„Die Gottesfurcht holt einen immer wieder ein“

Ulrich Seidl über seinen neuen Film „Paradies: Glaube“

Interview. Ulrich Seidl über seinen neuen Film „Paradies: Glaube“

Drucken

Schriftgröße

Die „Paradies“-Trilogie des Regisseurs Ulrich Seidl nimmt Gestalt an: Im Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig wird er in wenigen Tagen die zweite seiner drei Frauenerzählungen präsentieren. „Paradies: Glaube“ könnte als Ehedrama und Religionskriegsfilm die wildeste Arbeit der Serie sein.

profil: Sie scheinen derzeit hauptberuflich Filmfestivalreisender zu sein: Im Mai stellten Sie in Cannes Ihre Sextourismus-Tragikomödie „Paradies: Liebe“ im Wettbewerb vor, nun nehmen Sie mit „Paradies: Glaube“ in Venedig am Kampf um den Goldenen Löwen teil. Zwischendurch inszenierten Sie für die Festwochen einen Theaterabend über chauvinistische Rituale und Obszönitäten. Drei Frauenerzählungen umfasst dagegen Ihre „Paradies“-Trilogie: Seit wann interessieren Sie sich so sehr für weibliche Perspektiven?
Seidl: Der „Paradies“-Dreiteiler geht auf eine alte Idee zurück: Ich hatte schon in den 1990er-Jahren geplant, einen Film über drei Frauen zu drehen – über eine Mutter und ihre beiden Töchter. Andererseits konzipierte ich 2007, nach „Import Export“, ein größeres Projekt über Massentourismus: Die erste Story handelte von Sextouristinnen. Und dann hatte ich eine für „Import Export“ entworfene, aber unverwendet gebliebene Idee über eine strenge Katholikin, die mit Marienstatue, einer so genannten Wandermuttergottes, von Tür zu Tür zieht. So hatte ich zwei Stränge einer Frauen-Trilogie, der nur noch ein dritter hinzuzufügen war.

profil: „Paradies: Glaube“ kreist um eine von Maria Hofstätter gespielte Frau, die an der Welt und an der Kommunikation mit Gott verzweifelt. Betende Frauen inszenieren Sie nicht zum ersten Mal: Hat dieser Film auch mit Ihrem Gläubigen-Dokument „Jesus, Du weißt“ (2004) zu tun?
Seidl: Nicht sehr. Nur in der Entstehung, denn von der Existenz der Wandermuttergottes-Hausierer erfuhr ich erst durch die Recherche für „Jesus, Du weißt“. Und ich lernte ein Ehepaar kennen, dessen Konstellation so ungewöhnlich war, dass ich sie für „Paradies: Glaube“ übernehmen musste: eine mit gelähmtem Muslim verheiratete Katholikin.

profil: Sie koppeln in „Paradies: Glaube“ Religion an Sex.
Seidl: Das ist ja auch so: Das eine hat mit dem anderen viel zu tun. Nicht umsonst haben stets vor allem gläubige Menschen Selbstzüchtigungen betrieben. Da wurde unter dem Deckmantel der Religion eine Art des Masochismus entwickelt. Die Körperfeindlichkeit, die von der katholischen Kirche vorgegeben wird, erzeugt oft das Gegenteil: eine geheime Lust.

profil: Sie meinen, dass ­sexuelles Begehren bei ­ex­trem gottesfürchtigen Menschen in eine Art Glaubens­obsession umgeleitet wird, die man dann auch am eigenen Körper ausagiert?
Seidl: Natürlich muss Sexualität in meinem Film eine Rolle spielen – auch weil meine Protagonistin sexuell frustriert ist. Aber sie blendet das aus, bewertet Sex negativ, dafür sorgen schon ihre Glaubensgrundsätze. Die Welt ist für sie sündhaft, sie leidet an der offen ausgelebten Sexu­alität, von der auch die Medien voll sind.

profil: Elf Jahre nach „Hundstage“ trägt nun erneut Maria Hofstätter einen Ihrer Filme. Wie lief die Zusammenarbeit?
Seidl: Maria musste sich die Rolle erst mühevoll aneignen. Es fiel ihr nicht leicht, diese Figur zu spielen, weil sie durch ihre eigene strenge religiöse Erziehung nachhaltig seelischen Schaden erlitten hat.

profil: Sie haben ja selbst oft gesagt, Sie seien vom Katholizismus geschädigt.
Seidl: Deshalb kann ich diesen Schaden so gut nachvollziehen. Maria wuchs in einer bäuerlichen Großfamilie auf, wo man wenigstens dreimal am Tag stehend in der Küche zu beten hatte.

profil: Haben Sie das Gefühl, Ihre eigene katholische Last verarbeitet zu haben?
Seidl: Wenigstens insofern, als ich damit nicht mehr hadere. Ich habe lange Zeit meines Lebens gegen den Katholizismus angekämpft.

profil:Wogegen denn genau?
Seidl: Wenn man so streng erzogen wird, kämpft man vor allem mit dem schlechten Gewissen. Das kriegt man ein Leben lang nicht mehr los. Die Gottesfurcht holt einen immer wieder ein.

profil: Maria Hofstätter fügt sich in Ihrem Film offenbar selbst Schmerz zu. War sie zur Selbstgeißelung gleich bereit?
Seidl: Schon, aber vertrauend auf mich: Sie wusste, dass ich, um ihr unnötige Qualen zu ersparen, solche Szenen nicht an einem Tag mehrmals drehen würde. Maria meinte einmal zu mir, dass nicht so sehr die Peitsche, die sie sich auf den nackten Rücken schlug, das Problem war. Viel schlimmer erschien ihr das Gehen auf Knien: Da hatte sie sehr viel schneller, als ich gedacht hatte, Aufschürfungen und Wunden.

profil: Haben Sie im Rahmen Ihrer Recherchen Menschen kennen gelernt, die sich selbst geißeln?
Seidl: Nicht persönlich, aber es ist bekannt, dass diese Praxis in erzreligiösen Kreisen, etwa im Opus Dei, noch immer zur Anwendung kommt. Das ist ja nicht nur Selbstbestrafung, sondern auch Sühne für die Sünden der Welt. Meine Heldin büßt in diesem Sinne für die Schlechtigkeit der Welt. Sie nimmt das Kreuz auf sich wie Jesus. Das ist ja die Botschaft des Christentums.

profil: Ihr Film dreht sich um einen ehelichen Kleinkrieg, der auf dem Schlachtfeld der Religion geführt wird: Katholizismus gegen Islam. Man denkt an eine Minimalvariante des viel zitierten „Kampfs der Kulturen“. War das so geplant?
Seidl: Natürlich liegt diese Assoziation auf der Hand. Man kann sein Denken ja nicht trennen von den politischen Weltereignissen. Der Konflikt des Westens mit der muslimischen Welt ist eine Tatsache, er spielt daher auch in diese Ehe hinein. Es geht in meinem Film aber nebenbei auch darum, wie ein Muslim sich durch seine Krankheit – er sitzt im Rollstuhl – auf seine Wurzeln rückbesinnt. Das ist ja sehr menschlich. Plötzlich fühlt er sich den eigenen Traditionen wieder sehr nahe und findet sogar, dass das Leben in den westlichen Ländern unmoralisch sei.

profil: Wie, denken Sie, wird die Welt auf Ihren Film reagieren? Meinen Sie nicht, dass er auch anstößig wirken könnte?
Seidl: Ich denke nicht darüber nach, was da kommen wird oder kann. Ich hege keine Erwartungen. Denn man kann sich da sehr leicht auch irren.

profil: Man weiß immerhin, dass Glaubensfragen für viele Menschen besonders heikel sind. Immerhin gab es Todesdrohungen gegen Mohammed-Karikaturisten.
Seidl: Gut, das ist eine andere Wirklichkeit. Das ist bei den Christen ja nicht so.

profil: Sie behandeln doch auch den Islam.
Seidl: Ich sehe diese Männerfigur so: So­lange sie die westlichen Annehmlichkeiten, vor allem die erotischen Angebote, als Mann nützen konnte, war alles in Ordnung. Aber die islamischen Wurzeln bleiben präsent. Viele arabische Männer betrachten die Frauen im Westen einerseits als verlockend, andererseits aber auch als sündig. Sie wurden dazu erzogen, sexuell leichter verfügbare Frauen so zu sehen. Das ist ein Konflikt, den muslimische Männer in sich tragen.

profil: Woher wissen Sie das so genau?
Seidl: Die Weltbilder des Schauspielers Nabil Saleh haben mir erneut bestätigt, was ich schon wusste. Diese Art des Denkens kenne ich seit Langem, schon seit meiner Jugend: Eine lange Orientreise, die mich unter anderem durch den Iran und den Irak führte, hat mich da sehr geprägt. Ich traf dort auf extrem gastfreundliche Leute, machte nur gute Erfahrungen. Missverstehen Sie mich nicht: Ich kritisiere das islamische Denken nicht, stelle es nur fest.

profil: Aber ist das Problem nicht, dass man die Figur, die Saleh spielt, als Stellvertreter für „die Muslime“ sehen wird? Sie zeichnen ihn doch als aggressiven, verbitterten Mann?
Seidl: Er leidet eben auch an seiner Behinderung und kämpft um etwas. Ich verstehe, dass Menschen unter diesen Bedingungen ab und zu böse werden. Aber auch das verbietet die politische Korrektheit: Be­hinderte sind a priori als gute Menschen darzustellen. Ich mag die Figur zumindest genauso gerne, wie ich seine katholische Gegenspielerin mag. Beide tragen Konflikte in sich, die sich eben mitunter auch in Aggressionen äußern.

profil: Wie sind Sie an Saleh geraten?
Seidl: Es war äußerst schwierig, einen Darsteller zu finden, der diesem Anforderungsprofil entsprach: Er musste über 50 sein, muslimischen Hintergrund haben, aber schon auf Erfahrungen mit österreichischen Frauen zurückgreifen können. Und er musste vor der Kamera authentisch wirken, improvisieren können und so weit assimiliert sein, dass er beide Welten kennt: die islamische und die christliche. Ich habe im Zuge des Castings bemerkt, dass die meisten Kandidaten große Scheu vor Körperlichkeit, Angst vor der Berührung von Frauen hatten. Ich wusste aber, dass der Mann, den ich suchte, ­hinlangen können musste. Und Nabil konnte das: Obwohl er nie zuvor als Schauspieler gearbeitet hatte. Er entwickelte sich sehr schnell, nahm seine Rolle extrem ernst.

profil: Wollten Sie mit Ihrem Film beiden Religionen gerecht werden?
Seidl: Nein, so denke ich nicht.

profil: Es stört Sie also auch nicht, wenn Vertreter des Islam sich in dieser Männerfigur schlecht repräsentiert fühlen?
Seidl: Es interessiert mich nicht. Denn der offizielle Muslim, der nur friedfertig handelt, brav betet, nie trinkt und Distanz zu westlichen Frauen hält, ist nicht die Wahrheit – ebenso wenig wie der stets wohlmeinende Christ. Und mit meinen Filmen versuche ich seit jeher, der Wahrheit wenigstens nahezukommen, hinter die Fassaden zu schauen.

profil: Es geht in „Paradies: Glaube“ um die Abgründe in beiden Religionen?
Seidl: Es geht um zwei Menschen …

profil: … um zwei religiöse Menschen.
Seidl: Ja, die aber beide nicht für ihre jeweils gesamte Glaubensgemeinschaft stehen. Ich beschreibe das Schicksal zweier vom Leben enttäuschter Individuen, nicht zweier Religionen. Die Kirche ist nicht nur ein Milieu. Sie ist enorm vielfältig, voller Hierarchien und verschiedener Gesellschaftsschichten. Die könnte man gar nicht auf eine Figur herunterbrechen. Aber die Stimme der Kirche ist sehr schwach geworden. Die Skandale entstehen ja nicht mehr in der Kunst, sondern im Inneren der Kirche selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Film wie meiner noch zu einem Skandal werden könnte. Wer sollte sich darüber noch empören?

profil: Man könnte wohl auf die Idee kommen, dass Sie in Ihrem Film Kritik an den Religionen übten.
Seidl: Ich mache den Glauben ja nicht schlecht. Die Religiosität dieser Frau führt zu einer extremen Jesus-Liebe, die auch körperlich wird – das mag eine Provokation sein. Denn natürlich zeige ich eine Frau, die Jesus nicht nur als ihren Herrn und Gebieter, sondern letztlich auch als ihren Liebhaber und Sexualpartner sieht. Das ist wohl etwas, das man als Kirche oder gläubiger Mensch nicht sehen möchte. Trotzdem glaube ich, dass die Kirche mittlerweile zur Empörung zu schwach ist. Denn wenn man bedenkt, was allein in den letzten paar Jahren an sexuellen Vorgängen innerhalb der Kirche aufgedeckt wurde, so ist das eigentlich unfassbar.

profil: Sie verstehen Ihre Figuren?
Seidl: Natürlich, denn man kann am Glauben ja auch verzweifeln. Ich finde es legitim, mit seinem Gott, auch wenn man an ihn glaubt, zu hadern, vielleicht an ihm zu zweifeln und ihn zu verlieren. Das sind die schweren Glaubensfragen: Wenn es Gott gibt, warum lässt er zu, dass uns Grauenhaftes geschieht? Warum lässt er zu, dass es manche Menschen so schwer trifft und andere nicht? Die Figur der Anna Maria gerät in diesen Zweifel; sie ist in ­ihrem blinden Glauben eigentlich unmenschlich. Sie sieht die christlichen Werte in ihrer Verblendung nicht mehr.

profil: Insofern ist sie so etwas wie eine katholische Extremistin.
Seidl: Nein, sie handelt ja nicht ideologisch, will niemanden umbringen.

profil: Aber sie hat eine Mission: Sie will Menschen gegen deren Willen bekehren.
Seidl: Sie meint doch, allen nur zu helfen. Sie mag eine extreme Figur sein – eine Extremistin ist sie nicht. Sie tut niemandem aus Glaubensgründen Gewalt an. Sie handelt allerdings unmenschlich, auch ihrem Ehemann gegenüber. Aber das ist ganz alltäglich, selbst unter Christenmenschen.

profil: Wenn man diesen Film als den bei weitem sprödesten und unangenehmsten der drei „Paradies“-Teile bezeichnete: Würden Sie dem zustimmen?
Seidl: Es ist wohl der strengere Film, verglichen mit den beiden anderen. Ich würde ihn vielleicht beklemmend nennen. Andererseits ist der erste Teil, mein Kenia-Film, sozialpolitisch viel brisanter, betrifft einen viel größeren Teil der Gesellschaft.

profil: Weil es da um den Marktwert der Sexualität geht?
Seidl: Genau. Der Glaubensfilm ist enger gesteckt, betrifft gläubige Menschen. Das ist ein geringerer Sektor der Gesellschaft.

profil: Und wie politisch wird „Paradies: Hoffnung“, Ihre Erzählung von der ersten Liebe in einem Diätcamp, sein?
Seidl: So politisch wie „Paradies: Liebe“. Denn auch da geht es um die Körperlichkeit und den Marktwert der Frauen. Dicksein ist inzwischen derart weit verbreitet, dass auch dies ein Thema ist, das bereits die Mehrheit der westlichen Welt angeht.

profil: Sie gehen gern an Darstellungsgrenzen. Ist es Ihnen recht, wenn man Ihre Filme für schwer erträglich hält?
Seidl: Nicht wirklich. Aber ich mag es, Filme zu drehen, die schwer erträgliche Szenen beinhalten. Mir ist sehr bewusst, dass etwa jene Sequenz in „Paradies: Liebe“, in der sich eine Gruppe weißer Touristinnen einen schwarzen Stripper aufs Zimmer holt, viele Zuschauer nachhaltig verstört. Aber das ist ja der Sinn dieser Szene. Denn Verstörung setzt ja auch etwas in Gang.

profil: Müssen Sie sich bemühen, Ihren Filmen nebenbei auch so etwas wie einen Unterhaltungswert zu geben?
Seidl: Es ist mir sogar ein Anliegen, ihnen unterschwellig komödiantische Aspekte zu verleihen.

profil: Welche Art von Humor sehen Sie in „Paradies: Glaube“?
Seidl: In diesem speziellen Film: wenig. Allenfalls ein, zwei Szenen. In diesem Thema liegt schlicht weniger Humorpotenzial als in den anderen beiden Filmen.

profil: Ging es Ihnen darum, unparteiisch gegen Ihre beiden Figuren zu bleiben?
Seidl: Unparteiisch ist nicht das richtige Wort, denn es würde bedeuten, dass ich mich da raushalte. Das kann ich gar nicht. Ich versuche im Sinne jeder meiner Figuren zu denken und zu fühlen. Aber ich werte die Handlungen meiner Charaktere nicht. Ich weiß nicht, wer von den beiden der schlechtere Mensch ist. Ich weiß nicht einmal, ob einer von ihnen überhaupt ein schlechter Mensch ist.

_______
Ulrich Seidl, 59,
hat sich mit Filmen wie „Hundstage“ (2001) und „Import Export“ (2007) und einer zwischen rohem Dokumentarismus und extremer Stilisierung changierenden Ästhetik internationale Reputation verschafft. Seine Arbeiten nehmen regelmäßig an den Wettbewerben großer europäischer Festivals teil, und er wird weltweit mit Retrospektiven geehrt, zuletzt in Thessaloniki, Mexico City und Bukarest. Seit fast zehn Jahren produziert der Wiener seine Filme selbst – bisweilen auch die Werke anderer, unlängst etwa den doppelbödigen Porträtfilm „Kern“.

Foto: Philipp Horak für profil

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.