Tsunami: Das Leben danach

Tsunami: Das Leben danach - 75 Österrei-cher sind identifiziert, 15 sind vermisst

Die Toten und die Über-lebenden der Flutwelle

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Christa Zrenner hat ein Bild im Kopf, das sie nicht mehr los wird. Was sie sieht, kann so gar nicht passiert sein. Vielleicht spielt ihr die Erinnerung einen Streich, oder der Schock hat die Realität verfälscht. In diesem Bild wird ihr Lebensgefährte Gerhard Walter von der Welle erfasst. Aber das Wasser verschluckt ihn nicht. Er sitzt ganz oben auf dem Wellenkamm und wird nicht einmal nass.

Gerhard Walter ist am 26. Dezember im Tsunami gestorben. Am 9. März hat Christa Zrenner ihren Freund beerdigt. Etwa für diese Zeit hatten die beiden ihre Hochzeit geplant.

Die 52-Jährige aus Wiener Neudorf hat drei Monate im Krankenhaus verbracht. Ihr linker Fuß war gequetscht, die Wade fast bis zum Knochen aufgerissen. Dass sie nicht am Unglücksort verblutete, verdankt sie einem jungen Thailänder, der sie auf dem Mofa vom Strand in Khao Lak bis zur Hauptstraße und damit in Sicherheit brachte. Doch auch diese Erinnerung quält Christa Zrenner heute: „Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich vielleicht nach Gerhard suchen können.“

Christa Zrenner erträgt ihr Leben derzeit nur mithilfe von Psychopharmaka. Solange sie die Pillen nimmt, geht es. Sie träumt auch nicht schlecht, sie träumt gar nicht. Einmal hat sie versucht, die Tabletten abzusetzen, aber es funktionierte nicht. „Ich bin drei Nächte lang wachgelegen“, erzählt sie. „Und immer wieder ist der 26. Dezember vor mir abgelaufen.“

Fast 20 Jahre lang war Zrenner mit ihrem Freund zusammen. Die geplante Heirat sollte beide finanziell absichern. Weil es dazu nicht mehr kam, erbt nun Gerhard Walters Tochter aus erster Ehe sein kleines Unternehmen für Fensterbau und Wintergärten. Der 53-Jährige hatte sich erst vor zwei Jahren selbstständig gemacht, nach dem Urlaub wollte auch die Freundin in den Betrieb einsteigen. Nun ist sie arbeitslos.

Es hätte alles nicht passieren müssen. In der Rückschau wirkt die Katastrophe für Christa Zrenner wie das letzte Glied in einer Kette von Fehlentscheidungen: In den drei Jahren davor waren sie immer erst am 27. Dezember nach Thailand geflogen; früher hatten sie die erste Woche stets in Bangkok verbracht und waren danach ans Meer gefahren; eigentlich war geplant gewesen, am 26. Dezember vormittags eine Mofa-Tour zu unternehmen, aber dann wollte Gerhard doch lieber am Pool bleiben. „Es kommt mir vor, als hätte ihn das Unglück regelrecht angezogen“, sagt Zrenner.

Irgendwann wird sie wieder ohne Tabletten leben müssen. Aber die Bilder im Kopf werden bleiben.

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Vor einem halben Jahr, am 26. Dezember 2004, ging eine „Eilt“-Meldung über die Ticker der internationalen Nachrichtenagenturen: „Seebeben: Mehr als 1000 To-te nach Flutwelle in Indien.“ In unbestätigten Berichten sei sogar von bis zu 3000 Opfern die Rede, schloss die Meldung.

Doch das wahre Ausmaß der Katastrophe sollte sich erst in den folgenden Stunden und Tagen zeigen. Die vom Seebeben in Bewegung gebrachen Wassermassen hatten nicht nur an der Ostküste Indiens Verwüstungen angerichtet. Betroffen waren auch Indonesien, Thailand, Sri Lanka, die Malediven, Bangladesch, Myanmar – ja sogar die Ostküste Afrikas. Riesige Küstenabschnitte waren zerstört, ganze Landstriche standen unter Wasser. Wie viele Menschenleben die Katastrophe gekostet hatte, konnte im Chaos nur geschätzt werden.

