Vollprivatisierung: Die Voest-Saga

Ein Rückblick auf die Geschichte des Konzerns

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Die Stimme am Telefon klingt müde, schwach und dünn. Die Stimme des Alters eben. Schwer vorzustellen, dass der Mann am anderen Ende der Leitung einmal ein polternder, ruppiger und machtbewusster Betriebsratskaiser war. Er galt sogar als der österreichische Betriebsratskaiser schlechthin. Sein Unternehmen war das Flaggschiff der heimischen Großindustrie. Franz Ruhaltinger hat als Zentralbetriebsratsobmann der Voest (1977 bis 1987) eine Belegschaft von etwa 70.000 Leuten repräsentiert.

Wobei „repräsentieren“ damals keineswegs dasselbe hieß, was es, im Zusammenhang mit Betriebsräten, heute bedeutet. In der Blütezeit der verstaatlichten Industrie war es unendlich viel mehr. Zwar war die formale Mitbestimmungsmacht des Franz Ruhaltinger, Jahrgang 1927, auf ein bloßes Drittel – nämlich auf die Betriebsmandate – der Aufsichtsratsstimmrechte beschränkt. Aber so las sich das bloß im praxisfernen Gesetzestext. In Wahrheit reichte Ruhaltingers Macht ungleich weiter.

Der Stahlkonzern VÖEST-Alpine AG Ende der siebziger Jahre – das war das Herzstück des industriellen Österreich. Der Bundeskanzler hieß Bruno Kreisky, die SPÖ regierte mit absoluter Mehrheit. Wenn Franz Ruhaltinger mit Bruno Kreisky redete, entsprach das einem politischen Gipfeltreffen. Dann zitterten die Funktionäre der Regierungspartei. Wurde Ruhaltinger grantig, konnte er Tausendschaften von Voestlern auf die Straße holen. Die veranstalteten dann keine zahnlose Demo, sondern ein politisches Megaereignis, auf dem alle Augen der Republik lagen. Folgewirkungen waren garantiert.

Wirtschaft war Politik. Eine der wichtigsten Agenden der Politik betraf die Gestaltung der Wirtschaft. Im Zentrum der Wirtschaft stand die produzierende Industrie, und für die stand der Name Voest.

Der Zeitgeist unserer Tage liebt es, simple Schlüsse zu ziehen. Die Ruhaltingers dieses Landes waren einst zu mächtig, infolgedessen, so kann man es heute hören, ging die Voest kaputt. Jetzt sind die Ruhaltingers alt und schwach, der Staat hat sich aus der Voest zurückgezogen, und deswegen geht es der Voest jetzt gut.
Die Wirklichkeit ist komplexer.

Rückzug. Bis zum Juli des heurigen Jahres war der Eigentumsanteil der Staatsholding ÖIAG an der voestalpine AG auf 2,25 Prozent zurückgeschrumpft. Am 20. Juli veröffentlichte die ÖIAG eine Erklärung: Man werde, hieß es darin, „bis Ende August 2005 die verbleibenden Anteile der ÖIAG an der voestalpine vollständig abgeben“. Mit diesem Schritt finde ein wichtiges Kapitel der österreichischen Privatisierungsgeschichte seinen erfolgreichen Abschluss. Die voestalpine zähle heute zu den erfolgreichsten Industrieunternehmen des Landes, sie habe im abgelaufenen Geschäftsjahr „neuerlich ein Rekordergebnis erzielt“, so die ÖIAG.

Nun ist das Ende des Monats August gekommen. Und tatsächlich steht die Voest zu hundert Prozent in privatem Eigentum. In einer wechselvollen Unternehmensgeschichte bildet dieses Datum eine weitere, markante Zäsur.

Die Manager des Stahlkonzerns hören es heutzutage gar nicht gerne, wenn Journalisten und Volksmund den Namen des Unternehmens auf „Voest“ verkürzen. Der Name lautet mit gutem Grund „voestalpine“. Nur das Wort „voestalpine“ erfasse ihre „Corporate Identity“. Die hervorzuheben sei ihnen wichtig.

Was ohne Zweifel feststeht, ist der Umstand, dass im Namen „voestalpine“ Geschichte lebendig wird. Der erste Teil des Wortes bezieht sich auf den Linzer Teil des Konzerns, die Voest.
Die entstand in der Nazizeit.

Göring-Werke. In Deutschland waren 1937 die Reichswerke Hermann Göring gegründet worden. Sie sollten helfen, die gesamte deutsche Montanindustrie in den Dienst der Aufrüstung zu stellen. Heimisches Erz und seine Verhüttung sollten die Autarkie des Reiches stärken. Zum Zeitpunkt der Unternehmensgründung existierte in Linz noch keinerlei Stahlindustrie. Diese Branche war in Österreich damals vorrangig durch die 1881 entstandene Alpine-Montan AG vertreten, die ihrerseits aus den diversen Hüttenaktivitäten in der Region der so genannten „Eisenwurzen“ hervorgegangen war.

Von der Alpine-Montan AG stammt der zweite Teil des Namens voestalpine.

Die Werke der Alpine-Montan befanden sich vornehmlich in der Steiermark und in Niederösterreich. Der Konzern stand im Lauf seiner Geschichte im Eigentum wechselnder Industriellenfamilien. Ende der dreißiger Jahre, als Hermann Göring seinen Rüstungskonzern plante, waren Fritz Thyssen und Friedrich Flick seine bekanntesten Aktionärsvertreter; ihre beiden Familien hatten erst wenige Jahre zuvor die Anteilsmehrheit erworben.

Die Fama erzählt, dass Hermann Göring 1938 eine viel beachtete Dampferfahrt von Linz nach Wien unternommen habe – die so genannte „Nibelungenfahrt“. Auf dieser Fahrt eröffnete er den anwesenden Stahlgranden seine Absicht, die Alpine-Montan den „Reichswerken“ einzuverleiben. Dieses bereits wissend, erwarb die Alpine-Montan vorher noch die heimischen Böhler-Edelstahlwerke. Bald begann man in Linz mit dem Bau der Stahlhütte. Deren Fertigstellung in den Jahren 1941/42 folgte prompt der Aufbau jener Panzerschmieden, in denen Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern zum Einsatz kamen.

Die Planungen für den Standort waren davon ausgegangen, dass kein Fernbomber aus Frankreich oder England eine Reichweite haben könne, die notwendig wäre, um Rüstungsbetriebe in Österreich unter Beschuss zu nehmen. Doch ab August 1943 bombardierten die Alliierten auch Stahlwerke in der „Ostmark“.

Voest/Linz, die steirische Alpine-Montan und auch die heimischen Edelstahlerzeuger waren also von den Nazis zu Rüstungszwecken zusammengeschweißt worden. Nach Kriegsende wurde die österreichische Stahlerzeugung in vier Gesellschaften aufgegliedert: Es gab die Voest in Linz (deren korrekter Firmenwortlaut damals und bis 1985 übrigens „VÖEST“ lautete: Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke), weiters die Alpine-Montan sowie die beiden Edelstahlerzeuger Böhler und Schoeller-Bleckmann.

Alle vier nach dem Krieg zu verstaatlichen entsprach der Linie sowohl der Sozialisten als auch der ÖVP. Der gemeinsame Eigentümer Staat versuchte, den einzelnen Standorten und Gesellschaften unterschiedliche Aufgaben vorzugeben. So sollte etwa in Linz die Blecherzeugung konzentriert werden, während man die Alpine-Montan in Donawitz, die auf die Erzeugung von Profilen spezialisiert war, dazu anhielt, auf dieser Basis eine Produktion von so genannten Langprodukten (Stäben, Draht. etc) aufzubauen.

Verluste. Nicht alle vier Gesellschaften konnten in dieser Konstellation reüssieren. Vor allem in der Alpine-Montan, aber auch im Bereich des Edelstahls taten sich beträchtliche Verlustlöcher auf, deren Abdeckung dem Eigentümer Staat zunehmend Sorgen bereitete.

Dass in dieser Phase Verluste gemacht wurden, lag nur zum Teil an Mängeln im Management oder am damaligen „Verstaatlichten-System“. Österreichs Stahlerzeuger arbeiteten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vielmehr unter rigorosen politischen Auflagen. Beispielsweise musste der zum Wiederaufbau nötige Stahl im Inland zu niedrigen Preisen verkauft werden, wobei diese Inlandspreise phasenweise weit unter dem Weltmarktniveau lagen. Auf diese Weise wollten die SPÖ und die ÖVP-nahe Wirtschaft den Wiederaufbau subventionieren.

Österreichs Privatunternehmerschaft schaute damals auch sehr genau darauf, dass ihr die staatlichen Stahlunternehmen nicht als Wettbewerber ins Gehege kamen. Ging es um neue und attraktive Geschäftsmöglichkeiten in der Eisen- und Stahlverarbeitung, so wollten sie von verstaatlichter Konkurrenz unbehelligt bleiben. Die SPÖ hätte es gern gesehen, dass die Stahlkocher in diese so genannten Finalsparten expandierten und so ihre Ertragskraft stärkten. Die ÖVP aber bestand auf einem „Final-Verbot“ und setzte sich durch.

Die Verluste – vornehmlich der Alpine-Montan – wurden zunehmend zum politischen Thema. Bruno Kreisky war in der Wahl 1971 zur absoluten Mehrheit gekommen. Er träumte von einer großen österreichischen Stahlfusion, die „Absolute“ gab ihm die Möglichkeit, den Traum nach seinen Vorstellungen zu verwirklichen. Wenn er sämtliche Stahlkapazitäten, die dem Staat gehörten, unter einem Dach zusammenfasse, argumentierte der Kanzler, dann könnten in einem Werk entstandene Verluste durch Gewinne in einem anderen ausgeglichen werden. Ihn faszinierte der Gedanke, in diesem damals so zentralen Sektor sowohl ökonomisch wie politisch besser gestalten zu können, wenn er es nicht mit mehreren, sondern nur mit einer einzigen großen Stahlgesellschaft zu tun hätte. Dies fand auch in der damaligen SPÖ großen Anklang. Gesagt, getan: 1973 zog Kreisky die Fusion aller vier Gesellschaften zu einem Großkonzern namens VÖEST-Alpine AG durch.

Doch die VÖEST-Alpine stand von Anbeginn unter keinem guten Stern. Es war geplant, die Konzernzentrale nach Wien zu verlagern, was aber in den regionalen „Stahlstädten“ Revolten hervorrief. Die Direktionen der Hauptabteilungen sollten auf Linz, Wien und Leoben verteilt werden, um es – wie es in einem „Kurier“-Artikel aus dem Juni 1972 heißt – „allen einigermaßen recht zu machen“. Ein Rezept für Desaster. Gleichzeitig startete Kreisky in dieser Zeit seine berühmte Strategie der politisch verordneten Arbeitsplatzsicherung. Ebenfalls aus dem Juni 1972 findet sich eine Zeitungsmeldung, wonach der Kanzler vor Belegschaftsvertretern der vier Stahlunternehmen eine „Regierungserklärung über die Sicherung aller Arbeitsplätze“ angekündigt habe.

Die Vertretung der Eigentümerinteressen des Staates nahm die Staatsholding ÖIAG wahr. Zwischen ihr und der Führung des Unternehmens selbst herrschte stete Spannung. Vor allem VÖEST-Generaldirektor Heribert Apfalter (Voest-Chef 1975 bis 1985), der ein besonders selbstbewusster Tatmensch war, hegte eine ausgeprägte Aversion gegen die ÖIAG-Leute in der Wiener Kantgasse. Er bezeichnete sie ganz offen als „russische Bürokraten“; ihre vorgebliche Praxisferne charakterisierte er damit, dass sie „noch nie ein Kilo Stahl verkauft“ hätten.

Die Linzer hassten Donawitz („Alle unsere Gewinne rinnen dort in ein bodenloses Loch“), und die Steirer hassten die „Großkopferten“ in Linz. Die beiden Edelstahlgesellschaften wurden zu den Vereinigten Edelstahlwerken (VEW) verschmolzen und der VÖEST-Alpine als Tochter angegliedert. Die VEW bauten Verluste ohne Ende. Als sich dann auch noch die allgemeine Situation auf dem internationalen Stahlmarkt krisenhaft verschärfte, wurde eines immer klarer: Österreichs Stahlerzeugung war in dieser Form dem Untergang geweiht.

Crash. Der Crash kam. Bevor er kam, flossen freilich noch etliche Milliarden Schilling an staatlichen Mitteln in die Stahlindustrie – ein Phänomen, das damals in ganz Europa zu beobachten war. Und 1985 war es so weit: Die Voest krachte.

Heute, mehr als dreißig Jahre nach Kreiskys Stahlfusion, ist all das Historie. Heute nennt sich die Voest auch nicht mehr deshalb voestalpine, weil irgendein politischer Machthaber Linzer und Steirer gegen deren Willen zum Teilen von Tisch und Bett gezwungen hätte. Voest und Alpine haben sich vielmehr in den letzten Jahren zusammengerauft. Jetzt haben sie sich freiwillig den Namen gegeben, der beide Elemente enthält, das oberösterreichische und das steirische. Mit Franz Struzl konnte ein Steirer 2001 sogar erstmals den Generaldirektorensessel in Linz erklimmen – auch wenn er sich darauf nur zweieinhalb Jahre lang gehalten hat. Heute deklariert Angestellten-Betriebsratsobmann Fritz Sulzbacher: „Jetzt gehör’n wir z’samm. Jetzt lass ma uns auch nimmer auseinander dividieren.“

Diversifizierung. Der große Voest-Crash 1985 erschütterte die Republik. Angesichts der weltweit anhaltenden Schwäche der Stahlmärkte hatte Heribert Apfalter zuvor sein Heil in einer dramatischen Flucht nach vorn gesucht. Das „Final-Verbot“ der Nachkriegszeit galt ab den siebziger Jahren nicht mehr. Also stürzte er sich in eine geradezu atemberaubende Diversifizierung der Konzerntätigkeiten. Die Voest begann, ihre Fühler in alle Wirtschaftsbereiche auszustrecken, in denen man auch nur die Spur einer Ertragschance witterte: von der Erzeugung von Glas und Plastikflaschen über den Aufbau eigener Elektronikwerke bis hin zum weltweiten Bau von Chemiewerksanlagen.

Natürlich ging dabei vieles schief. Und weil Apfalter nicht kleckerte, sondern klotzte, kosteten die Hoppalas auch unmäßig viel Geld. Dazu kam, dass die Voest auf diesem Pfad immer öfter die Grenzen der Seriosität und der vernünftigen Risikoabwägung überschritt: Sie lieferte Noricum-Kanonen in den Irak-Iran-Krieg und missachtete damit die österreichischen Kriegsmaterialgesetze. Und sie stieg unter Inkaufnahme von Milliardenrisken mit ihrer Handelstochter Intertrading ins internationale Rohöl-Spekulationsgeschäft ein.

Als das im November 1985 aufflog, schickte der damalige Verstaatlichtenminister Ferdinand Lacina mit einem Federstrich den gesamten Voest-Vorstand in die Wüste. Er stellte die Verstaatlichte auf eine neue gesetzliche Grundlage und machte mit dem – bis dahin gesetzlich verankerten – Parteienproporz in der Verstaatlichten Schluss. Rudolf Streicher, sein Nachfolger als zuständiger Minister, krempelte dann nicht nur die ÖIAG, sondern indirekt auch sämtliche staatlichen Industrieunternehmen völlig um und trimmte sie auf rein marktwirtschaftlichen Kurs. Hugo Michael Sekyra, der neu installierte ÖIAG-Chef, stammte aus der Privatwirtschaft.

Die Voest selbst, Auslöserin der Detonation, brauchte ein paar Jahre, um sich aufzurappeln. Zunächst versuchte sie ihr Glück mit einer raschen Abfolge von Generaldirektoren, die man „von außen“ – sprich über Vermittlung hochkarätiger Personalberater – nach Linz geholt hatte: so etwa Ludwig von Bogdandy, einen renommierten deutschen Stahlprofessor, der keine Konfrontation scheute, dessen aristokratisch-herrisches Auftreten in Linz aber ohne nachhaltige Auswirkung blieb. Und während alledem brachte Claus Raidl, heute Chef von Böhler-Uddeholm, als Vizegeneral der Voest den Laden von der Pike auf wieder finanziell in Ordnung.

Im Unternehmen selbst war mittlerweile Peter Strahammer als Führungspersönlichkeit herangewachsen – ein Mann, dem Ludwig von Bogdandy von Herzen übel gesinnt war. Er verbannte Strahammer zwecks Sanierung von Donawitz in die Steiermark, wobei er davon ausging, dass Donawitzer Werk sei schlicht unsanierbar. Doch in der Zusammenarbeit zwischen Strahammer und Franz Struzl glückte das Wunder. Strahammer kehrte als strahlender Held nach Linz zurück und wurde zum Generaldirektor ernannt. Seither schreibt die Voest in Oberösterreich und in der Steiermark gleichermaßen Gewinne. 2001 wurde die neue Konzernstrategie beschlossen, die auf eine fokussierte Expansion in moderne Verarbeitungsbereiche hinausläuft. Motto: „Wir machen nicht mehr Stahl, sondern wir machen mehr aus Stahl.“ Auf diesem Weg stellt der Werkstoff Stahl für den Konzern auch keine Grenze mehr dar.

Der gegenwärtige Voest-Chef heißt Wolfgang Eder. Er hat lange Jahre mit Strahammer zusammengearbeitet und stellt offenbar eine recht glückliche Symbiose aus Kontinuität und Neuerung dar. Und für einen Vorstandsvorsitzenden ist Eder noch relativ jung – gerade mal 53.

Von Liselotte Palme