Terror und Tod

Terror und Tod: Die Akten der Volksgerichte wurden erstmals geöffnet

Zeitgeschichte. 65 Jahre nach dem Ende von NS-Regime und Zweitem Weltkrieg sind die Akten der Volksgerichte erstmals zugä

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Sie waren zu dritt aneinandergekettet, steckten in schweren Holzschuhen und sollen rote Häftlingskleidung getragen haben. Wahrscheinlicher ist, dass auf ihre zerlumpten Jacken der rote Winkel genäht war, das NS-Mal für politische Häftlinge.

Zu Fuß wurden sie im April 1945 aus einem „Arbeitserziehungslager“ südlich von Wien getrieben. Der Treck umfasste etwa 450 Menschen. Es ging vorbei an Schloss Schönbrunn, Ziel war das Konzentrationslager Mauthausen, Oberösterreich. Am Rande des Wienerwalds erschoss die Wache die ersten Gehunfähigen aus dem armseligen Zug – einen, weil er wegen seines Klumpfußes aufgrund einer Kinderlähmung nicht mehr weitergekonnt hatte. Ein Bauer fand später beim Mähen die Leichen.

Ein Pfarrer im Waldviertel, in dessen Pfarrhof Station gemacht wurde, sagte, die Internierten aus dem NS-„Arbeitserziehungslager“ hätten sich in menschenunwürdigem Zustand befunden: „Ein Teil war in Wagen eingespannt, ein Teil hat das Gras vom Straßenrand weggerissen und gegessen. Bei mir hat sich eine leitende Persönlichkeit als Kommandant vorgestellt. Ich habe ihm gesagt, dass die Leute schlechter behandelt werden als das Vieh, darüber ist er grob geworden. Ich weiß nur, er hatte eine schwarze Uniform und eine Pistole.“

Von den meisten Menschen auf diesem Marsch kennt man keine Namen. Ihre Geschichte ist eine unter den vielen, die in politischen Jahrestagsreden als „dunkles Kapitel in Österreichs Geschichte“ beschworen werden. Zigtausende Seiten daraus sind nun erstmals öffentlich einsehbar. Manche sind auf inzwischen zerfallendem Papier geschrieben, manche der Dokumente wurden von Mäusen angefressen: Jahrzehntelang waren die beinahe 200 Regalmeter umfassenden Akten der in Wien geführten NS- und Kriegsverbrecherverfahren bei Gericht unter Verschluss, seit heuer stehen sie im Wiener Stadt- und Landesarchiv zur Benützung offen. Es ist der größte derartige Bestand in Österreich. In ihm liegt in einem privaten Fotoalbum auch das einzige Foto, das mitten in der Stadt die Verladung von Juden zur Deportation zeigt. Ein anderes Bild dokumentiert einen Wehrmachtssoldaten, der auf Menschen in einer Grube zielt; die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt. Durch gerichtliche Beschlagnahme sind in den Akten NSDAP-Mitgliedsbücher bewahrt geblieben, die meisten der fast 700.000 NSDAP-Parteiausweise von Österreichern verschwanden 1945 spurlos.

65 Jahre nach dem NS-Regime und dem Zweiten Weltkrieg, der mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 beendet wurde, zeigen die Gerichtsakten die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens: die Selbstdarstellung von Angeklagten, die Schönfärberei der für sie eintretenden Zeugen und die Qual der Opfer bei der Beschreibung von Unsagbarem. Ansuchen um Erlass der Sühne nach der Schuld geben wieder, was Familienangehörige, Kollegen und die intervenierende Politik von Verurteilungen hielten.

Die Historikerin Brigitte Rigele vom Wiener Stadtund Landesarchiv spricht von einem einzigartigen „Fenster in die Zeit“. Die von ihr kuratierte erste Präsentation von Prozessakten ist erschütternd. Unter dem Titel „Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen“ ist sie derzeit im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1110, Guglgasse 14, Gasometer D) zu sehen. Yad Vashem, Jerusalem, scannt die Dokumentenberge nach Namen jüdischer Opfer.

