Venus war ein Bub

Porträt der gefeierten Tänzerin Jin Xing

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Die Primaballerina sitzt am Boden, Beine überkreuzt, Rücken gerade. Sie hat das Profil einer Elfe: zarte Nase, zartes Kinn und Lippen, die wirken, als wären sie aufgemalt. Doch das Mädchenhafte verfliegt, wenn Jin Xing den Kopf wendet und ihr Gegenüber mit einem fast herausfordernden Blick fixiert. Durch das Tanztrikot zeichnet sich die Silhouette ihres Körpers ab. Er ist auf anmutige Weise muskulös. Manchmal, wenn sie ruhig dasitzt und die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer verfolgt, erscheint sie wie aus Stein gemeißelt.

Seit Stunden probt Jin Xing in einem vom Militär verwalteten Kulturzentrum in Schanghai die von ihr choreografierte Ballettversion des Orff-Stücks "Carmina Burana". Es ist schwer, die Gründerin der ersten privaten Tanzkompagnie Chinas, die barfuß und mit nachlässig zusammengebundenem Haar neben einem CD-Player sitzt, mit dem gestylten Star der TV-Show "Miracle Dancer" in Einklang zu bringen. Bis spät in die Nacht war Jin Xing gestern im Fernsehstudio gewesen, um die chinesische Version des BBC-Lizenzhits "Dancing with the Stars" (in Österreich unter dem Titel "Dancing Stars" erfolgreich) aufzuzeichnen. Wer die Medienmeute erlebt hat, die kurz vor Sendebeginn eingelassen wurde, kann sich die Frage sparen, wie populär Jin Xing in China wohl sein mag. Sie ist ein Superstar.

Im Studio standen noch ein paar andere Berühmtheiten herum. Doch die Journalisten hatten nur Augen für Jin Xing. Nach der Sendung war ein Tischtennis-Nationalheld unbehelligt nach Hause geschlendert, während Jin Xing sofort wieder von Bewunderern umringt war, die es kaum erwarten konnten, ihr zu sagen, wie tapfer und mutig sie sei. So ist es immer. Manchmal fragt sie die Menschen, die sie nach jeder TV-Show abpassen: "Warum? Wegen der Geschlechtsumwandlung?" Sie hört es gern, dass sie, die Tänzerin, die einmal ein Soldat war, zum Symbol des Aufbruchs geworden ist, dafür, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss, sich seinen Weg sucht, gegen alle Widerstände. Die "Freiheitsstatue von China" wurde sie schon einmal genannt.

Freiräume aufspüren. Jin Xing ist nicht eitel, zumindest nicht auf vordergründige Art. Sie genießt es, berühmt zu sein, weil es ihr erlaubt zu machen, was sie will: nämlich Modern Dance. Doch ihre heimliche Kunst ist das Aufspüren von Freiräumen, wo andere nicht einmal welche vermuten. Hier werden die Rollen, die sie verkörpert, wieder zusammengeführt: Mann, Frau, Soldat, Primaballerina, TV-Star, Gründerin einer Tanztruppe, vom Politbüro geduldete Revolutionärin.

Von dem Geld, das die 40-Jährige mit fünf Auftritten als "Miracle Dancer"-Jurorin verdient, bezahlt sie einen Monat lang die 16 Mitglieder ihrer Kompagnie. Subventionen bekommt sie keine. Als sie sich darüber einmal bei einem Politfunktionär beklagte, legte dieser den Kopf schief und sagte: "Die Regierung wird deine Kunst niemals unterstützen. Aber überleg einmal: Stoppt dich irgendjemand?"

Jin Xing war 17, als sie zum besten Balletttänzer des Landes gekürt wurde. Später, nach ihrer Geschlechtsumwandlung, räumte sie Preise in den USA und Europa ab. Das deutsche Wochenblatt "Die Zeit" nannte sie die "vielleicht beste Tänzerin der Welt"; die "New York Times" feierte sie als "Genie", und die französische Star-Fotografin Bettina Rheims lichtete sie in einer Herrentoilette ab. Jin Xing erkannte früh, dass es schützt, berühmt zu sein. Irgendwann war das auch dem Politbüro klar.

Natürlich werde sie für Propagandazwecke eingespannt, sagt Jin Xing. "Ich bin hier": Darin bestehe die Provokation und zugleich der Nutzen für die Regierung. Wann immer Menschenrechtsbeobachter mit dem Finger auf China zeigen, die hohe Zahl der Hinrichtungen anprangern oder - wie im März dieses Jahres - die blutige Tibet-Krise, kann die Parteiführung ein anderes Gesicht zeigen: einen ehemaligen Oberst der Volksarmee, der heute eine Tänzerin von Weltruf ist, drei Kinder adoptiert und allein großgezogen hat, ehe sie einen Deutschen heiratete. Vor acht Jahren durfte sie sogar eine private Kompagnie gründen.

