Rainer Nikowitz

Wir müssen reden!

Wir müssen reden!

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Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek seufzte exogen determiniert. In Momenten wie diesen wünschte sie sich manchmal, sie wäre damals dem Rat ihrer Mutter gefolgt und hätte doch etwas Vernünftiges studiert. Numismatik etwa. Oder Sanskrit. Oder Politikwissenschaft. Seit sie sich von ihrer Abfindung nach der zweiten Scheidung ihre Praxis als systemische Paartherapeutin aufgebaut hatte, war ihr noch nie ein Paar untergekommen, dessen Zerwürfnis tiefer saß – und das sich darüber hinaus dermaßen beratungsresistent zeigte.

Sie gab sich einen Ruck und lächelte so verbindlich wie nach zwölf erfolglosen Sitzungen noch irgend möglich. „Versuchen wir es anders“, säuselte sie. „Zählen Sie doch zur Abwechslung einmal auf, was Sie an Ihrem Partner mögen. Und sagen Sie es ihm, nicht mir.“ Das darauf folgende Schweigen dauerte zum Glück kaum länger als drei oder vier Minuten. „Ich liebe es, dich von hinten zu sehen“, sagte schließlich der eine. Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek atmete erleichtert auf. Es war also doch noch nicht alles verloren. „Welche Gedanken verbinden Sie mit diesem Anblick a tergo? Hat das für Sie eine erotische Komponente?“

Der Mann schüttelte angewidert den Kopf. „Nein. Eine geografische. Wenn ich meinen Partner von hinten sehe, heißt das in der Regel, dass er sich gerade schleicht.“ Der andere schaute drein, als sei ihm eben eine Hämorrhoide aufgeplatzt. Wobei, eigentlich schaute er ohnehin immer so drein, als sei ihm eben eine Hämorrhoide aufgeplatzt. „Weißt du was? Seit ich dich damals beim Wandern in deiner Radlerhose gesehen habe, wache ich nachts manchmal schreiend auf. Und mir wird schon übel, wenn ich eine Weißwurst nur sehe!“
Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek versuchte mit wachsender Verzweiflung, das Heft in der Hand zu behalten. „Gut, okay, bleiben wir doch bei der bisherigen Methode: Lassen wir alles raus! Befreien wir uns von den Altlasten!“

„Wie du dein Sakko immer über deine Schultern hängst, weil du glaubst, das ist lässig!“, schlug der Erste zurück. „Ich hasse das! Weil in Wirklichkeit bist du ungefähr so lässig wie ein 93-jähriger englischer Landadeliger. Nein, ich korrigiere mich: wie ein toter 93-jähriger englischer Landadeliger! Und dann erst dein depperter Dreitagebart! Wenn ich einen George Michael für ganz Arme möchte, dann geh ich in der Nacht auf ein öffentliches Häusl in Los Angeles.“ Der andere sprang erbost auf. „Das ist typisch für die Art, wie du mich behandelst! Du bist so kalt geworden. Wann hast du mir das letzte Mal etwas geschenkt? Seit der Erbschaftssteuer kann ich mich an nichts mehr erinnern. Und früher, früher haben wir noch etwas gemeinsam unternommen. Aber jetzt? Jetzt haben wir nicht einmal mehr unser Pressefoyer!“

Mit einem unterdrückten Schluchzen setzte er sich wieder. Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek sah den Ersten betroffen an: „Was hindert Sie daran, mehr mit Ihrem Partner zu unternehmen?“ „Ich würde ja! Wir könnten uns jederzeit auf ein Packl hauen und eine total geile Steuerreform miteinander machen. Aber was hör ich, wenn ich das vorschlag? ‚Jetzt nicht, Schatz, ich hab Migräne. Später vielleicht.‘ Ich sag Ihnen was: Das liegt alles nur daran, dass er einen anderen hat. Ich weiß es genau. Und wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie quasi immer zu dritt im Bett lägen?“ Über diese Frage wollte Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek lieber gar nicht erst nachdenken. Stattdessen wandte sie sich dem anderen zu: „Stimmt das?“
„Das ist völlig lächerlich. Wolfgang ist wie ein Bruder für mich. Und das wusstest du schon vorher. Aber dein Misstrauen macht ja vor nichts Halt. Ich fühl mich, als würde ich ständig vor einem Tribunal stehen!“

„Und du?“ Der Erste bebte vor Empörung. „Bespitzelst mich und meine Freunde! Du bist einfach ein paranoider Kontrollfreak!“Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek fühlte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Langsam fiel ihr nichts mehr ein. „Gehen wir einmal zurück an den Anfang“, sagte sie bar jeder Hoffnung. „Zu der Zeit, in der Sie zusammengekommen sind.“ „Erinnern Sie mich nicht daran“, fauchte der eine. „Zwangsehen gibt es nämlich nicht nur bei Moslems“, sekundierte der andere. Dann tat Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek etwas, das sie in ihrer Laufbahn noch nie getan hatte. „Wissen Sie, manchmal gibt es Fälle, wo man zu der Einsicht gelangen muss, dass das alles keinen Sinn mehr hat. Haben Sie sich schon mit der Möglichkeit befasst, sich zu trennen?“
Die beiden schauten in verschiedene Richtungen. Dann murmelte der eine: „Glauben Sie mir – jeden Tag. Aber …“ Und der andere vollendete mit brüchiger Stimme: „… wer nimmt uns denn sonst noch?“ Und Marie-Sophie Aschenbrenner-Suchanek spürte bleischwer: Mit diesem Fall würde sie sich länger herumplagen müssen, als sie gedacht hatte. Viel länger. Wenn sie Pech hatte, vielleicht sogar bis 2010.