassierte von Josef Stalin jedoch nur eine Verwarnung.

Strengste Vorsicht galt im Verhältnis zu den anderen Alliierten. Dienstliche Treffen mussten in Form von Gesprächsnotizen an den Vorgesetzten übermittelt werden. Die Rote Armee als „die mächtigste, kultivierteste, edelste Armee der Welt“ habe einen Ruf zu verlieren, stand in den Schulungsunterlagen. Bestraft wurde „nicht nur der Täter, sondern auch jene Person, die ihn erzieht“, was dazu führte, dass vorgesetzte Dienststellen Berichte über Trunksucht, Gewalt und Plünderungen auch im eigenen Interesse unterschlugen.

Der Alltag des Besatzungssoldaten war derart reglementiert, dass „möglichst wenig Zeit für sinnloses und unnötiges Herumschlendern“ blieb, so ein Befehl vom Juli 1945. Im Sommer begann der Tag um fünf Uhr Früh und war bis zum Abend mit Sport, Gefechtsübungen, Schulungen zu Themen wie „Der sowjetische Mensch im Ausland“ oder „Liquidierung amoralischer Erscheinungen“ und „Politmassenarbeit“ ausgefüllt. Die einfachen Soldaten waren in Kasernen, Offiziere meist privat, aber immer in Gruppen untergebracht. Stets galt Uniformpflicht. Nur Generäle und Offiziere durften ihre Familie nachkommen lassen. Zur Freizeitgestaltung wurden russische Filme in eigenen Kinos gezeigt. Besonderen Wert legten höhere Chargen auf organisierte Kranzniederlegungen an den Gräbern österreichischer Komponisten. Damit sollte das aus der NS-Zeit herrührende Vorurteil über die Kulturlosigkeit der Russen entkräftet werden.

Wenige Monate vor dem Abzug der sowjetischen Truppen 1955 startete die Armeeführung eine letzte Schulungs- und Erziehungsoffensive. Ihre Soldaten sollten den Österreichern in guter Erinnerung bleiben.

Objekte der Begierde

Vieles wurde aus Not, anderes aus Rache genommen. Den ersten Einheiten der Roten Armee, die über Ungarn ins Burgenland und nach Wien marschiert waren, vorbei an ausgebrannten Dörfern, verödeten Feldern, die Kriegsgräuel der Wehrmacht und der SS vor Augen, fiel es schwer, vom Rachemodus auf das zivile Verhalten eines Besatzungssoldaten umzuschalten.

„Im angeheiterten Zustand kam ein Mann in russischer Uniform (Offiziersdienstgradabzeichen) auf einem Pferd reitend zum Amtsgebäude, ritt über die Stiege in den ersten Stock und begab sich reitend in die Räume der Bezirkshauptmannschaft und versuchte, im Kanzleiraum mit seinem Pferd über den Kanzleitisch zu springen“, berichtete die burgenländische Sicherheitsdirektion am 5. Jänner 1946 über einen Vorfall in Jennersdorf. Die Gutsverwaltung von Eberau meldete den „Verlust des gesamten Viehbestands, aller Maschinen und Geräte, der Getreidevorräte, sämtlicher Türen, Fenster, Öfen, Fußböden und Stuckdecken“. Laut Gemeindebericht aus Rudersdorf begannen „die im Ort einquartierten Russen systematisch in sämtlichen Häusern die Keller und Scheunen zu durchsuchen sowie in den Obst- und Gemüsegärten nach vergrabenen Kleidern, Wäsche und Haushaltsgegenständen aller Art zu stöbern. Äußerst begehrt waren Fahrräder.“

Alle spürten bittere Not. Im letzten Kriegsjahr waren viele Felder nicht bestellt worden, und die Wehrmacht hatte bei ihrem Rückzug mutwillig Lebens- und Futtermittel vernichtet. Die Rotarmisten klagten über Hun­gerrationen und verstanden nicht, war­um ihr Hochkommissar in den ersten Monaten der Besatzung Armeebestände an Nahrungsmitteln an die österreichische Bevölkerung verteilen ließ. Anfang des Jahres 1946 war die Verpflegung der Einheiten der Roten Armee im Burgenland mit 600 Kalorien am Tag schlechter als jene der einheimischen Bevölkerung.

Der Schwarzmarkt blühte, trotz strengster Strafen auch unter reger Beteiligung sowjetischer Soldaten, die ihr Diebsgut in Lkws, die nicht kontrolliert werden durften, zum Wiener Naschmarkt transportierten und dort gegen Lebensmittel eintauschten. Korruption und Plün­derung fanden unter Offizieren wie ­unter einfachen Soldaten statt.

Der Wiener Historiker Wolfgang Müller fand in Moskauer Archiven eine Fülle von Eingaben, in denen sich die sowjetischen Angestellten des Alliierten-Rats über geringe Löhne beklagten. Selbst Hochkommissar und Politberater, die beiden höchsten Funktionen, verdienten gerade einmal halb so viel wie der sowjetische Handelsdelegierte. Lebensmittel und Alltagsgüter wurden in Geschäften der sowjetischen Heeresverwaltung zu einem Vielfachen der staatlich festgelegten österreichischen Preise angeboten.

Die Nachkriegsgeneration erinnert sich an den Spottvers „Uhra, Uhra, nix Kultura“. Uhren waren für Soldaten der Roten Armee kein beliebiges Luxusgut, sondern ein Prestigeobjekt, die Trophäe des Siegers. Im Krieg hatte es zu den Privilegien der Offiziere gehört, eine Armbanduhr zu beanspruchen. Nun konnte sich auch der einfache Soldat mit der vermeintlichen Auszeichnung brüsten.

Plündern war prinzipiell verboten, doch es war erlaubt, Pakete heimzuschicken, was viele geradezu als Aufforderung zur gewaltsamen Aneignung fremden Eigentums verstanden. Generäle durften einmal im Monat 16 Kilo schwere Transportgüter, Offiziere zehn Kilo, Soldaten fünf Kilo aufgeben. Im Juli 1945 wurden die Strafen verschärft. Plünderung wurde nun wegen ihrer „übergeordneten politischen Bedeutung“, die den Ruf der Roten Armee bereits schwer beschädigt hatte, als Staatsverbrechen geahndet. Führende Geheimdienstmitarbeiter hatten Gold, Antiquitäten und wertvolle Gemälde in die Heimat transportieren lassen. Allein 60.000 Klaviere, 459.000 Radios und 3,3 Millionen Paar Schuhe gelangten über den Heerespaketdienst aus der sowjetisch besetzten Zone in die Sow­jetunion.

Verschleppt und hingerichtet

Während des Kalten Kriegs war die Bundeshauptstadt für Nachrichtendienste aus Ost und West ein wichtiges Operationsgebiet. Mehr als 100 Österreicher wurden von den Sowjets von 1950 bis zu Stalins Tod 1953 – drei schwarze Jahre, in denen auf Spionage, konterrevolutionäre Aktivitäten oder antisowjetische Propaganda die Todesstrafe stand – in Moskau hingerichtet. In ihren Gnadengesuchen beriefen sich Stalins letzte Opfer meist auf ihre Jugend oder ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse, priesen den Kommunismus und schworen der Sowjetunion ewige Treue, in der vergeblichen Hoffnung, dadurch vielleicht am Leben zu bleiben. Nach Angaben eines im Jahr 1954 übergelaufenen sowjetischen Geheimdienstoffiziers standen rund 4000 Zuträger zur Verfügung.

Wie viele von ihnen dies nicht nur für Geld, sondern auch aus ideologischen Gründen taten, ist nicht bekannt. Nicht wenige waren von westlichen Geheimdiensten angeheuerte Parteimitglieder der KPÖ gewesen, die ihrerseits von Genossen bespitzelt und mit deren Hilfe an die sowjetische Militärkommandantur ausgeliefert worden waren.

Im Polizeiapparat hatten Kommunisten in den ersten Nachkriegsjahren eine starke Position, auch noch nachdem der von der KPÖ gestellte Staatssekretär für Inneres nach dem Wahldebakel 1945 (die KPÖ erreichte nur fünf Prozent) von einem Sozialdemokraten abgelöst worden war. Damals war jeder zweite Kriminalbeamte Mitglied der Kommunistischen Partei, bei der Staatspolizei lag der Anteil noch höher. Noch 1951 hatten in der sowjetischen Besatzungszone fast alle Polizeikommissariate KP-nahe Chefs.

Der Wiener Radiotechniker und Bezirkssekretär der KPÖ Karl Berger, der Mitgliederlisten der KPÖ an die Amerikaner weitergegeben hatte, rechtfertigte sich vor dem Militärtribunal mit dem „verderblichen Einfluss der Nazis“ auf seinen Charakter. Er wurde – ohne Staatsanwalt und Verteidigung – zum Tod verurteilt. Eine seiner Zuträgerinnen aus einem USIA-Betrieb meinte, ihre Liebschaften mit russischen Besatzungssoldaten würden den Richter milde stimmen; auch sie wurde hingerichtet.

Die Verurteilten wurden mit Zügen nach Moskau verbracht und erschossen. Erst vor wenigen Jahren, als die sowjetischen Archive geöffnet wurden, erfuhren ihre Angehörigen in Österreich, was damals geschehen war.

Der 22-jährige Wiener Kurt Zofka, gelernter Buchhalter und arbeitslos, ehe er der KPÖ beitrat und als Wachmann in einer Erdölraffinerie der sowjetisch besetzten Zone einen Job bekam, hatte gegen Entgelt für den amerikanischen Geheimdienst CIC Raffinerien ausgekundschaftet und die Mitgliederkartei des KPÖ-Bezirkskommissariats Favoriten weitergegeben.

Für den US-Geheimdienst waren Informationen über Rohöllager, Raffinerien, Produktionsziffern, Lageskizzen, Truppenstärke, Mitgliederzahl und Struktur der KPÖ, Personenbeschreibungen der Gäste des Hotel Imperial, in dem die Besatzungsspitze logierte, von großem Wert.

Ein Kommunist, der in der sowjetischen Zensurstelle am Wiener Südbahnhof beschäftigt war, soll für den CIC relevante Briefe geöffnet und den Inhalt weitergegeben haben. Eine Gruppe von linken Studenten wurde festgenommen, weil sie das Russendenkmal am Schwarzenbergplatz, damals Stalinplatz, aktionistisch verhöhnen wollten.

Der 22-jährige Physikstudent Karl Engelmann soll laut Anklage seinen Dissertationsbetreuer, den kommunistischen Dozenten Engelbert Broda, Bruder des legendären sozialdemokratischen Justizministers, bespitzelt, dessen Briefe abgefangen und dessen Besucher belauscht haben. Der renommierte Wissenschafter war schon in den Jahren seiner Londoner Emigration vom britischen Geheimdienst MI6 beschattet und der Atomspionage verdächtigt worden. Erst im vergangenen Jahr gab der MI6 entsprechende Telefonabhörprotokolle frei.

Vereinzelt führten die Verhaftungen zu erbitterten Diskussionen im Alliierten-Rat und zu Protestnoten der Bundesregierung. So im Fall der Sektionsleiterin im Ministerium für Vermögenssicherung, Margarethe Ottillinger, die in Begleitung des Ministers Peter Krauland aus dem Fond ihres Wagens verhaftet und nach Moskau verschleppt wurde. Erst nach langen Jahren Gulag-Haft durfte sie wieder nach Österreich zurück. Die alliierten Hochkommissare, die während des Kalten Kriegs die ohnehin schon prekär gewordene Zusammenarbeit nicht weiter gefährden wollten, stellten sich auf den Standpunkt, in seiner Zone könne jeder tun, was er wolle.

Teil 1: Stalins Soldaten in Österreich

Lesen Sie im profil 19/2012: Aus den Besatzern von einst wurden Geschäftspartner. In den vergangenen Jahren floss sehr viel russisches Geld nach Österreich. Doch nicht überall sind die Investoren willkommen.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling