Spiritualität

Spiritualität: Kung-Fu Fighting

Kung-Fu Fighting

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Heute fällt das Kung-Fu-Training aus. Die Shaolin-Kämpfer sind angeschlagen von der Feier zum einjährigen Bestehen ihres Tempels. Auf der Trainingsmatte sitzen ein paar Kahlgeschorene und albern herum. Erst wirft das Mädchen im blauen Sweatshirt dem jungen Chinesen in der orangefarbenen Dralonhose ein herzförmiges Kissen an den Kopf, worauf dieser sich mit einer Rolle rückwärts verabschiedet und die Runde sich vor Lachen biegt. Es wird lauter. Da dreht sich einer um und sieht nach dem Großmeister.

Der 84-jährige Chinese, der das Treiben aus einigen Metern Entfernung beobachtet, setzt eine herumliegende Calvin-Klein-Sonnenbrille auf, streckt beide Daumen in die Höhe und sagt: „Amitabha!“ Was so viel heißt wie: Buddha segne dich! Du siehst gut aus! Das Leben ist wundervoll! Guten Morgen! Frohe Weihnachten! Und vieles andere mehr.

Shi Wanheng gilt als ältester lebender Shaolin-Mönch der Welt. Seine Anhänger kennen ihn als jemanden, der viel schaut, viel lächelt und wenig spricht. Doch wenn er einmal etwas sagt, hat es Gewicht. Vor knapp zwei Wochen reiste der chinesische Großmeister nach Wien und fühlte sich hier auf Anhieb so wohl, dass er bekundete, für immer bleiben zu wollen. „Hier stimmt die Energie“, sagt Hausherr Wolfgang Gall, der den Tempel im dritten Wiener Gemeindebezirk vor einem Jahr gegründet hat: „Wien ist ohne Zweifel das Zentrum für Shaolin in Europa geworden.“

Ursprünglich. Zumindest für jene, die Kung-Fu nicht für eine Touristenattraktion, sondern für einen spirituellen Weg halten. Drei Tage lang hatte Shi Wanheng, der alte Mönch in dem senfgelben Gewand, über das er bei besonderer Gelegenheit einen roten Umhang wirft, dem heimischen Shaolin-Meister beim Training mit seinen Schülern zugesehen, bevor er ihm das vielleicht schönste Kompliment seines Lebens machte. „Was hier weitergegeben wird“, befand Wanheng, sei „ursprünglicher als alles, was man heute in China lernen kann“.

Shi Wanheng muss es wissen. Als ihn seine Eltern 1927 den Shaolin-Mönchen anvertrauten, weil sie sich außerstande sahen, zwei Kinder durchzufüttern, war er gerade acht Jahre alt. Seither lebte er im Kloster am Heiligen Berg. Er durchlitt Hungersnöte und politische Verfolgung durch die Roten Garden von Mao Tse-tung. 1966, während der Kulturrevolution, waren alle Mönche geflohen – alle bis auf vier: Shi Wanheng war einer davon.

Dass er es nun vorzieht, im Ausland zu lehren, hat zum Teil mit der Kommerzialisierung der Shaolin-Kultur zu tun, unter der die Spiritualität zunehmend leidet. Aus dem ehemaligen Shaolin-Kloster am Heiligen Berg ist inzwischen ein Museum geworden, durch das jährlich zwei Millionen Touristen geschleust werden. Dazu kommt ein autoritärer Wind an der Spitze: Abt Shi Yong Xin, der dem Kloster bis vor kurzem vorstand, hat exzellente Verbindungen zu hohen politischen Funktionären. Und diesen waren die traditionellen Chan-Buddhisten mit ihrer Abneigung gegen einengende Dogmen seit jeher suspekt. „Viele traditionelle Mönche wurden unter Shi Yong Xin aus den ehrwürdigen Gemäuern hinausgeekelt“, hat Gall beobachtet.

Großmeister Shi Wanheng ist nicht der Erste, den es in die Ferne zieht. Shi Yan Ming, der im China der achtziger Jahre beinahe als Nationalheiliger galt, setzte sich mehr als ein Jahrzehnt vor ihm in die USA ab. Vergangene Woche reiste Shi Yan Ming nach Wien, um den ersten Geburtstag des hiesigen Shaolin-Tempels zu begehen. Es war eine Art Familientreffen: Shi Yan Ming hatte Wolfgang Gall – alias Shi Heng Xin – in New York jahrelang in der Kunst des Shaolin-Kung-Fu unterwiesen.

Großmeister Shi Yan Ming ist 39 und eindeutig gesprächiger als der 84-jährige Großmeister aus China. Immer wieder unterbricht er seine Geschichte mit „Life is wonderful“-Ausrufen. Vielleicht hat er es so lieben gelernt, weil seines so früh zu Ende zu sein schien. Im Alter von fünf Jahren wurde Shi Yan Ming schwer krank und hörte auf zu atmen. Auf dem Weg zum Friedhof trafen seine Eltern einen Akkupunkteur und hielten ihm das vermeintlich tote Kind hin. Der Heiler rammte ihm einige Nadeln in den Körper – Shi Yan Ming hat davon noch heute eine Delle im Gesäß – und holte ihn ins Leben zurück. „Seither bin ich nie wieder krank gewesen“, behauptet Shi Yan Ming: „Life is wonderful.“

In China herrschte damals Hunger. Seine Eltern konnten den wiederbelebten Sohn nicht ernähren und brachten ihn ins Shaolin-Kloster. Dort wuchs der Knabe, der es liebte, Löcher in die Erde zu graben, sie mit Gras zu bedecken und darauf zu warten, dass alte Mönche hineinstolpern, mit buddhistischen Weisheiten und hartem Körpertraining heran.

Touristenshows. 1982, ein Jahr nach dem Tod von Shi Yan Mings Eltern, kam der Kultstreifen „Shaolin Tempel“ mit Jet Li in die Kinos. Der Film lockte erste Touristen in das Dörfchen Shaolin. Die Provinzregierung von Henan, die die Chance auf Devisen witterte, ließ den Tempel herausputzen und die Mönche ihr Können in Shows zeigen. Bis zu fünfmal am Tag zerhackten Shi Yan Ming und seine Kollegen Ziegelsteine mit der bloßen Hand und zertrümmerten Eisenstangen auf dem Schädel.

Shi Yan Ming war einer der Begabtesten. Er spielte in chinesischen Kung-Fu-Filmen mit, stand im Shaolin-Kloster im Dauereinsatz und wurde dabei immer unglücklicher. 1992, kurz bevor er als Trainer der Shaolin-Mönche auf USA-Tour geschickt wurde, vertraute er seinem Meister an, dass er nicht zurückkehren werde.

Nach der letzten Aufführung in den USA schulterte Shi Yan Ming seine Kung-Fu-Tasche und erklärte seinen Bewachern, er gehe ein bisschen Luft schnappen. Draußen sprang er in ein Taxi. Der Dissident, der nur Mandarin sprach, ließ sich vor einem China-Restaurant absetzen, wo das Personal nur Kantonesisch verstand. Also kritzelte Shi Yan Ming chinesische Schriftzeichen auf ein Blatt Papier, bis die Restaurant-Mitarbeiter kapierten, dass er sich absetzen wollte. Sie ließen die Rollläden herunter und versteckten ihn im Keller.

Eine Zeit lang hauste Shi Yan Ming in einem Zimmer über einem Fischlokal, zeigte an Straßenecken seine Künste und rekrutierte den einen oder anderen Schüler. Insgesamt dreimal zog Shi Yan Ming in New York um. Dabei wagte er sich immer weiter aus Chinatown hinaus. Und jedes Mal ging es ein Stück aufwärts. Schließlich gründete Shi Yan Ming den Shaolin-Tempel am Broadway, trainierte Actionhelden wie Jackie Chan und Jet Li und spielte 1999 sogar in Jim Jarmuschs Kultfilm „Ghost Dog“ mit.