„Ganz normale Männer“.
Viele Geschehnisse finden sich überhaupt nur noch in diesen Akten. Das so genannte „Arbeitserziehungslager“ Oberlanzendorf, das mit dem eingangs beschriebenen Marsch endete, ist ein derartiger Fall. Es fanden Exekutionen von „Ostarbeitern“ am Galgen statt, Flüchtige wurden „wie die Hasen gejagt“ (Zeuge) und geschossen. Durch das Lager dürften 17.000 Menschen gegangen sein. Sie arbeiteten in Gutshöfen und Betrieben der Umgebung. Als Historiker Josef Prinz in den neunziger Jahren vor Ort nachfragte, bekam er nur noch zu hören, „dass da einmal etwas war“ 1).

Dieses vergessene Lager steht für einen Teil der NS-Ideologie überhaupt, profil präsentiert daher Auszüge aus dem Kriegsverbrecherprozess zu Oberlanzendorf als ersten Teil einer Serie. Als ­Institution waren die rund 200 „Arbeitserziehungslager“ im Deutschen Reich die Pervertierung der Begriffe Arbeit und Erziehung: Das NS-Regime ließ die Lager von der ­Gestapo führen. In ihnen entlud sich die von den Nazis betriebene Brandmarkung von „Asozialen“, „Arbeitsscheuen“ und „Ausländern“, den meist aus Osteuropa herbeigeschafften Zwangsarbeitern, in Gewaltexzessen. Viele machten mit. Denn gemeldet wurden die Menschen an die Gestapo von den Gemeinden, den Arbeitsämtern, Denunzianten und Betrieben zur Disziplinierung durch abschreckende Härte: An einem Februartag 1943 beispielsweise wurden zwei Dutzend polnische Zwangsarbeiter aus dem Unternehmen Schoeller-Bleckmann in Ternitz in das „Arbeitserziehungslager“ überstellt, die aus Protest gegen die deutsche Kriegsführung die Arbeit verweigert hatten.

Insbesondere das Lager Oberlanzendorf steht für Quälereien, Terror und Tod, ausgeübt und zugelassen durch „ganz normale Männer“, wie Lagerkommandant Karl Künzel einer war. Künzel stammte aus einer Wiener Beamtenfamilie, war ab 1936 Kriminalbeamter und ab 1938 bei der Gestapo. Über seine Arbeit sagte er vor Gericht: „Später kam ich dann zum Referat Arbeitsscheue, Asoziale. Auch keine politische Beamtentätigkeit. Einem Sonderkommando im Ausland habe ich nie angehört. Dies habe ich schon verstanden, mich von Auslandseinsätzen zu drücken! Ich bin nichts für Hinrichtungskommandos. Mit März 1942 wurde ich nach dem Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf versetzt.“

Bereits die Errichtung des Lagers war von politischer Abschreckung geprägt. Nachdem angeblich „Asoziale“ bei einem Fußballspiel einer deutschen Mannschaft in Wien antideutsche Parolen gerufen hatten, ordnete Reichsstatthalter Baldur von Schirach im Herbst 1940 eine große Verhaftungsaktion an. Für die Internierung wurde das so genannte „Krüppelheim“ im Schloss Oberlanzendorf bestimmt, in dem früher Behinderte und zuletzt ein „Arbeitslager“ der Stadt Wien untergebracht gewesen waren. Im Schloss zog die Gestapo-Verwaltung ein, im Park wurden primitivste Holzbaracken errichtet. Die Verschläge boten Platz für 400 Internierte. Im letzten Kriegsjahr waren darin mehr als 2000 Menschen zusammengepfercht. Es handelte sich um „Schutzhäftlinge“, die man nicht mehr wie vorgesehen in Konzentrationslager bringen konnte. Und um rumänische Kriegsgefangene und Offiziere, die halb verhungert von der Wehrmacht abgegeben wurden. Nach der Besetzung Ungarns im März 1944 wurden Angehörige der ungarischen Elite eingeliefert, unter ihnen Ex-Minister, der frühere Präsident der Ungarischen Nationalbank und Aristokraten wie Gräfin M. Andrassy. Ein Vertrauensmann Heinrich Himmlers erschien im Lager, um Ferenc Chorin, dem Oberhaupt eines weitläufigen Industriekonzerns, den Besitz ab­zupressen. Viele ungarische Juden wurden auf dem Todesmarsch nach Mauthausen geschleppt.

Schon 1941 hatte man Insassen in das KZ Mauthausen bringen lassen, die Begründung dafür kam einem Todesurteil gleich: „Es ist nicht gleichgültig, wie lange ein Asozialer als gemeinschaftsunfähiger Schmarotzer die Lebenstüchtigen belastet.“

Der ehemalige SS-Lagerkommandant Karl Künzel charakterisierte die Internierten vor Gericht pauschal als durchwegs „Arbeitsscheue, Asoziale (notorische Säufer), Arbeitsverweigerer ..., dann Schutzhäftlinge, ausländische Mörder, Räuber, Sittlichkeitsverbrecher, Schleichhändler“. Die Wache bestand aus Reservesoldaten der Waffen-SS, die nicht fronttauglich waren, unter ihnen Volksdeutsche aus der Ukraine und Rumänien. Über die Länge der „Besserungszeit“ entschied ein Schnellgericht im Lager, offiziell war sie mit maximal 56 Tagen bestimmt. Bei ­ihrer Entlassung mussten die Insassen unterschreiben, nichts über das Erlebte zu erzählen.

Der Alltag war von Hunger, Willkür und Gewalt geprägt. Günther Schifter, der später mit seinen Jazzsendungen als „Howdy“ zur Radiolegende werden sollte, war 1944 als 20-Jähriger von einem verbotenen Konzert weg verhaftet und ins „Arbeitserziehungslager“ gebracht worden. Schifter: „Ich sah hundert bis zweihundert Häftlinge mit ausgestreckten Armen stehen, und da hat jeder zwanzig Hiebe mit dem Stecken bekommen, dann mussten sie die ­Schuhe ausziehen und bekamen zwanzig auf die Fußsohlen.“

Elektriker Alfred B. schmuggelte aus Mitleid Essen ins Lager und wurde von den Kommandanten mit Einsperren bedroht. B.: „Die Häftlinge haben gesagt, ich solle besser aufpassen; ich habe auch dann etwas gebracht.“ Ignaz K., Stromzählerableser bei der Gemeinde Wien, war nach einem Krankenstand zur Gestapo vorgeladen und kam ebenfalls ins Lager Oberlanzendorf. Aus seiner Gerichtsaussage: „Lagerkommandant Künzel war immer in Begleitung einer Dogge, die er vor allen Häftlingen mit Zucker fütterte. Da sah ich, wie Künzel für den Hund eine Schüssel voll Schweinefleisch einem Posten übergab, um es dem Hund zu geben. Ein ausländischer Arbeiter sah das, und vor lauter Hunger nahm er sich ganz verstohlen ein Stück Fleisch von dem für den Hund bestimmten Essen. Als Strafe bekam der Arbeiter acht Tage hindurch 25 Stockhiebe (Knüppel, Ochsenziemer, alles, was greifbar war). Der Häftling wurde auf einen Bock gelegt, ein SS-Mann setzte sich auf den Hals, und die anderen zogen die Beine nach unten, sodass er sich nicht rühren konnte, und so verabreichten sie ihm die Stockhiebe, bis ihm das Blut und Fleischfetzen vom Gesäß herunterhing.“

„KZ der Gestapo“.
Die deutsche Historikerin Gabriele Lotfi charakterisierte die „Arbeitserziehungslager“ als Terrorinstrumente der lokalen Gestapo-Büros. Sie standen außerhalb der Justiz, der dadurch gegebene Handlungsspielraum sei von vielen Kommandanten und Wachen ausschließlich genutzt worden, um ihre individuellen Gewaltpotenziale freizusetzen. Zeithistoriker Thomas Albrich beschreibt das nahe Innsbruck errichtete Lager für italienische Arbeiter, die zurück nach Italien flüchten wollten, als „multifunktionales KZ der Gestapo“.

Zwei Kommandanten des Lagers Oberlanzendorf und ein als „Bluthund“ gefürchteter Wärter standen schon Ende 1945 als mutmaßliche Kriegsverbrecher auf der Fahndungsliste. Anfang 1946 suchte die Justiz über ­Inserate Zeugen. Einer von ihnen meldete sich umgehend, das Lager sei furchtbarer als KZs gewesen: „Habe heute in der Zeitung gelesen von Oberlanzendorf … war 1942 dort …, war 43–45 in Konzentrationslager Floßenbürg u. Dachau, aber so schlimm wie im Lanzendorf war es nicht.“

1950 wurde den beiden SS-Leuten und Lagerchefs, Karl Künzel und Karl Schmidt, vor dem Volksgerichtshof in Wien der Prozess gemacht. Künzel war davor zwei Jahre lang in Gewahrsam des französischen Militärgerichts gewesen, das in Frankreich zahlreiche ehemalige Internierte des Lagers Oberlanzendorf vernehmen ließ.

Fünf Tage lang wurde verhandelt. Die beiden Angeklagten leugneten alles außer Ohrfeigen und Schlägen, wenn Internierte „freche Antworten“ gegeben, nicht gegrüßt oder vom Futter des Lagerhunds gegessen hatten. Aus dem umfangreichen Protokoll lässt sich sachliche, souveräne Prozessführung ablesen. Als ein Beispiel für die Privilegienwirtschaft im Lagerkosmos kam auch das mutmaßliche Liebesverhältnis des Lagerkommandanten Künzel zu einer Salzburger Gräfin zur Sprache, die als politischer Häftling im Lagerschloss residierte.

Die Richter brachten Zustände zutage, die bis heute irritieren müssen. Etwa die medizinische Versorgung der tausenden NS-Zwangsarbeiter aus dem Osten, aber auch aus Frankreich und Griechenland, die wegen Arbeitsflucht, Arbeitsniederlegung und Ähnlichem eingewiesen worden waren. Die Gemeinde Wien verweigerte Spitalsaufnahmen und Medikamente, da sie sich für ausländische Arbeiter nicht zuständig sah. Im Lager ließ man sie krepieren. Kommandant Künzel sagte zur Medikamentenverteilung, er habe ausdrücklich angeordnet: „Dass in erster Linie die Deutschen (Österreicher) bekommen und nicht die asozialen Ausländer, die sich vielleicht heute noch in Österreich herumtreiben.“
Die Richter sprachen von einem Elend sondergleichen und grauenerregenden Zuständen im Lager.

Hauptbelastungszeuge war der Wiener Gemeindeangestellte Ignaz K. mit seinen Worten über „das Schrecklichste, was ich erlebt habe“: „Auf einmal haben sie einen Griechen gebracht und gesagt, er ist auf der Flucht erschossen worden. Die Wache hat die Leute gejagt wie die Hasen. … An dem fraglichen Abend wurden wir aus der Baracke um 8 Uhr abends hinausgejagt, mussten auf den Hauptplatz laufen, dort aufstellen. … Die hohen Herren von der SS haben sich unterhalten und Zigaretten geraucht und sind herumgestanden, die Wachmannschaft hat die Leute abgeschlagen und abgewatscht. Griechen haben den toten Griechen wieder holen müssen und auf einen Tisch legen, auf dem man sonst das Essen und Brot bekommt und die SS hat neuerlich betont, dass es jeden Einzelnen so geht, der flüchtet. … Die SS-Leute haben Spaß und sich lustig gemacht, auf einmal hat ein Posten einen Griechen herausgerufen und gesagt, indem er auf den toten Griechen zeigte, ,da nimm und beiß dem sein Geschlechtsteil ab‘, der Grieche hat dumm geschaut, der Wachposten hat ihm gleich eine heruntergehaut, daraufhin hat der Grieche das Glied abgebissen, gegessen und geschluckt, und am nächsten Tag war der andere Grieche auch tot.“

K. weiter: „Die SS-Leute und die Wachmannschaft haben sich bei dem Vorfall lustig gemacht. Auch die Häftlinge haben gelacht; wir waren schon so abgestumpft, wir haben dann schon selbst mitgelacht.“

Für mindestens 1000 Menschen bedeutete das „Arbeitserziehungslager“ Oberlanzendorf den Tod. Ex-Lagerchef Künzel schob die Verantwortung dafür Betrieben zu, die kranke Arbeiter hätten loswerden wollen. Im Prozess 1950 sprach er von Abschiebung der Ausländer: „Wenn die Leute nicht mehr arbeiten konnten, sind sie von den Firmen der Polizei übergeben und halbtot zu uns gebracht worden. Die Polizei hat die Ausländer genommen und mit dem nächsten Schub nach Lanzendorf gebracht.“ Die Todesliste des örtlichen Standesamts vermerkte in der Anfangszeit des Lagers noch die tatsächlichen Todesursachen:

„Josef N., † 12. Oktober 1941, bei Fluchtversuch mit Maschinenpistole erschossen. 11 Einschüsse.

Michael K., † 12. Oktober 1941, Vergiftung durch ein amoniakhältiges Gift. Selbsttötung?

Jan O., † 24. Oktober 1941, Herzschwäche und allgemeine Körperschwäche infolge Hungerstreiks. Kollaps.“

Später wurden die todbringenden Quälereien wie stundenlanger Appell in Winternächten zunehmend hinter zynischen Diagnosen verborgen. Einmal hieß es:

„Eduard M., † 27. Dezember 1944, Collaps, Herzschwäche, Patient hat aus Übermut ein Freibad bei –12 Grad genommen.“

Leichenbestatter Josef P. gab an, er habe so viel Grausiges gehört, dass er einmal selbst ins Lager gefahren sei: „Anfangs Dezember 1944, als wir verständigt wurden, wieder Leichen von Ober-Lanzendorf abzuholen, … sind wir mit 2 Pferdefuhrwerken in den Vormittagsstunden im Lager angekommen, um die angekündigten 20 Leichen abzuholen. Wir sind hinter der Lazarettbaracke zu einem kleinen Raum geführt worden, wo die Leichen übereinander ganz nackt aufgeschlichtet lagen. Die Einsargung erfolgte durch die Häftlinge, die sich freiwillig zu dieser Arbeit drängten, da sie dafür eine Essenszubuße erhielten. Nach meinen Wahrnehmungen ­waren die Leichen wie die lebendigen Lagerinsassen bis zum Skelett abgemagert. ... Die Särge wurden in Simmering am Zentralfriedhof abgeliefert, wobei ein Herr vom Arbeitsamt der Stadt Wien kontrollierte, ob auch alle angekündigten Leichen abgeliefert wurden.“

Einer der vielen Zeugen war der junge Arzt Hans C., der neben seiner Praxis für das Lager zuständig gewesen war, wo er in HJ-Führer-Uniform erschienen war. Auch gegen ihn wurde wegen Kriegsverbrechens ermittelt. Über Todesfälle durch die ständig angewandte Prügelstrafe gab er zu Protokoll: „Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand ausgesprochen erschlagen gemeldet wurde.“

Die Krankenbaracke war laut Zeugen ein „Stall, die Wärter waren selber Häftlinge. Ein Floridsdorfer, ein Fleischhauer, hat den Leuten Injektionen gegeben. … Die Leute haben gebrüllt und sind zugrunde gegangen. Die Häftlinge haben auch erzählt, dass man den Leuten die goldenen Zähne ausgebrochen hat.“ Das Verfahren gegen den Arzt wurde eingestellt – er hatte Überlebende gedrängt, nicht gegen ihn auszusagen.

Die beiden ehemaligen Lagerkommandanten wurden wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 1 des Kriegsverbrechergesetzes) und Quälerei und Misshandlung (§3 KGV) sowie nach NS-Verbotsgesetz verurteilt.

Karl Künzel sollte nach dem Spruch des Gerichts im Jahr 1950 lebenslang in Kerkerhaft, da er für den Todesmarsch ein eigenes „Erschießungskommando“ mit der Ermordung der Schwächsten beauftragt und am Tod von etwa 50 Marschunfähigen Mitschuld getragen hatte. Über Karl Schmidt wurden zwölf Haftjahre verhängt.

Das Urteil des Volksgerichtshofs war völlig konträr zum politischen Schwenk des Zudeckens der NS-Vergangenheit, der mit der ersten breiten Amnestie für NS-Minderbelastete 1948 eingeleitet worden war. Wörtlich hieß es im Richterspruch, die Verteidigung habe die schwer belastenden Angaben als „Gräuelmärchen“ hinstellen wollen: „Doch das Beweisverfahren hat von dem Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf ein Elendsbild sondergleichen ergeben. Im Hinblick darauf, und weil, wie bekannt, auch in anderen Lagern des dritten Reiches grauenerregende Zustände und Behandlungsmethoden aufgedeckt werden konnten, liegt kein Grund vor, die Richtigkeit der vom Zeugen K. bezeugten Unmenschlichkeiten ernstlich anzuzweifeln.“

„Ganz unmenschlich“.
Dass hunderte Internierte in einem Raum zusammengepfercht ständig eingeschlossen gehalten wurden, beschrieben die Richter als „eine ganz unmenschliche Behandlung, wie in den KZ üblich“. Dieser Raum sei tatsächlich „das Grauen und Elend, das sich ein Menschenhirn nur auszudenken vermag“ gewesen.

Jedem, der heute noch mit Befehlsnotstand der damaligen Täter argumentiert, kann die Lektüre des 59-seitigen Urteils nur empfohlen werden. SS-Mann Künzel wollte von einem Gestapo-Vorgesetzten den Befehl bekommen haben, auf dem letzten Marsch Schwache erschießen zu lassen. Die Feststellung der Richter: „Nach §1 Abs. 3 Kriegsverbrechensgesetz wird ein Kriegsverbrechen nicht entschuldigt, selbst wenn die Tat auf Befehl ausgeführt wurde. Im vorliegenden Falle wurde mit jeder Liquidierung eines marschunfähigen Häftlings ein Kriegsverbrechen begangen. Wenn von der Verteidigung geltend gemacht wurde, dass ein allgemeiner Befehl bestanden habe, Marschunfähige einfach umzulegen, so ist dem entgegen zu halten, dass ein solcher Befehl als ein Rückfall in altertümliche Barbarei gewertet werden kann und dass seine Befolgung zweifellos den natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit widerspricht, daher unentschuldbar ist.“

Eine große Zahl jener, die im April 1945 den Marsch in das KZ Mauthausen schafften, wurde dort in der Gaskammer ermordet. Lagerleiter Franz Ziereis soll sie mit den Worten empfangen haben: „Was bringt ihr mir da für ein Gesindel. ... Gut, es ist 16 Uhr 30, in einer halben Stunde haben alle einen kalten Arsch.“ Die aus dem sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Umfeld kommenden politischen Gefangenen Georg Kronholz und Johann Strohmer waren unterwegs erschossen worden. Zehn Jahre nach dem Todesmarsch, auf den er seine Schutzbefohlenen geführt hatte, öffneten sich für den ehemaligen Kommandanten des „Arbeitserziehungslagers“, Künzel, im April 1955 die Gefängnistore.

Begnadigt von Bundespräsident Theodor Körner bekam er eine Art Bewährungshelfer „als wohlwollenden Be­rater“. In den späten fünfziger Jahren war er in der Creditanstalt Bankverein beschäftigt. Der Betriebsrat der CA machte sich dafür stark, dem ehemaligen SS- und Gestapo-Mann nun auch die Bewährungszeit zu erlassen. Denn dann könne man für den Kollegen die „berufliche ­Besserstellung – wie sie seinen Fähigkeiten entspricht – erreichen“.

Ex-Lagerkommandant Schmidt saß bis 1954 ein ­Drittel seiner Haft ab, Innenminister Oskar Helmer, SPÖ, hatte ihn zur Weihnachtsamnestie vorgeschla-gen.

Der gefürchtete „Bluthund von Oberlanzendorf“, der aus Rumänien stammende „Volksdeutsche“ Adam Milanovicz, wurde 1952 vor Gericht gestellt. Er war der brutalste unter den Wachposten gewesen, eine Aussage über seinen Einsatz beim Todesmarsch: „Es haben sich die meisten Leute gesträubt, sie haben gejammert, die haben schon gewusst, dass sie erschossen werden, weil sie schon vorher immer die Schüsse gehört haben. Die meisten hat Milanovicz erschossen, was ich gesehen habe.“

Milanovicz wurde als Kriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt und kam durch die Weihnachtsamnestie 1956 auf freien Fuß. Er kehrte nach Maria Lanzendorf zurück, wie der Ort nahe Schwechat nunmehr hieß. Er heiratete, arbeitete in der Tankstelle des Ortes und wurde als geachteter Mitbürger zum Obmann des lokalen Fußballvereins gewählt.

Nächste Folge:
Verfahren gegen Wiens ehemaligen NS-Vizebürgermeister und einen Antiquitätenhändler.