Die aktuellste Opferbilanz der UNO geht von bis zu 225.000 Toten aus. Doch ganz genau wird man es nie wissen.

Ebenso unklar war lange Zeit auch, wie viele Österreicher unter den Opfern waren. Die Ermittler des Bundeskriminalamts konnten mittlerweile 75 Leichen identifizieren, 15 Österreicher gelten offiziell noch als vermisst. Diese Zahlen sind, so zynisch das klingt, weniger dramatisch, als ursprünglich zu befürchten war. In den ersten Tagen nach dem Tsunami waren bei der Hotline des Außenministeriums über 5000 Vermisstenmeldungen eingegangen. Eine um Doppelnennungen bereinigte Liste wies immer noch mehr als 700 Abgängige aus.

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gab es kein Ereignis, das die Welt so nachhaltig erschütterte wie der Tsunami in Südostasien. Wochenlang war die Flut Spitzenmeldung in den Medien und das zentrale Gesprächsthema. Fast jeder konnte die Tragödie mit einer persönlichen Geschichte verbinden. Viele Unterhaltungen begannen mit den Worten: „Ich kenne jemanden, der …“

Jetzt, ein halbes Jahr danach, ist das Unglück für die meisten Vergangenheit – ein Teil der Zeitgeschichte. Doch jene Menschen, um die es in den Geschichten damals ging, haben den zweiten Weihnachtsfeiertag längst nicht verarbeitet. Viele kämpfen bis heute mit den Folgen. Der Tsunami hat Familien auseinander gerissen, Existenzen zerstört, Menschen schwer traumatisiert. Manch ein Überlebender ist für ein paar Wochen berühmt geworden wie der Wiener Eduard Issel. Andere quälen sich mit Selbstvorwürfen wie Christa Zrenner. Und einige wenige versuchen, aus der Katastrophe Kapital zu schlagen wie der Anwalt Gerhard Podovsovnik.

Der Tsunami ist Geschichte, doch seine Wucht ist noch immer spürbar.

„Keine Hoffnung mehr“
Der Mann wirkt ruhig und gefasst. Mehrere Wochen lag Johann Baumgartner schwer verletzt im Krankenhaus. Seine Frau Regina ebenfalls. Binnen Sekunden hatte die Wucht der Welle die beiden voneinander getrennt und sie aus ihrem kleinen Holzbungalow am Strand von Phuket gespült. Von ihrem gemeinsamen Sohn trennte das Wasser sie für immer. David Baumgartner, elf Jahre, Schüler des Franziskanergymnasiums in Hall in Tirol, ist tot. Vor sechs Wochen wurde er in seinem Heimatort Taur beigesetzt.

Gelbe und weiße Rosen bedeckten seinen Sarg, zwei Schleifen waren an den Kranz geknotet: „Ein Engel geht auf Reisen“, stand darauf zu lesen. Und: „David, wir lieben Dich.“ Hunderte Menschen, der halbe Ort, nahmen Abschied von ihm.

Die Gewissheit machte auch den falschen Hoffnungen ein Ende. In den Tagen nach der Katastrophe waren die Baumgartners mit immer neuen Falschmeldungen konfrontiert gewesen. Von einem europäischen Buben, der David ähnle und in Begleitung einer Frau sei, war einmal die Rede. Ein andermal hieß es, er habe auf einer Namensliste der Überlebenden unterschrieben, jedoch aufgrund seines noch schwachen Englisch Probleme mit der Verständigung. Die Eltern hofften, wurden enttäuscht; hofften, wurden enttäuscht. Selbst Wünschelrutengänger dienten sich an, den kleinen blonden Jungen zu suchen. „Ich halte nicht viel von diesen Methoden“, sagt Johann Baumgartner heute. Doch welcher Vater hätte auf der Suche nach seinem verschwundenen Kind nicht auch den windigsten Helfer gewähren lassen? Freunde und Verwandte der Familie machten sich nach Thailand auf, um zu suchen. Erfolglos. „Im Jänner war mir dann klar, dass es keine Hoffnung mehr gibt …“

Am 4. April dieses Jahres kam der Anruf. Auf der Website einer thailändischen Behörde gebe es einen Link zum Foto eines kleinen Leichnams, so die Information. Johann Baumgartner erkannte seinen Sohn – an seinem T-Shirt, seiner Uhr und seiner Hose. Die modernen Methoden der Kriminologen brachten schließlich auch wissenschaftliche Gewissheit: David Baumgartner, elf Jahre, Schüler des Franziskanergymnasiums in Hall in Tirol, ist tot.

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Anfang April lud die Bundesregierung die Angehörigen der Opfer zu einer Gedenkreise nach Phuket ein. 74 der österreichischen Toten waren in Thailand zu beklagen, nur einer starb in Sri Lanka. Insgesamt 96 Hinterbliebene nahmen an der Reise teil, um am Ort des Geschehens Abschied zu nehmen. Vor einem buddhistischen Tempel zelebrierte ein katholischer Pfarrer die Trauermesse, im Sand steckten Fackeln, davor vereinzelt die Fotos von Vermissten. „Eva, Elisabeth, Alexandra, Johann, Rudy, Helga, Doris“, verlas der Priester die Namen der Opfer. Menschen, die sich im Leben nie kennen gelernt hatten, waren plötzlich in einem gemeinsamen Schicksal vereint.

„Ich glaube, sie haben geschlafen“
Nie wieder wird sie diese Wohnung betreten. In den vier Zimmern im zweiten Stock, in denen ihre Schwester Michaela Schlosser mit ihrem Lebensgefährten Manfred Schneider lebte, erinnern nur noch die Abdrücke von Regalen und Bildern an den beigen Wänden an das Paar. In den vergangenen zwei Wochen haben Gabi Grandl und ihr Mann gemeinsam mit Freunden und Verwandten von Manfred Schneider hier alles ausgeräumt – bis hin zu den Lippenstiften und Haarbürsten, von denen die Kriminalpolizei DNA-Proben nahm. Gabi ist im fünften Monat schwanger. „Das Leben geht weiter“, sagt sie. „Irgendwie.“

Laut Mietvertrag ist die Wohnung besenrein zu übergeben. Die Spanplatten auf dem Boden knarren beim Drauftreten, und durch die Leere des Raums hallt jedes Wort ein wenig nach. Jeden Moment muss der Hausverwalter kommen und die Wohnungsschlüssel übernehmen. Wien, zweiter Bezirk, Mexikoplatz Nummer 20: Ein letztes Mal sieht Gabi Grandl aus dem Fenster in den gegenüberliegenden Park. „Hätte ich keine Familie, wäre ich sofort hingeflogen und hätte meine Schwester gesucht“, sagt sie. Doch die 39-Jährige wurde hier gebraucht: von einem zehnjährigen Sohn, von einer vierzehnjährigen Tochter – und von einer Mutter von 60 Jahren, die nach dem Begräbnis von Michaela zusammenbrach und nun im Wiener AKH betreut wird.

Am 25. Dezember kam die letzte Nachricht von Michaela und Manfred. Die beiden leidenschaftlichen Thailand-Fans hatten für den Abend einen Tisch im „Green-Village-Steirereck“ des Österreichers Gunter Lechner reserviert und sandten vor dem Essen per SMS noch Weihnachtsgrüße nach Wien. „Zu Silvester wollten sie sich wieder melden“, sagt Gabi Grandl. Es blieb ihr letzter Gruß. Die nächsten Nachrichten aus Khao Lak waren dafür umso bedrückender. Bekannte einer Arbeitskollegin Schneiders fanden am Strand die Bankomatkarte des Ministerialbeamten. Sie lag nur wenige hundert Meter neben den Überresten der völlig zerstörten Bungalows im Sand.

„Ich glaube fest daran, dass die zwei noch geschlafen haben, als die Welle kam“, klammert sich Gabi an den einzigen Trost, der ihr einfällt. „Sie haben sicher überhaupt nichts mitbekommen.“ Am 5. April dieses Jahres hätte Manfred Schneider seinen 46. Geburtstag gefeiert. An genau diesem Tag traf sein Sarg in Wien-Schwechat ein.

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„Es gibt keine Gewissheit, dass wir alle finden“, sagt Hannes Gschwendt, der als Kripobeamter nach Thailand entsandt worden war. In ersten Berichten hatten die Spezialisten sogar befürchtet, dass die Mehrzahl der Opfer nie identifiziert werden würde. Doch die Experten, die sich aus aller Welt im „Thai Tsunami Victim Identification Information Management Center“ in Phuket zusammengefunden haben, leisten ganze Arbeit. Bei den Angehörigen wurden Personenbeschreibungen und Zahnröntgenbilder der Vermissten sowie Haare und Kleidungsstücke zur DNS-Bestimmung geholt. Die Chance ist groß, dass mit den vorhandenen 28.000 Datensätzen den meisten anonymen Körpern in den Kühlcontainern wenigstens die Identität wiedergegeben werden kann.

Für die Ermittler ist die Tätigkeit extrem belastend. Bei stark verwesten Leichen mussten sie die Haut von den Fingerkuppen der Opfer lösen und über ihre eigenen Finger stülpen, um brauchbare Abdrücke zu erhalten, erzählt ein niederösterreichischer Kripo-Mann.

Umso mehr ärgert es Hannes Gschwendt, wenn sich herausstellt, dass ein Vermisster nur seinen Urlaub verlängert hat und es nicht für nötig hielt, sich daheim zu melden. Erst vergangene Woche konnte ein Mann aus der Kartei gelöscht werden. Er wurde putzmunter im südafrikanischen Pretoria angetroffen.

„Er ist halt so“
Antonia Kleinsasser sagt ihn immer wieder, diesen einen Satz, der nichts erklärt, aber alles entschuldigt. Sie sagt: „Er ist halt so.“ Manchmal fügt sie noch hinzu: „Da kann man halt nichts machen.“ Antonia Kleinsasser ist viel zu erleichtert, um ihrem Sohn jetzt wirklich böse zu sein. Weil sie weiß, wie er ist, hatte sie die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Doch das monatelange Bangen hat der 62-Jährigen aus Schärding zugesetzt. Sie habe versucht, nicht dauernd darüber nachzudenken, erzählt sie. „Weil sonst wirst ja spinnert.“

Ihr Sohn Siegfried war am 19. November nach Bangladesch geflogen. Mindestens drei Monate wollte der 40-Jährige dort bleiben und als Rucksacktourist das Land bereisen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich für so lange Zeit verabschiedete. Er sei nun mal ein Weltenbummler, sagt die Mutter. Wenn er als Bauschlosser genug Geld verdient hatte, machte er sich auf den Weg. Schon öfter ließ er dann monatelang nichts von sich hören. Aber nach dem Tsunami hätte sie sich schon einen kurzen Anruf erwartet, sagt Antonia Kleinsasser. „Oder wenigstens ein Mail.“

Lange war nicht klar, wie schwer Bangladesch vom Tsunami getroffen wurde und wie viele Opfer es dort gab. Die Frau wusste nur, dass ihr Sohn bei seinen Billigurlauben oft am Strand schläft. „Mein Mann war sicher, dass nichts passiert ist“, erzählt Antonia Kleinsasser, „aber ich hab mir gedacht, das gibt es nicht, dass er sich nicht meldet, wenn es ihm gut geht.“

Das Mail kam erst am 2. April. Siegfried Kleinsasser schrieb seiner Schwester und bat sie, ihm auf der Bezirkshauptmannschaft Schärding einen neuen Pass zu besorgen, weil ihm der alte gestohlen worden war. Erst da erfuhr die Mutter, dass der Sohn noch lebt und dass sie sich alle Sorgen, die Vermisstenanzeige und den Mundhöhlenabstrich für einen DNS-Vergleich hätte sparen können. Angeblich habe er die meiste Zeit im Landesinneren verbracht und vom Tsunami nichts mitbekommen. Antonia Kleinsasser schüttelt den Kopf, als sie das erzählt. Ganz glauben kann sie es nicht.

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Die breite Berichterstattung über das Schicksal der Vermissten und ihrer Familien nach dem Tsunami hatte Nebenwirkungen. Manche Angehörige erzählen, dass die Verhandlungen mit Versicherungen, Ämtern und Behörden leichter waren, solange die Flut das alles beherrschende Thema im Land war. Andere bekamen zwar keine Hinweise auf den Verbleib des Verwandten oder Lebenspartners, dafür aber Angebote zwielichtiger Geschäftemacher, Wunderheiler und Hellseher.

Die österreichischen Behörden behandelten die Opfer- und Angehörigenlisten von Anfang an vertraulich. Der Datenschutz hatte diesmal einen handfesten Hintergrund: In Schweden, wo die Namen veröffentlicht wurden, häuften sich alsbald Einbrüche in den Häusern der Vermissten.

„Den lieben Gott klagen“
Wenn der Wiener Rechtsanwalt Gerhard Podovsovnik in seinem Büro aus dem Fenster schaut, sieht er einen kahlen Innenhof. Wenn er an die Wand neben dem Fenster schaut, sieht er das Meer. Ein farbenfrohes Gemälde hängt dort, auf dem sich mächtige Wellen bedrohlich einem Strand nähern.

Bei einem Hawaii-Urlaub vor einigen Jahren entwickelte Podovsovnik ein Faible für Wellen. Gleich mehrere Bilder hat er noch an Ort und Stelle gekauft: die Brandung bei Sonnenschein, bei Sturm, im Abendrot, in der Morgendämmerung. Vom Tsunami gibt es kein Gemälde in der Kanzlei. Doch die größte aller Wellen hat Podovsovnik eine Gelegenheit angespült, die sich ein 34-jähriger Rechtsanwalt mit Blick in den Hinterhof nicht entgehen lassen kann.

Gemeinsam mit dem Villacher Anwalt Herwig Hasslacher und dem Amerikaner Ed Fagan hat Podovsovnik in den USA eine Sammelklage für Angehörige von Tsunami-Opfern eingebracht. Rund 100 Betroffene hätten sich dem Verfahren angeschlossen, berichtet Podovsovnik, darunter 30 Österreicher und 40 Deutsche. Nach Abschluss der Dokumentensicherung will das Trio auf Schadenersatz klagen – und zwar unter anderem das Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii, in dem das Seebeben registriert, aber keine offizielle Warnung ausgegeben wurde.

Auf der ganzen Welt gebe es nur diesen einen Versuch einer Tsunami-Sammelklage. Die meisten Anwälte stünden auf dem Standpunkt, dass man gegen eine Naturkatastrophe nicht vorgehen könne, erzählt er. „Man hat uns schon vorgeworfen, dass wir eigentlich den lieben Gott klagen.“ Podovsovnik wirkt sehr zufrieden, als er das sagt. Für einen jungen Anwalt, der etwas Publicity gebrauchen kann, ist Gott nicht der schlechteste Gegner.

Bis auf Weiteres arbeitet Podovsovnik gratis. Wenn das Verfahren einmal in Schwung gekommen ist, hofft er aber auf Sponsoren. Spätestens im Juli oder August werde die Beweissicherung wohl abgeschlossen sein, erst danach soll es um Schadenersatzansprüche für die Hinterbliebenen gehen.

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Die Hilfsbereitschaft nach der Flut war auf der ganzen Welt enorm, und auch die Österreicher spendeten eifrig (siehe Kasten Seite 25). Trotz großer organisatorischer Probleme beim Verteilen der Spenden hat das Geld geholfen. Die UNICEF zog Ende vergangener Woche eine positive Bilanz: Kein Kind in der Krisenregion sei an Seuchen oder Unterernährung gestorben.

Im reichen Österreich ging es nie um so existenzielle Fragen. Doch auch hier hat der Tsunami viele Familien in finanzielle Schwierigkeiten gestürzt. Politik und Interessenvertretungen versuchten mit einer Reihe von Maßnahmen, den Betroffenen zu helfen. Unter anderem wurde die Wartezeit für Witwenpensionen verkürzt. Außerdem hat der Hauptverband der Sozialversicherungsträger eine Art Scheinfirma eingerichtet, in der Vermisste oder deren Angehörige weiterversichert werden konnten.

Die Rückflüge der Überlebenden bezahlte das Außenministerium, auch die Überstellung der identifizierten Toten war für die Familien kostenfrei.

„Letzte Mahnung vor einem Monat“
Der kleine Kupfer-Buddha steht auf dem Regal in Karin Gartners Wohnzimmer. Er war eine Erinnerung an einen schönen Urlaub. „Meine Schwester hat ihn letztes Jahr aus Thailand mitgebracht“, erzählt Heinrich Seper, „sie hat das Land sehr gemocht und hat geschwärmt von den netten Leuten dort.“

Zu Weihnachten ist die 38-Jährige deshalb ein zweites Mal nach Khao Lak gefahren, wie im Vorjahr mit ihrer Freundin und deren Mann. Alle drei sind im Tsunami gestorben. Karin Gartner wurde Mitte März identifiziert und am Ostermontag daheim in Unterwart begraben.

Heinrich Seper hat sich lange nicht damit abfinden wollen, dass seine Schwester tot ist. Immer wieder suchte er im Internet nach Spuren von ihr, zahllose Opferfotos hat er nach dem Tatoo abgesucht, das sie auf dem rechten Oberarm trug. Es zeigte einen grünen Kolibri mit Orchidee. „Man hat davon ausgehen müssen, dass sie tot ist, aber solange man es nicht sicher weiß, hofft man weiter“, sagt Seper.

Der Tod Karin Gartners trifft die Familie auch finanziell schwer. Das kleine Haus, das die Schichtarbeiterin vor ein paar Jahren direkt hinter dem Elternhaus gebaut hat, ist längst nicht abbezahlt. Die Landesregierung sei zwar sehr kulant gewesen und habe die Rückzahlung des Landes-Darlehens für vier Jahre gestoppt, erzählt Seper. Eine Silvester-Aktion von Ö3 zugunsten der Familie trug dazu bei, wenigstens einen Teil des offenen Bauspardarlehens abzudecken. Doch wegen der hohen Schulden ist bis heute nicht entschieden, ob Gartners 16-jähriger Sohn Daniel, der gerade eine Maschinenschlosserlehre macht, sein Erbe überhaupt antreten darf.

Daniel sei sehr still geworden seit dem Unglück, sagt Seper. Der Junge wohnt jetzt allein im Haus; das Angebot, zur Oma zu übersiedeln, hat er abgelehnt. Heinrich Seper musste vor Gericht um die Vormundschaft für den Neffen kämpfen, weil plötzlich auch der leibliche Vater Interesse zeigte. „Dabei hat er mit ihm keinen Kontakt mehr, seit der Bub zwei Jahre alt war.“

Als besonders schwierig erwies sich das Abmelden von Karin Gartners Handy-Anschluss. „Wir hatten ja lange keinen Totenschein. Vor einem Monat habe ich die letzte Mahnung gekriegt.“ Das Handy hatte nach der Katastrophe dafür gesorgt, dass die Verwandten kurz Hoffnung schöpften. Die Rechnung wies nach dem 26. Dezember noch eine Gebühr aus. Mittlerweile ist klar: Es war nur die Mailbox.

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Die letzte Nachricht wurde persönlich überbracht. Wenn sich der Kriminalbeamte am Telefon zu einem Besuch ansagte, wussten die betroffenen Familien schon, was er ihnen mitteilen würde. Gemeinsam mit einem Psychologen informierten die Beamten die Angehörigen über die erfolgte Identifizierung. Die meisten reagierten gefasst. Nach monatelanger Wartezeit rechnete man ohnehin mit dem Schlimmsten. Die Kriminalbeamten dürften bei dieser schwierigen Aufgabe großteils den richtigen Ton gefunden haben – viele Betroffene loben explizit die gute Betreuung durch die Exekutive. Immer wieder hätten sie sich zwischendurch gemeldet, auch wenn es nichts Neues gab.

Über das Krisenmanagement des Außenministeriums herrschen dagegen geteilte Meinungen. Auch sechs Monate danach lässt sich nicht klären, ob manche Schlamperei einfach durch die Wucht des Ereignisses bedingt war oder mit ein bisschen mehr Übersicht vermeidbar gewesen wäre. Dass etwa die Liste der Vermissten kurzzeitig die Fünftausendermarke überschritt, lag auch daran, dass sich oft mehrere Verwandte um die gleiche Person sorgten. Aber die vom Außenministerium angeheuerten Grundwehrdiener an den Hotlines waren von der Aufgabe schlichtweg überfordert.

„Jenseits. Oder: Shit happens“
Als hätten Tina und Hubert Wolf gewusst, dass sie nicht mehr wiederkommen: Kurz vor ihrer Abreise nach Khao Lak machten die beiden Mittvierziger ein Testament. Die 21-jährige Tamara, die jüngste Schwester Huberts, erbt nun das Häuschen nahe der Alten Donau – mitsamt dem Briefkasten, in dem wenige Tage nach dem Tsunami eine Ansichtskarte gelegen war: „Es gibt ein Leben danach! (Nach Thailand)“ hatten die Wolfs noch am Tag vor der Katastrophe an sich selbst geschrieben.

Als hätten sie schon lange eine dunkle Vorahnung gehabt: Im Nachlass von Tina fand die Familie auch das Manuskript ihres zweiten Romans. „Jenseits. Oder: Shit happens“, betitelte die hauptberufliche Seminartrainerin die fiktive Geschichte ihres eigenen Todes.

Wochenlang saß Gerald Madlmayer vor dem Bildschirm. Auf dem Computer von Hubert und Tina Wolf arbeitete er sich virtuell, vom Gartenhäuschen der beiden Vermissten aus, Klick für Klick durch die Katastrophe. „Du weißt eh, dass es keine Chance mehr gibt“, sagt Madlmayer heute. Aber damals hoffte er eben. Und ab welchem Zeitpunkt kann man es schon vor sich selbst rechtfertigen, aufgegeben zu haben? „Ehrlich gesagt, als ich nicht mehr konnte.“ Hunderte Bilder von Leichen hat er im Internet gesehen. Immer wieder versucht, Ähnlichkeiten mit seinem Cousin und dessen Frau auszumachen. „Mir wurden dann schon aus der ganzen Welt Fotos von Toten in Thailand geschickt“, erzählt er. „Irgendwann kannst du das einfach nicht mehr sehen.“ Da gab er auf.

Zehn Tage vor dem Gedenkflug der Angehörigen nach Thailand fand man Hubert Wolfs Leiche. Die seiner Frau ein paar Tage danach.

„Mir wäre nur wichtig, dass Österreich aus dieser Katastrophe gelernt hat“, sagt Gerald. „Zumindest ir-gend-etwas“, zieht er das letzte Wort betont in die Länge. Man könnte doch ein Krisenzentrum einrichten; mit den Leuten, die es im Ernstfall besetzen sollen, üben – wie bei der Feuerwehr. Für die Angehörigen sei das Außenministerium in den ersten Tagen keine besonders große Hilfe gewesen. „Und wenn sich der Bundeskanzler und seine Außenministerin dann noch ins Fernsehen setzen, ohne auch nur irgendeine menschliche Gefühlsregung zu zeigen, bist du einfach nur mehr enttäuscht.“

Wenige Wochen nach den ersten Zeitungsberichten über das Schicksal von Tina und Hubert Wolf lag noch einmal ein Brief im Postkästchen des Gartenhauses. Ein Finanzberater machte Erbin Tamara ein Angebot über die besten Anlageformen.

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Um sie begreifbar zu machen, braucht sogar eine Katastrophe wie der Tsunami Gesichter und Geschichten. Gesichter von Toten und Vermissten, Geschichten von Überlebenden und Angehörigen. Wenn es für dieses Unglück in Österreich einen Paradezeugen gab, so war es Eduard Issel. Der 56-jährige Immobilienmakler war ein Glücksfall für die Medien. Er wirkte nicht traumatisiert, obwohl er das Unglück in Khao Lak hautnah miterlebt hatte. Und er wollte über das Erlebte reden. Kaum wieder daheim in Wien, konnte er sich vor Interview-Anfragen kaum mehr retten. Schon im Ankunftsraum von Schwechat fragte ihn ein Flughafenmanager, ob er bereit wäre, sich den wartenden Journalisten zu stellen.

Issel tat es und musste über eine Stunde lang immer wieder seine Geschichte erzählen. Doch das war erst der Anfang: „Eine ORF-Reporterin hat mich an der Hand genommen und gesagt, ich muss unbedingt in die ‚ZiB 2‘ kommen“, erinnert er sich. Schon am nächsten Tag kam die Einladung für „Offen gesagt“.

Issel berichtete im Prinzip stets das Gleiche: wie er bemerkt hatte, dass das Meer zurückging, wie er sich erinnerte, eine Tsunami-Dokumentation im Wissenschaftssender Discovery Channel gesehen zu haben, wie er daraus den einzig richtigen Schluss zog, dass er schnellstens weglaufen musste.

Andy Warhols „15 Minuten Berühmtheit“ dauerten für Issel etwa eine Woche lang. Erst dann waren die Medien befriedigt, und das Publikum mit Issel-Storys bereits leicht überfüttert. Der Augenzeuge hatte dutzende böse Anrufe auf seiner Mailbox: „Man hat mich als Trottel beschimpft und mir geraten, dass ich endlich den Mund halten soll.“ Dabei habe er sich ja nie in den Vordergrund drängen wollen, sagt er heute. „Ich habe das nicht gemacht, um meine Eitelkeit zu befriedigen.“ Issel war lediglich für kurze Zeit die perfekte Deckung eines akuten Bedarfs. Seither ist in seinem Leben wieder Normalität eingekehrt.

Das Gleiche gilt für die breite Öffentlichkeit. Der Tsunami ist kein Gesprächsthema mehr. Ein halbes Jahr ist eben eine lange Zeit. Der Radiosender Ö3 hat sogar schon früher reagiert. Jene zwei Lieder, die nach dem 26. Dezember aus Pietät nicht mehr gespielt wurden, sind seit zwei Monaten wieder zu hören. Herbert Grönemeyer darf „Land unter“ singen und die deutsche Band Juli ihren bisher größten Hit: „Die perfekte Welle“.

Von Josef Barth und Rosemarie Schwaiger
Mitarbeit: Ulrike Moser und Mario Wally