Einige Jahre vorher blätterte ein paar Straßenecken weiter der in New York gestrandete Linzer Wolfgang Gall in einem marokkanischen Café in einer Hochglanz-Illustrierten und blieb an einem Foto hängen, das Shi Yan Ming in Kung-Fu-Action zeigte. Am Ende des sechsseitigen Artikels las er: „Shi Yan Ming can be found at the Shaolin Temple, Broadway 678.“

Noch am selben Tag ging er in den Tempel und fand dort so etwas wie eine heile Mehr-Generationen-Familie: hart trainierende Schüler, einen kraftstrotzenden Meister Shi Yan Ming in seinen Dreißigern und einen gerade auf Besuch weilenden chinesischen Großmeister namens Shi Wenhang, damals Mitte siebzig, der im Spagat am Rande der Matte saß – „einen Riesengrinser im Gesicht und eine Flasche Corona-Bier in der Hand“ (Gall).

Galls leiblicher Großvater hatte „zwanzig Jahre lang nur vom Sterben geredet“. Sein Vater, ein stressgeplagter Unternehmer, starb an Krebs, als Gall 19 war. Danach folgte ein Erbstreit, der die Familie auseinander riss. Gall bekam etwas Geld, machte sich damit nach Übersee auf und verdingte sich mit dem Verkauf von umweltfreundlichen Pestiziden.

Seinen inneren Frieden fand er allerdings erst im Shaolin-Tempel, sagt er: „Ich habe sofort gespürt, dass hier etwas Gutes passiert.“ Gall wollte „etwas Gesundes“ für sich tun. Tai-Chi erschien ihm ideal, Kung-Fu zu aggressiv. Meister Shi Yan Ming hörte sich die Bedenken des Österreichers an und sagte: „Lern Kung-Fu!“

Mehr als zwei Tage Training in der Woche hielt Galls Körper anfangs nicht aus, allmählich steigerte er sich auf zwei bis drei Stunden täglich, sechsmal die Woche. Der Körper wurde geschmeidiger, Galls Stimmung hellt sich auf. Als er den Meister das erste Mal rufen hörte: „Das Leben ist wunderschön!“, krampfte sich sein Herz noch zusammen. „Je öfter ich es gehört habe, umso leichter ist es geworden“, sagt Gall.

Der Österreicher musste sich jede Bewegung, die traditionelle Kung-Fu-Kämpfer wilden Tieren abschauten, bis ins Detail erarbeiten. Irgendwann war sein Körper so abgehärtet, dass er einen Holzstock auf seinem Oberarm zerschmettern konnte. „Die körperlichen Übungen sollen in den Geist zurückführen“, sagt Gall, der heute selbst Kung-Fu unterrichtet: „Das Training ist eine ständige Konfrontation mit sich selbst, bei der man sich kennen und verstehen lernt.“ Offenbar trifft die Botschaft einen Nerv. Gall: „Die Leute rennen uns die Türe ein.“

„Früher suchten sich die Menschen einen Partner, um das, was ihnen selbst fehlt, zu erlangen“, erklärt die Wiener Psychoanalytikerin Rotraud Perner, die sich in ihrem jüngsten Buch „Sein wie Gott. Von der Macht der Heiler“ mit der Sehnsucht nach ganzheitlichen Heilslehren auseinander setzte: „Heute streben immer mehr danach, selbst ganz zu werden.“

Geistige Suche. Ein Shaolin-Mönch ist auf einer geistigen Suche. So sieht es Gall. Für Künstlermanager Herbert Fechter, der die Mönche 1995 im Auftrag der Provinzregierung auf Europatournee brachte, sind die Kung-Fu-Kämpfer hingegen zunächst einmal gut verkäufliche Bühnenstars.

Eigentlich müssten der asketische Kung-Fu-Meister und der Künstleragent einander suspekt sein. Doch Gall erklärt, er sei Fechter „richtig dankbar“. Schließlich habe dieser Shaolin bekannt gemacht und es ihm damit erst ermöglicht, einen Tempel zu eröffnen.

Fechter empfindet für Gall „Bewunderung“, auch wenn ihre beiden Wege nicht vergleichbar seien: Fechter versteht sich als Fremdenverkehrsbeauftragter, der Henan, die bevölkerungsreichste Provinz Chinas, als Touristenhochburg vermarkten soll. Und diese Arbeitsteilung sei, so Fechter, gar nicht so schlecht: „Meine Aufgabe ist es, Millionen Menschen in Kontakt mit der Shaolin-Kultur zu bringen. Und Galls Aufgabe ist es, hundert Leute auf einen neuen Weg zu bringen.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges