High Life: Jeder zweite ist abhängig

Suchtforschung: Was Alkohol-, Drogen-, Kauf- und Sexsucht gemeinsam haben

Suchtforschung: Was uns süchtig macht und warum

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Der Jungunternehmer Laurenz B. betreibt Büros in Wien, Paris und New York. Für den erst 30-Jährigen bedeutet dies täglich bis zu 20 Stunden pausenloses Funktionieren im höchsten Drehzahlbereich. Mit der Zeit fand er es immer schwieriger, von seinem Energielevel herunterzukommen. Da kam Kokain ins Spiel. Die Droge macht Müde munter und beruhigt Hyperaktive. In jedem Fall aber vertreibt sie den Schlaf. „Die Dealer“, so Laurenz B., „kommen zu den Partys und verkaufen mit dem Kokain gleich die dazugehörigen Schlafmittel.“

Aus einem Gramm, das er sich anfangs in die Nase zog, wurde eine Tagesration von sieben Gramm zu einem Gesamtpreis von 700 Euro. An diesem Punkt funktionierte gar nichts mehr: „Ich bekam Angst vor Problemen, die ich normalerweise mit links gelöst hätte.“ Im heurigen Spätsommer kam der Zusammenbruch in Form eines Krampfanfalls. Geschockt begab sich B. in stationäre Behandlung seiner doppelten Abhängigkeit von Kokain und Schlafmitteln.

Experten schätzen, dass zwei Prozent der Bevölkerung zumindest von Zeit zu Zeit Kokain nehmen. Die Zahl der schwerst Opiatabhängigen wird österreichweit auf 25.000 geschätzt, bei 150 bis 200 Toten pro Jahr. Cannabis hat jeder dritte Jugendliche und junge Erwachsene schon einmal probiert und jeder sechste mindestens fünfmal. 33 Prozent der Österreicher trinken Alkohol in einem Maß, das als nicht mehr unbedenklich gilt. Bei 16 Prozent davon überschreitet der Konsum die Schwelle zum Alkoholmissbrauch. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern hält sich der Nikotinkonsum in Österreich hartnäckig auf hohem Niveau (50 Prozent der Österreicher über 15 Jahre rauchen). Alle Formen von Sucht ergeben in Summe, dass jeder zweite Österreicher in irgendeiner Form abhängig ist, schätzen Experten.

Für alle Drogen gilt: Das High ist flüchtig. Um es über längere Zeit immer wieder zu erreichen, muss die Dosis stetig gesteigert werden – bis das Hochgefühl eines Tages ausbleibt und den Konsumenten ins Dauertief stürzt. Von diesem Zeitpunkt an braucht er das Gift nur noch, um eine Art von Normalzustand herzustellen. Er ist endgültig zum Suchtkranken geworden.

Warum und auf welche Weise Drogen ihre Opfer so fatal in die Zange nehmen, war für die Wissenschaft lange Zeit ein Rätsel. Doch neue technische Möglichkeiten wie psychiatrisches Neuroimaging (Hirnscans) und Untersuchungen mit genetisch modifizierten Versuchsmäusen trugen in den vergangenen Jahren dazu bei, die Mechanismen zu erhellen, mit welchen bestimmte Substanzen beim Menschen kurzfristig Euphorie oder veränderte Bewusstseinszustände und langfristig Persönlichkeitsveränderungen erzeugen.

Wie sich herausstellte, klinken sich Drogen im Gehirn punktgenau in das stärkste neurologische System ein, das überhaupt existiert, nämlich dort, wo grundlegende Verhaltensweisen erzeugt werden: im Hirnstamm und im limbischen System des Menschen, dem Steuerzentrum für Emotionen. In diesen stammesgeschichtlich uralten Zentren wohnen die Instinkte für Gefahr, Nahrungsbeschaffung, Fortpflanzung, Brutpflege sowie Sozialverhalten und lenken über die Emotionen das Handeln.

Auf biochemischer Ebene werden diese Vorgänge im Organismus von subtil aufeinander abgestimmten Schaltkreisen, insbesondere dem dopaminergen, opioiden, cannabinoiden und serotonergen System, vermittelt. Diese Systeme arbeiten sowohl in sich geschlossen als auch untereinander vernetzt, wobei der Botenstoff Dopamin bei allen Süchten eine zentrale Rolle spielt (siehe Grafik auf Seite 122).