Die zwiespältige Rolle der Dissidentin mit Regierungslizenz zur freien Rede ist für europäische Begriffe verwirrend. Doch Jin Xing hat eine unverstellte Sicht auf die chinesischen Realitäten: Im Vorjahr etwa wurde sie gebeten, in Wien über die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Kultur zu sprechen. Sie warnte den chinesischen Botschafter im Vorfeld: "Ich sage dort aber, was mir nicht passt." Nichts anderes hatte dieser erwartet: Als Künstlerin stehe es ihr frei, alles zur Sprache zu bringen. Jin Xing befand: "So haben alle etwas davon." Sie reist und macht ihre Kunst - das Regime zeigt sich von seiner aufgeschlossenen Seite.

Ihre Offenheit hat der Tänzerin den Beinamen "Glasfisch" eingetragen. "Je mehr ich rede, desto mehr Schwierigkeiten lade ich mir auf", sagt sie. Sich zu ducken, wenn die Widerstände übermächtig werden, und loszugehen, wenn die Zeit reif ist - das hat sie von klein auf gelernt. Jin Xing kam im August 1967 als Sohn koreanischer Einwanderer in der Mandschurei zur Welt. Ihre Eltern tauften das Kind "Goldener Stern", die chinesische Bezeichnung für "Venus", ohne zu ahnen, wie sehr dieser Name ihrem Zweitgeborenen entsprach. Die Planeten des Sonnensystems drehen sich um die Sonne, und um sich selbst - alle in derselben Richtung. Nur die Venus rotiert andersherum.

Jin Xings Lieblingssong stammt von Björk und heißt "Venus As A Boy". Als sechsjähriger Bub sah sie "Das weißhaarige Mädchen", eines der großen Ballettwerke des kommunistischen China. Seither träumte sie davon, als Mädchen mit langen Zöpfen zu erwachen. Mit neun wollte Xing zum Militär, weil es dort die beste Tanzausbildung gab. Doch der Vater, selbst Soldat, und die Mutter, eine Übersetzerin, die sich gegen den Vorwurf wehren musste, eine Spionin zu sein, hielten ihren Sohn für zu zart besaitet. Xing zwang ihre Eltern mit einem Hungerstreik in die Knie. Um sich abzusichern, ließen sie den störrischen Knirps einen Brief schreiben: "Liebe Eltern! Ich nehme die volle Verantwortung für diese Entscheidung auf mich und werde sie niemals bereuen."

Er war der Kleinste der Truppe. Weil er im Feld kaum die Handgranate halten konnte und beim Essen ständig redete, musste er seitenweise Floskeln schreiben wie "Mir fehlt es an Disziplin" oder "Ich lasse es an Ehrfurcht gegenüber der Erziehung fehlen, die die Regierung mir schenkt". Doch im Tanzsaal war er bald der Star. Als ihm einer seiner Vorgesetzten nachstieg, nützte er die Chance: Er verpfiff den Mann und boxte die Genehmigung durch, ein Jahr in die USA zu gehen. Er hatte gehört, dass man dort auf "sehr freie Weise" tanze. Im traditionellen chinesischen Tanz werden die Emotionen verschlüsselt; im Modern Dance verschmelzen Gefühle und Bewegungen. Jin Xing betrat eine neue Welt, arbeitete mit internationalen Größen wie Merce Cunningham. In der Nacht zog er durch die Clubs von Manhattan.

Fahnenflucht. Am 4. Juni 1989 metzelte die chinesische Regierung am Platz des himmlischen Friedens in Peking tausende Demonstranten nieder. Die US-Administration verlängerte Jin Xings Visum für unbestimmte Zeit. Er ging nach Europa, um als Choreograf in Brüssel und Rom zu arbeiten. Der Wunsch, eine Frau zu werden, war in den Jahren der wilden Partynächte, erotischen Eskapaden und unglücklichen Liebschaften immer stärker geworden. Er wollte sich operieren lassen - aber in China. Mitte der neunziger Jahre - die kommunistische Partei versuchte gerade, sich ein modernes Gesicht zu geben - kehrte er schließlich zurück. Die Armeeführung wollte ihn wegen Fahnenflucht vor Gericht stellen, doch ein hoher Offizier meinte nur: "Lasst ihn, er ist ein Künstler." 1995, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Europa, legte er sich unters Messer einer Schönheitschirurgin. Ein Kamerateam filmte mit: die erste öffentliche Geschlechtsumwandlung in der Geschichte des Landes. Drei Operationen musste er über sich ergehen lassen. Danach fühlte sich Jin Xing weder als Mann noch als Frau, nur als Patient: Der Bauch war eine Höhle voll blutiger Mullbinden; während des 16-stündigen Eingriffs war das Bein im Gynäkologenstuhl eingeklemmt gewesen. Die Nervenbahnen waren tot. Drei Monate lang saß Jin Xing im Rollstuhl. Mit der Tanzkarriere schien es jedenfalls vorbei zu sein.

"Das vollkommene Glück kostet den absoluten Schmerz", sagte sie 2002 in einem Interview. Bei der Armee hatte sie gelernt, ihren Körper zu schinden. Nach der Operation quälte sie sich wieder bis zum Äußersten. Ihr erster Auftritt als Frau erregte weltweites Aufsehen; zu Hause gab es dafür nicht nur Applaus. Eine Pekinger Zeitung titelte: "Was macht ein kranker Transsexueller auf unseren Bühnen?" Jin Xing reagierte darauf mit grellerem Make-up, höheren Absätzen und kürzeren Röcken; ihre Performances wurden technisch noch anspruchsvoller, vor allem aber lasziver. Die internationale Kritik hob sie in den Himmel. Da kamen selbst die Parteikader nicht mehr umhin, die Geburt eines Stars zu vermelden.

Heute lebt Jin Xing mit Gerd, ihrem deutschen Ehemann, und den drei adoptierten Kindern in einem schönen alten Haus im ehemaligen Franzosenviertel von Schanghai. Vor der Tür parkt ihr pistaziengrüner VW Beetle neben dem Porsche Cheyenne, mit dem ihr Mann meist fährt. Ihr Ältester, der achtjährige Leo, sagte vor Kurzem: "Mama, wenn ich einmal groß bin, dann werde ich aber keine Frau." Seine Mutter nahm ihn in den Arm und sagte, das sei in Ordnung, schließlich sei er ja glücklich in seinem Körper. Jin Xing will ihren Kindern Offenheit vorleben: "Toleranz ist zu wenig."

Vor einigen Jahren zog Jin Xing von Peking nach Schanghai, weil sie hier "entspannt" leben kann. Schanghai soll das Aushängeschild des modernen China sein, deshalb erlaubte ihr die Partei im Jahr 2000, hier eine Tanzkompagnie zu gründen. Hinter den Kulissen war es mit der amtlichen Aufgeschlossenheit aber nicht weit her. Die lokalen Parteifunktionäre wollten klassisches Ballett sehen, Jin Xing pochte auf ihre künstlerische Freiheit. Dass sie zu hochrangigen Militärs bis heute einen guten Draht hat, hilft ihr. Natürlich verstehe man dort nichts von modernem Tanz, sagt Jin Xing: "Die Armee ist einfach nur stolz, einen Star wie mich hervorgebracht zu haben." Das Gebäude, in dem Jin Xing ihre Stücke einstudiert, gehört dem Militär.

Die Armee ist in China ein wichtiger Kulturträger. Bis vor zehn Jahren war Homosexualität ein kriminelles Delikt. Die Regierung habe viel unternommen, das Thema zu enttabuisieren, erzählt der Dolmetscher, den das Amt für Auslandsbeziehungen geschickt hat. Heute gibt es in Schanghai Aidsberatungsstellen und ein Haus für Schwule und Lesben. Eine der vom Regime geduldeten Schwulenbars befindet sich ausgerechnet in einem Atomschutzbunker. Unter den Augen der Armeeoffiziere finden dort "Brazilian Nights" statt, in denen bildhübsche Models in Designerunterwäsche durch die Katakomben tänzeln.

Gruppendruck. Jin Xing gehört nicht zur Szene. Als in Schanghai das Haus für Schwule und Lesben eröffnet wurde, fragte man sie, ob sie die Schirmherrin spielen könne. Sie lehnte ab: "Ich bin nicht schwul." Wenn sie für eine Gruppe stehen könne, dann für jene, die sich vom Kollektiv gelöst hätten. Kürzlich fragte eine ihrer Schülerinnen, worum es in dem Stück "Carmina Burana" gehe. "Um die Sehnsucht nach Freiheit und den Kampf darum im weltlichen Leben", antwortete Jin Xing. Sie hatte das Orff-Stück studiert, die lateinischen Verse bald verworfen und sich von der Musik und ihren Gefühlen leiten lassen.

Zu Beginn bilden Männer und Frauen in der Ballettversion von "Carmina Burana" ein geschlechtsloses Kollektiv, aus dem sich allmählich ein Liebespaar herausschält. Die Gruppe klagt die Abtrünnigen an. Der Mann beugt sich dem Druck und kehrt zurück. Sie aber bricht aus ihrem Bambuskäfig aus und steht am Ende dem Kollektiv gegenüber - als Frau, allein. "Das Stück handelt von meinem Leben,", sagt Jin Xing. Sie sei lange genug in der Männerwelt unterwegs gewesen, um zu wissen, dass Frauen darin nichts gelten. Um körperlich die Frau zu werden, die sie im Geiste schon lange war, ließ sich Jin Xing Silikonbrüste implantieren, die Bartwurzeln aus dem Kinn schneiden, den Kehlkopf abraspeln, zuletzt auch noch ihren Penis spalten und zu Schamlippen formen. Das Einzige, was sie nicht ändern wollte, war ihre Stimme - obwohl in China richtige Frauen auch heute noch hohe Stimmen haben sollten.

Jin Xings Stimme ist tief und rauh. Wenn sie ihren 16 Ensemblemitgliedern bei den Proben Kommandos gibt, klingt sie wie ein Soldat. "Du bist ja noch immer ein Mann", hört sie mitunter. "Na und?", sagt sie dann: "Ein Mann hat doch viele Qualitäten." Ein paar davon müssen auch die 16 Tänzerinnen und Tänzer haben, die sich ihr angeschlossen haben. Jin Xing sagt, sie suche Talente nicht, sie mache nur die Tür auf für das, was das Leben hereinbringe. Es sind zartgliedrige Mädchen, einige mit Porzellanpuppengesichtern, manche ganz jung, nur wenige über 30 - und ein paar junge Männer mit exzentrischen Sonnenbrillen und Gel in den verstrubbelten Haaren. Sie alle haben Eltern, die sich für ihre Kinder nichts mehr wünschen als einen sicheren Job - kaum aber ein Engagement bei einer Tanzgruppe, die einen künstlerischen Stil pflegt, der vor zehn Jahren noch verpönt war, und sich dadurch finanziert, dass die Gründerin, die früher einmal ein Mann war, als "Dancing Stars"-Jurorin arbeitet und nebenbei in Thai-Filmen knallharte Frauen mimt.

Seit ein paar Jahren bemüht Jin Xing sich um Sponsorengelder. Ein von ihr gegründetes Tanzfestival in Schanghai will finanziert werden. Doch die Unternehmen schielten bislang nur auf die politische Macht: "Was macht das Regime?" Da sich langsam abzeichnet, dass das Regime Jin Xing nicht nur nicht behindert, sondern duldet und benützt, beginnen auch die Mittel allmählich zu fließen. Irgendwann möchte Jin Xing ein eigenes Theater haben. Sie träumt von einem Haus mit eigenem Orchester und eigener Kompagnie, in das sie visionäre Produktionen aus aller Welt holen möchte. Vor Jahren prophezeite ihr eine Wahrsagerin, sie werde als Politikerin enden. "Was für ein Blödsinn!", habe sie gesagt und gelacht. Es wäre für sie übrigens der einzige Grund, Schanghai zu verlassen: "Wenn die in Peking wirklich einmal eine gute Kulturministerin brauchen, dann gehe ich dorthin zurück. Aber nur dann."

Shanghai Tango
Sie wollte das Buch eigentlich nicht schreiben, doch ein französischer Verlag drängte sie dazu. "Es ist schwer, die Wahrheit zu erzählen", sagt Jin Xing. Sie hat sich überwunden und ihre Geschichte einer Freundin diktiert, die sie zu Papier brachte. 2005 kam das Buch in Frankreich auf den Markt, ein Jahr später erschien es auf Deutsch. Im Original gibt es den schonungslosen Bericht über Jin Xings Kindheit, ihre Geschlechtsumwandlung, ihre Jahre in Amerika und Europa bisher nur in geschönter Form zu lesen. So offen die Tänzerin über ihre Erlebnisse und Gefühle berichtet, so zurückhaltend blieb sie mit politischer Kritik. Dennoch hat der chinesische Verlag Passagen entschärft oder gestrichen; nicht, weil die Regierung das verlangte, sondern aus "feigem, vorauseilendem Gehorsam", sagt Jin Xing.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges