Wiener Volksgerichtsakten, Teil 2: Weggeräumt

Wiener Volksgerichtsakten, profil-Serie Teil 2: Weggeräumt

Zeitgeschichte. Wie der frühere Wiener NS-Vizebürgermeister als kleiner Kriegsverbrecher davonkam

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Man wollte den Wienern Zerstreuung bieten. Am 1. Oktober 1939, genau einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen, stand ein Match gegen die Budapester Auswahl auf dem Plan. Doch im Praterstadion saßen hinter Stacheldrahtverhau 1000 jüdische Männer gefangen. Kurz nach Kriegsbeginn waren sie in der Stadt festgenommen, in den überfüllten Gefängnissen aber nicht mehr untergebracht worden.

Eine Woche vor Spielanpfiff ließ sich NS-Sportstadtrat Thomas Kozich Bericht erstatten. Der Leiter des Amts für Leibesübungen Weihs schrieb darin, „dass man es ohnehin für eine starke Belastung empfindet, dass gerade eine kulturelle Stätte, zu der das Stadion zu zählen ist, ausgerechnet mit polnischen Juden belegt ist“. Für die Spieldauer empfahl er Entfernung von Juden und Wegräumen des Stacheldrahts aus dem direkten Stadionbereich. Scharf kritisierte der Rathausbeamte die Polizei, da sie „keine Verantwortung (übernimmt) für den Fall, dass die abgesonderten Juden während der Veranstaltung zum Schreien und Brüllen beginnen würden“. Seinem Chef legte er „Fühlungsnahme (sic!) Ihrerseits“ mit SS-Führer Ernst Kaltenbrunner als „wünschenswert“ nahe.

Der NS-Stadtrat agierte umgehend:
Einen Tag vor dem Match wurden die störenden Stadiongefangenen in das KZ Buchenwald abtransportiert, davor hatte der Anthropologe Josef Wastl sie eilends „rassekundlich“ untersuchen lassen. Von den mehr als 1000 Deportierten sollten nur 71 das KZ überleben.

Im Jahr 1947 wurde dem ehemaligen Wiener NS-Vizebürgermeister und „Beigeordneten für Jugendpflege und Sport“, Thomas Kozich, als mutmaßlichem Kriegsverbrecher der Prozess gemacht. Die Deportation vom September 1939 kam dabei mit keinem Wort zur Sprache. Das zitierte Schriftstück liegt auch nicht im Prozessakt Kozich, der mit zigtausenden weiteren Wiener Volksgerichtsakten nun im Wiener Stadt- und Landesarchiv öffentlich zugänglich ist. Es zeigt einen „ganz normalen Beamten“ und ebensolchen Politiker als Initiatoren der ersten Massendeportation von Juden aus Wien (die großen Transporte begannen im Frühjahr 1941) und wurde unter allgemeinen Bürgermeister-Agenden schubladisiert. In der Ausstellung von Volksgerichtsakten vervollständigt es nun das Bild des NS-Machthabers, der immer nur „übliche Verwaltungsaufgaben“ erledigt haben will, im Wiener Stadt- und Landesarchiv (profil 19/2010).

„Wahre Arbeiterpartei“.
Der mehrbändige Gerichtsakt ist eine Fundgrube für das Selbstverständnis des Mannes, der die NSDAP als „wahre Arbeiterpartei“ gerühmt hatte. Neben seinem ansehnlichen Gehalt kassierte er für 13 Aufsichtsratsmandate Sitzungsgelder, Kinderzuschuss beanspruchte er schon zwei Wochen vor Geburt des Sprösslings.

Als Gerichtsfall steht der Akt Kozich für viele, in denen Österreichs Nachkriegsjustiz komplexe Verbrechen auf kleine Fakten reduzierte. So hatte der Politiker als Verantwortlicher für die Wiener Gemeindewohnungen die Vertreibung jüdischer Mieter bereits kurz nach Österreichs „Anschluss“ ab Juni 1938 in die Wege geleitet. Angeklagt wurde er jedoch lediglich als illegaler SA-Führer nach dem NS-Verbotsgesetz und wegen Denunziation und Bereicherung nach dem Kriegsverbrechergesetz. Es ist, als hätte der Staatsanwalt sich insgeheim an die Worte gehalten, mit denen Kozich seine Amtsführung kleinredete: „Es kam durch meine Tätigkeit als solcher auch kein anderer Volksgenosse zu Schaden.“ Juden zählten in der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung nicht als Volksgenossen.

Den Bereicherungsvorwurf wies der Angeklagte entrüstet zurück. Für die „arisierte“ Villa samt „der Einrichtung der Jüdin S.“ habe er bezahlt. Und die ausgedehnte Jagd im Steirischen habe er von der Zentralsparkasse (auch in dieser Bank war er Aufsichtsrat) gepachtet, aber: „Die Jagd konnte ich nicht ausüben, da ich 1942 zur Wehrmacht einberufen wurde.“

Kozich war offiziell bis 1953 als Wiener NS-Stadtpolitiker bestellt worden. Unbeeindruckt von Hunger und Zerstörung in der Stadt, ließ er sich noch im Frühjahr 1945 die Hälfte seines Monatsbezugs von 1229 Reichsmark als Vorschuss für den Mai 1945 auszahlen.

In diese Zeit datiert auch die inkriminierte Denunziation. Kozich war nach einem schweren Bombenangriff im Rathauskeller beim Abendessen gesessen. An einem Nebentisch kommentierte die Frau von Burgschauspieler Franz Hölbling die Bombenabwürfe auf Polizeipräsidium und Gestapo-Zentrale mit „Das ist g’scheit“, was der Politiker sofort der Polizei meldete. Die Frau wurde verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im Prozess wurde Kozich gefragt, warum er damals Anzeige erstattet habe, es habe doch jeder gewusst, welche Institution die Gestapo war. Antwort: „Ich glaube, dass weder die Polizeidirektion noch das Generalkommando rein nationalsozialistische Institutionen waren.“

Das Urteil lautete 1947 auf zehn Jahre Kerker. Kozich begründete seine ständigen Ansuchen um vorzeitige Enthaftung bald mit der inzwischen gängigen Begnadigung von Kriegsverbrechern: „Der ehemalige Landrat von Linz-Land, Dr. Adolf Dietscher, der seinerzeit wegen § 1 Kriegsverbrechen (Erschießung eines aus Mauthausen ausgebrochenen Kriegsgefangenen) zu zehn Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde, ist nach Verbüßung der halben Strafzeit entlassen worden.“

Wiens Polizei trat gegen frühe Freilassung des prominenten Ex-Nazis auf: „Da er wegen des bei der Bevölkerung besonders verhassten Verbrechens der Denunziation verurteilt wurde, besteht die Gefahr der Erregung von Ärgernis.“

Die Begnadigung erfolgte 1951 aus Anlass des Amtsantritts von Bundespräsident Theodor Körner. Zwei Jahre später war Kozich beim Bund Sozialistischer Akademiker, BSA. Sein Kollege als NS-Vizebürgermeister von Wien, Ex-SS-Mann Franz Richter, wurde ebenfalls der Bereicherung beschuldigt, wartete ein Urteil aber nicht ab: Er flüchtete 1947 mithilfe eines Polizeiinspektors aus der Polizeidirektion, wo er als Untersuchungshäftling Schreibarbeiten erledigt hatte. Zehn Jahre später schickte das Gericht dem ehemaligen SS-Standartenführer die Nachricht, sein Kriegsverbrecherverfahren sei eingestellt. Der Brief kam ungeöffnet zurück.

Profiteur.
„Ob es ein Tintoretto war, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich dieses Bild dem P. nicht als Tintoretto verkauft.“ – Der gelernte Tischler Bernhard Witke stellte sich vor Gericht dumm – und kam damit durch. Ohne Menschen wie ihn hätte das NS-Terrorregime in Wien nicht so funktioniert, wie es funktionierte, dennoch kam er im Jahr 1949 mit nur dreieinhalb Haftjahren wegen Bereicherung nach dem Kriegsverbrechergesetz davon.

Witke war einer der zentralen Handlanger der Gestapo gewesen. Karl Ebner, Leiter des Gestapo-„Judenreferats“, 1943: „In seinen Aufgabenbereich fiel die Freimachung der Wohnungen von 48.500 Juden, die ich nach den Ostgebieten evakuiert habe. Er hat sich besondere Verdienste dadurch erworben, da er in einer derart kurzen Frist die Wohnungen freimachte, wie es bisher im gesamten Reichsgebiet nicht erfolgte.“ Darüber hinaus habe der unermüdliche Wohnungsräumer auch „wertvolle Kunstschätze … dem Reich“ gesichert, „worüber dem Führer Vortrag gehalten wurde“.

Die Großaufträge der Gestapo verwandelte der SA-Sturmführer in Großprofite auch für die eigene Tasche. Das von ihm „arisierte“ Antiquitätengeschäft Oberhuber & Witke wurde Umschlagplatz riesiger geraubter Werte. Wilhelm Bienenfeld von der Israelitischen Kultusgemeinde sagte als Zeuge, er selbst habe Witkes Aufforderung an einen Gestapo-Funktionär gehört, „er solle bald wieder einen Judentransport zusammenstellen, weil seine (Witkes) Magazine schon leer seien“. Der vom Gericht bestellte Gutachter fand noch 1947 sechs Depots, zwei davon in Pfarrhäusern am Land. Er befand, man müsse sie gesehen haben, um sich von der „ungeheuren Menge … eine richtige Vorstellung zu machen“.

„Durchgehalten“.
Witkes zynisches Geschäft ist Gegenstand aller wichtigen Bücher zum Thema Kunst- und Immobilienraub. Sophie Lillie beschreibt ihn als Verkäufer etwa der antiken Schmucksammlung von Verleger Paul Zsolnay („Was einmal war“, Czernin Verlag). Laut Studien der österreichischen Historikerkommission war er es, der das ganze Wiener Messegelände für Auktionen anmieten ließ (in: Gabriele Anderl u. a.: „‚Arisierung‘ von Mobilien“, Oldenbourg Verlag). Doron Rabinovici macht Elend und Abhängigkeit der vielen jüdischen Mitarbeiter Witkes deutlich, die Wohnungen Deportierter räumen mussten und hofften, er werde sie vor den gefürchteten Transporten retten (in: „Instanzen der Ohnmacht“, Jüdischer Verlag).

In Witkes Gerichtsakt liegen die verstörenden Aussagen der wenigen Überlebenden. Der Verteidiger ließ sie als Zeugen für den Angeklagten antreten und instrumentalisierte sie so ein weiteres Mal. Grete F. bedankte sich für den Judenstern, den der Gestapo-Günstling ihrem untergetauchten Lebensgefährten besorgt hatte, für die Überlassung geraubter Möbel und dass er mit den Juden in Wien „durchgehalten hat bis zum Schluߓ: „Ich glaube im Namen sämtlicher Juden u. Arier, denen Herr B. Witke geholfen hat, bitten zu dürfen, dass er enthaftet werde.“ Witke saß seine dreieinhalb Jahre Kerker nicht zur Gänze ab.