Pfade der Sucht. Die Moleküle süchtig machender Substanzen besitzen die Fähigkeit, in diesen Systemen an die für die natürliche Signalübertragung ausgebildeten Rezeptoren anzudocken. So sucht sich etwa Kokain seine Zielrezeptoren im dopaminergen System, Cannabis im cannabinoiden System; Opium, Heroin oder deren Ersatzmittel wie Methadon tun dies im opioiden System. Auch Alkohol wirkt über das opioide System und setzt Dopamin frei.

Die Wirkung der Drogen ist jedoch um ein Vielfaches stärker als jene der körpereigenen Substanzen, wodurch einerseits das High entsteht, andererseits aber die Rezeptoren und das ganze System beschädigt werden. Die Sensibilitätsschwelle steigt, und dadurch entsteht das immer höhere Bedürfnis („Craving“) nach Zufuhr von neuem Stoff. Zugleich ist klar geworden, dass nicht nur die Wirkung von Suchtstoffen, sondern auch zur Sucht gewordenes Verhalten über wiederholte Reizung dieselben Pfade in Beschlag nimmt.

Suchtpotenzial liegt übrigens in jedem Bereich menschlicher Aktivität, ob Arbeit, Beschäftigung mit dem Computer, Internet, Handy, Spiel, Essen, Trinken, TV, Liebesbeziehungen, Sex, Streiten, Einkaufen, Putzen oder Shoplifting. Wenn ein bestimmtes Verhalten nicht mehr kontrolliert werden kann, wenn es in immer stärkerer Intensität stattfindet und wenn bei Abstinenz Entzugserscheinungen auftreten, dann ist es zur Sucht geworden.

Die biochemischen Kreisläufe – das so genannte Belohnungssystem –, die von der Sucht in Beschlag genommen werden, haben sich über Jahrmillionen herausgebildet und sind optimiert für ein Leben in der Wildbahn. Dem auf die Jagd angewiesenen und häufigen Bedrohungssituationen ausgesetzten Menschen einer frühen Kulturstufe ermöglichte dieses System das Überleben, indem es ihn antrieb, sich seinen Weg zur Beute über unwegsames Gelände, durch Dickicht und in Konkurrenz mit gefährlichen Raubtieren zu bahnen, ohne dabei sein Leben sinnlos aufs Spiel zu setzen.

Alle Kulturen fanden Wirkstoffe, um über dieses neurochemische System künstlich auf die Emotionen einzuwirken und Hochgefühle zu erzeugen, sei es in religiösen Zeremonien, sei es zur Stärkung des sozialen Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch bei der Bewältigung eines nicht immer erfreulichen Alltags konnte es helfen, sich einen konstanten Euphoriespiegel zuzulegen. Entsprechende Rituale machten es leichter, den Konsum einschlägiger Substanzen zu kontrollieren. Auf diese Weise konnten Rauschmittel jahrzehntelang genossen werden, ehe sie ihr schädigendes Potenzial entfalteten. Entsprechend entwickelte sich in Europa der Alkoholkonsum, in Afghanistan eine Opiumkultur oder in Südamerika ein alltäglicher Umgang mit Kokain.

Hirnscans zeigen, welche Zentren bei Gesunden und bei Abhängigen von Suchtmitteln angeregt werden. Die daraus resultierende, für die Forscher überraschende Erkenntnis: Es gibt ein „Suchthirn“. „Bei Süchtigen leuchten im Tomografen schon bei bloßer Nennung irgendeines Begriffs, der mit ihrer Abhängigkeit in Zusammenhang steht, jene Hirnregionen auf, die auch durch die Droge aktiviert werden“, berichtet Gilberto Gerra, Leiter der Global Challenges Section des UN-Büros für Drogen und Kriminalität, UNDOC, in Wien.

Die durch den Drogenkonsum bewirkte Umstellung des Dopamin-Systems auf ein erhöhtes Niveau wird auf DNA-Ebene fix einprogrammiert und kann daher nicht mehr verlernt werden. Die Folge: Die Betroffenen bleiben zeitlebens anfällig für jeden Stimulus aus dem Bereich ihrer Sucht, ob es nun das Mittel selbst ist oder etwas, das sie auch nur daran erinnert. Das Suchtgedächtnis vergisst nichts – außer bei einer einzigen Droge, deren Gebrauch tatsächlich wieder verlernbar sein dürfte: dem Nikotin.

Genetische Veranlagung. „Sucht bedeutet nicht, dass jemand haltlos in selbstverschuldetes Elend geschlittert ist“, betont UNDOC-Experte Gerra. „32 Prozent der Kranken haben eine genetische Veranlagung.“ Weitere wichtige Ursachen seien posttraumatische Störungen, bereits vorhandene psychiatrische Erkrankungen, sexueller Missbrauch – was bei etwa 20 Prozent der Drogenabhängigen der Fall ist –, Armut, massive Überbelastungen und mangelnde Fürsorge im Kindesalter.

Zum Ausbruch der Krankheit führe zumeist eine Häufung mehrerer Faktoren.

So auch bei Petra M., 21. Die hübsche junge Frau mit Nasenpiercing und kohlrabenschwarzem Fransenhaarschnitt hatte eine schwierige Kindheit: Der Vater saß im Gefängnis, von der allein erziehenden Mutter wurde sie häufig geschlagen. Das Jugendamt brachte sie in einer betreuten WG im Burgenland unter, als sie elf war. Tatsächlich gelang Petra ein zweiter Start. In der Hauptschule fleißig und erfolgreich, wollte sie Köchin werden. Doch fanden sich für die Jugendlichen aus der WG, von denen einige im Ort unangenehm aufgefallen waren, keine regulären Lehrstellen. Als einziger Lehrbetrieb stand Petra eine Integrationswerkstätte offen, die ihr jedoch kein so unbelastetes Umfeld bieten konnte, wie sie es gebraucht hätte. Fast drei Jahre lang hielt Petra durch. Dann geriet sie in einen Freundeskreis, in dem Drogen konsumiert wurden. Am Ende stürzte sie ab in die Heroinsucht. Heute ist Petra „clean“, macht im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie eine Kombinationstherapie aus Medikamenten und Verhaltenstherapie und erwartet ein Baby.

In welch starkem Ausmaß Sucht durch Mangel an Zuwendung in der Kindheit gebahnt wird, konnte in Tierversuchen bestätigt werden. Junge Ratten, deren Neurochemie jener des Menschen sehr ähnlich ist, wurden in den ersten zwei Lebenswochen – bei Menschen wären das die ersten drei Jahre – täglich für drei Stunden von der Mutter getrennt. Als die Jungen ausgewachsen waren, zeigten sie einen höheren Stresshormonspiegel als andere Ratten. Dass sie auch bedeutend ängstlicher waren, ließ sich daran erkennen, dass sie auf schmalen Kanten nicht laufen wollten. Vor die Wahl gestellt zwischen Zuckerwasser und einer alkoholischen Flüssigkeit, entschieden sie sich für den Alkohol.

Selbstmedikation. Solche Experimente bestätigen auch einen Aspekt, mit dem Drogenabhängige selbst oft ihre Sucht begründen: die Selbstmedikation. Eine Substanz wird für eine Person meistens erst dann für den regelmäßigen Konsum interessant, wenn sie ein bestehendes biochemisches Ungleichgewicht zumindest zeitweilig aufzuheben und ins Positive zu kehren vermag – etwa bei starken Ängsten, von denen, wie bei den erwähnten Ratten, ein „Sorgentrunk“ vorübergehend Befreiung verspricht, oder bei Erschöpfungszuständen, die sich mithilfe von Kokain oder Amphetaminen bewältigen lassen.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der die Hirnchemie zum Entgleisen bringen kann, ist der Einfluss von Schadstoffen auf den Fötus während der Schwangerschaft.

Eine im Vorjahr im Medizinjournal „The Lancet“ publizierte Studie stellte eine eindeutige Verbindung zwischen Schadstoffaufnahme und Hirnfunktionsstörungen bei Kindern her, darunter ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, auch „Zappelphilipp“-Erkrankung genannt). Das Gleiche gilt, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Suchtstoffe zu sich nimmt, und zwar nicht nur harte Drogen wie Heroin oder Kokain, sondern auch Antidepressiva, Alkohol und Nikotin.

Bei 30 Prozent der von ADHS betroffenen Kinder hatten die Mütter während der Schwangerschaft geraucht. Zurzeit wird der Anteil von ADHS-Kindern in Europa und den USA – darunter dreimal so viele Buben wie Mädchen – auf zwei bis vier Prozent geschätzt. Aus ihrem Pool rekrutieren sich die Opfer schwerer Süchte: 30 Prozent der Patienten in den Drogenambulanzen hatten als Kinder ADHS, und 20 Prozent zeigen auch heute noch die Symptome: extreme Konzentrationsschwäche, starker Bewegungsdrang, Impulsivität und Aggressivität oder auch, meistens bei Frauen, lähmende Verträumtheit.

Bei ADHS ist aufgrund einer Unterversorgung des Gehirns mit Dopamin der für die Verhaltenskontrolle zuständige präfrontale Teil des Stirnhirns geschwächt – jene Bremse also, die Menschen dabei unterstützt, aus dem Angebot von Möglichkeiten das auszuwählen, was ihrem Interesse am besten entspricht. Die Konzentrationsschwierigkeiten, die Fahrigkeit und Gereiztheit von ADHS-Patienten rühren daher, dass dieser Auswahlprozess gestört ist.

Oft also beginnen Drogenkarrieren schon im Mutterleib. Zugleich holen Frauen nicht nur bei Nikotin, sondern auch bei anderen Süchten gegenüber den Männern auf. Als Ursache dafür gilt steigende Stressbelastung. Gabriele Fischer, Leiterin der Suchttherapie im Wiener AKH und international angesehene Suchtforscherin, ist Principal Investigator einer groß angelegten Studie, die das US-amerikanische National Institute of Health (NIH) in acht Kliniken weltweit durchführt. Dabei wird untersucht, welche Schädigungen illegale Substanzen Kindern im Mutterleib zufügen können. Zwei Millionen Euro hat Fischer dafür bereits vom NIH zur Verfügung gestellt bekommen. Im nächsten Schritt soll das Modell auf das legale Nikotin ausgeweitet werden. Die Forscherin beklagt, dass in Österreich für diese aufwändigen Untersuchungen keine Forschungsförderung aufzutreiben sei. Auch fehle es hierzulande an einer epidemiologischen Studie zum Ausmaß der Suchterkrankungen.

Indirekte Kosten. In je früherem Entwicklungsstadium Schutzmaßnahmen getroffen werden, desto weniger menschliches Leid und desto geringere Kosten entstünden langfristig, sagt Fischer: „Leider ist das bei uns keine Forschungspriorität. Das Gesundheitssystem misst immer nur direkte Kosten, übersieht dabei aber, dass im Suchtbereich zwei Drittel indirekte Kosten sind, die durch Arbeitsunfähigkeit und Folgekrankheiten entstehen.“ Bis 2020 erwartet Fischer eine deutliche Zunahme sowohl von Suchterkrankungen als auch von Depressionen. Dies hänge mit der zu erwartenden Verschlechterung der Situation unterer Einkommensschichten und der dramatischen Zunahme des Drucks unter Besserverdienern zusammen und zeichne sich bei den Jugendlichen bereits deutlich ab. Viele Depressive, vor allem Frauen, versuchten häufig, die Depression mit Alkohol selbst zu behandeln, und entwickelten in der Folge zwei Erkrankungen.

Ein schonender Therapieansatz wäre für die Suchtbehandlung Schwangerer von besonderem Interesse. Einer der Höhepunkte der im vergangenen September in Wien abgehaltenen Konferenz des Europäischen Verbandes für Suchttherapie (EAAT) war der Vortrag des Neurobiologen Jon-Kar Zubieta von der University of Michigan. Mit modernster Neuroimaging-Technik beobachtet Kubieta, wie das älteste Heilmittel der Menschheit, der Placeboeffekt, im Gehirn seine Arbeit verrichtet. Placeboforscher konnten in ihren Untersuchungen nachweisen, dass Scheinmedikamente gerade bei Störungen des Dopamin-Haushaltes einen sehr hohen Wirkungsgrad haben. „Bei Parkinsonismus gingen in klinischen Studien die Beschwerden in bis zu 45 Prozent der Fälle zurück, bei Depression gar um bis zu 60 Prozent“, sagt der Forscher aus Michigan. „Die Schaltkreise des Belohnungssystems reagieren bei den Scans sichtbar auf die Erwartungen, die mit der Placebogabe verbunden sind. Und es ist für uns ungaublich spannend, Prozesse von Kognition und Erwartung auf die neurochemische Ebene umzulegen.“ Abhängig davon, ob diese Systeme auch dann auf das Scheinmedikament reagieren, wenn sie durch eine Sucht bereits verändert sind, könnte der Placeboeffekt eines Tages in der medikamentösen Therapie von Süchten eine Rolle spielen.

Störanfällig. Zur Überraschung der Suchtforscher stellt sich heraus, dass allen Süchten gemeinsame Prozesse im Zentralnervensystem zugrunde liegen. Besonders augenfällig zeigt sich diese Gemeinsamkeit im Vergleich zwischen Substanzabhängigkeit und Esssucht. Wie bei anderen Suchtformen erhöhen auch bei der Esssucht bestimmte Reize – im speziellen Fall der Anblick und Duft der Speisen – die Dopamin-Konzentration in den Verschaltungen des Gehirns (Synapsen), wodurch die Lust oder Appetenz geweckt wird. Sowohl bei der Fettsucht als auch bei der Drogensucht sind die D2-Dopamin-Rezeptoren im Gehirn reduziert.

Als Spezifikum der Fettsucht zeigte sich eine Überaktivierung in jenen Hirnregionen, die für Bewegung und Gefühl von Lippen, Mundhöhle und Zunge zuständig sind. „Die Patienten sind infolge der gesteigerten Sensibilität in diesen Regionen vielleicht besonders anfällig für diese Art der Sucht“, meint Joseph Frascella, Direktor der Division für klinische Neurologie und Verhaltensforschung am US National Institute on Drug Abuse, der sich zur EAAT-Konferenz in Wien aufhielt. Dagegen sei bei Adipositas-Patienten eine geringere Aktivierung im dorsolateralen präfrontalen Kortex, wo das Gefühl des Sattseins entsteht, zu beobachten. „Möglicherweise wird das Signal zur Beendigung der Mahlzeit nicht wirklich verarbeitet“, vermutet Frascella.

Am Beispiel der Esssucht wird besonders klar deutlich, weshalb archaische Verstärkungsmechanismen die Menschen im modernen Leben so störanfällig machen. „Vor der technischen Revolution war der Kalorienverbrauch doppelt so hoch wie heute“, erklärt Frascella. „Entsprechend sinnvoll war ein starker Antrieb, um die Nahrungsaufnahme sicherzustellen. Heute dagegen verbringen wir fast den ganzen Tag sitzend. Statt auf die Jagd gehen wir in den Supermarkt, wo sich vor uns ein riesiges Angebot hochenergetischer, appetitmachender Lebensmittel ausbreitet.“

Für andere Arten des Suchtverhaltens prädestinieren heutzutage ausgerechnet jene Eigenschaften, die in früheren Zeiten einen tapferen Stammeskrieger oder erfolgreichen Pionier ausgemacht hätten: Draufgängertum und Abenteuerlust. Bei Zivilisationsmenschen verselbstständigen sich solche Triebe in die Richtung weniger bodenständiger Erfolgskriterien wie Macht, Status und Prominenz. Hinzu kommt, dass die Lebensbedingungen in einer „zunehmend bindungslosen und mit Virtualitäten wie Schönheitsidealen, Perfektionismus und Börsenspielen erfüllten Gesellschaft“ (so die Psychoanalytikerin Rotraud Perner, Leiterin des Wiener Instituts für Stressprophylaxe und Salutogenese) in immer mehr Menschen ein nagendes Gefühl von Unerfülltheit oder Unzulänglichkeit wachsen lassen. Wer keine nährende und für das Leben stabilisierende Kindheit erfahren hat, ist in Gefahr, die gähnende innere Leere mit künstlichen Highs auffüllen zu wollen. Doch sind gerade Kinder heute oft emotional unterversorgt. Dass Eltern dies oft mit materieller Überversorgung kompensieren, fördert die Suchtneigung zusätzlich.

Parallel dazu steigt das Angebot an Suchtmitteln, ob legale oder illegale, ständig an. „Bis 1900 war in Österreich die Hälfte aller Gasthäuser alkoholfrei“, sagt der Gerichtspsychiater Reinhard Haller, Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene, eines Behandlungszentrums für Suchtkranke in Vorarlberg. Die leichte Verfügbarkeit von Alkohol führe dazu, dass mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung mit einem zu hohen Bedürfnis nach diesem Seelentröster kämpfen, Männer signifikant stärker als Frauen. Frauen vermeiden es eher, sich zu betrinken, da es bei ihnen vielfach als anstößig gilt, doch holen sie auch in diesem Bereich auf. Indessen entdeckten sie in den vergangenen Jahrzehnten eine unauffälligere Möglichkeit, um ihre seelische Befindlichkeit zu manipulieren: Medikamente. Heute, so Haller, leiden ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung an Medikamentensucht. Gerade bei dieser Suchtform sei die Entwöhnung besonders leidvoll und schwierig.

Entsprechend der Aktualität des Themas lag beim 20. Kongress des Europäischen Kollegs für Neuropsychopharmakologie, der im Oktober in Wien 6000 Teilnehmer anlockte, ein Schwerpunkt bei neuesten Erkenntnissen der Suchtforschung. Bei dieser Gelegenheit präsentierte Brigitte L. Kieffer von der Université Louis Pasteur in Straßburg eine Methode, die es eines Tages ermöglichen könnte, die Sucht an der Wurzel zu packen. Kieffer ist es gelungen, so genannte Knock-out-Mäuse zu züchten, in denen die verschiedenen Rezeptortypen des Opioidsystems im Gehirn selektiv ausgeschaltet sind. Dank dieser Mäuse ist es erstmals möglich, via Live-Imaging, wobei die Tiere im Tomografen beobachtet werden, mitzuverfolgen, wie Opium und seine Derivate im lebenden Organismus wirken.

Das Verhalten der Tiere gibt, je nachdem welcher von den drei Rezeptoren ausgeschaltet ist, Aufschluss über die Rollen dieser Rezeptoren und deren Wechselspiel untereinander. Kieffer konnte an Mäusen, deren Gen für einen mit µ bezeichneten Rezeptor ausgeschaltet wurde, feststellen, dass Opiate bei ihnen nicht mehr schmerzstillend wirkten. Zugleich hatte die Sucht über diese Mäuse ihre Macht verloren: Nicht nur Opium, Morphium, Heroin und Methadon, sondern auch Alkohol, Cannabis oder Nikotin zeigten bei ihnen kaum noch Wirkung. Daraus, so Kieffer, „ist zu schließen, dass die µ-Rezeptoren molekulare Schalter sind, mit der Funktion, die Wirkung der endogenen Botenstoffe zu verstärken“. Wirkstoffe, welche die µ-Rezeptoren blockieren, bergen deshalb für die Zukunft Potenzial für Medikamente zur Suchtbekämpfung.

Solange es aber noch keinen medikamentösen Weg gibt, um den Suchtmechanismus auszuhebeln, muss die Suchttherapie mit einem beschränkten Arsenal an Psychopharmaka auskommen, das vor allem die zugrunde liegenden seelischen Störungen anvisiert und Rückfälle zu verhindern sucht. Bei Opiat- und Nikotinabhängigkeit werden gegenwärtig die besten Erfolge erzielt. Begleitend zur Substitutionstherapie wird die kognitive Verhaltenstherapie eingesetzt.

Suchtimpfung. Medikamente, die versprechen, eine spezifische Abhängigkeit zu bekämpfen – wie etwa in Entwicklung befindliche Impfstoffe –, werden nach Erfahrung von Suchtexperten keine langfristige Besserung bringen. „Ich denke nicht, dass eine rein pharmakologische Intervention helfen kann“, meint dazu Suchtforscherin Gabriele Fischer. Sie fürchtet, dass die Betroffenen in eine andere Abhängigkeit wie Ess- oder Spielsucht abgleiten könnten, denn aufgrund der gemeinsamen biochemischen Grundstörungen löst oft eine Sucht die andere ab. „Wir müssen die Patienten in ihrer Gesamtheit sehen und behandeln.“

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, um dem sich verschärfenden Suchtproblem beizukommen. „Die gefährdeten Familien ausfindig machen und bei den Kindern so früh wie möglich ansetzen, sie mit Ressourcen ausstatten, die sie im späteren Leben gegen die Sucht immunisieren“, fordert Gilberto Gerra.

Die Kulturwissenschaften unterstützen die Prävention, „indem wir analysieren, wie die Avantgarden mit Drogen umgehen und welche kulturellen Produkte daraus entstehen“, sagt der Literaturwissenschafter Martin Tauss, der die Rolle von Drogen in literarischen Texten untersucht. „Pop- und Musikkultur prägen den Lifestyle, und was sich heute in diesen Szenen entwickelt, wird morgen zu einem Phänomen von Gesellschaftsgruppen.“ Das bestätigt der Trend zu stimulierenden Substanzen wie Kokain, Crack – die rauchbare Form von Kokain – und Amphetaminen, die dem traditionellen Spitzenreiter unter den Modedrogen, dem Haschisch, mittlerweile den Rang streitig machen. Aber selbst wenn diese Drogen weit verbreitet sind, so ist keine von ihnen ungefährlich – auch nicht das lange Zeit verharmloste Haschisch, das seit einigen Jahren eine immer jüngere Klientel in den Bann zieht, wobei die auf dem Markt kursierende Ware deutlich stärker ist als früher. Bei anfälligen Jugendlichen führt der Langzeitkonsum von Cannabis oft zu Antriebs- und Interesselosigkeit und damit zum Abbruch der Ausbildung und zu Arbeitslosigkeit. Psychosen treten vermehrt auf.

„Das Drogenproblem spart keine Gesellschaftsschicht aus“, betont der Wiener Drogenbeauftragte und Mitbegründer des Wiener Drogenprogramms, Alexander David. „Sogar in der Heroinsubstitution haben wir Patienten aus allen Berufsgruppen: Krankenschwestern, Ärzte, Journalisten, Lehrer.“ Ebenso wie Leistungsdruck lasse Arbeitslosigkeit die Empfänglichkeit steigen. „Deshalb müssen wir verhindern, dass Menschen aus dem sozialen Rahmen fallen.“ In Wien sei es gelungen, eine „therapeutische Kultur“ zu entwickeln, die inzwischen auch in anderen Bundesländern Fuß fasse und deren Kernstück, so David, in „einem liberalen Regime“ bestehe. „Wo Drogenkranke nicht geduldet oder scharf verfolgt werden, entziehen sie sich der Behandlung.“

In Zusammenarbeit mit der Polizei konnte eine Strategie durchgesetzt werden, die sich „auf die Verfolgung der Dealer konzentriert und nicht auf die kleinen Fische“, berichtet David. Ein großes Netzwerk von praktischen Ärzten, Drogentherapiezentren und Apothekern, das von den Ärztekammern und Krankenkassen – sie zahlen in Wien an Ärzte ein Sonderhonorar für Substitutionstherapie – unterstützt wird, macht es möglich, dass von 6000 bis 7000 Heroinsüchtigen in der Bundeshauptstadt etwa 5000 von Hausärzten in Substitutionstherapie betreut werden. Weitere 900 sind in Zentren erfasst. Das Diversionsprinzip – Therapie statt Strafe –, so David, tue ein Übriges, um den Drogenkonsum in den Griff zu bekommen. Es erweise sich als wesentlich kostengünstiger als Gefängnisstrafen und zeige auch langfristigen Erfolg, da die Betroffenen nicht aus ihrem sozialen Netz herausfallen.

Die Geschichte von Helmut N., 49, einem von Davids Patienten, ist exemplarisch, sowohl im Hinblick auf die Austauschbarkeit der Drogen als auch auf die Möglichkeit, davon wegzukommen: Mit 15 Haschisch, mit 23 ein Jahr lang Heroin. Ab Mitte 30 Kokain bis zur Paranoia und Psychose. Verhaftung wegen Drogenbesitzes und Freiheitsstrafe in einer offenen Vollzugsabteilung. „Dort konnte ich meiner Arbeit nachgehen und eine Art Privatleben führen. Seit 2002 bin ich clean.“

„Sucht“, so der Vorarlberger Suchtexperte Reinhard Haller, „ist die einzige chronische Krankheit, von der ein Patient sich letztlich nur selbst heilen kann.“ Doch braucht er dazu auch intensive ärztliche Unterstützung, denn die Sucht gilt heute als die schwerste psychische Erkrankung.

Von Johanna Awad-Geissler