Das Auschwitz der Wiener Juden

Maly Trostinez. Bis 1944 wurden im Dörfchen Maly Trostinez 10.000 Wiener Juden erschossen

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Die Stätte der Vernichtung ist weitgehend unbekannt: ein Dorf inmitten saftiger Weiden, ein Weiher, ein Kiefernwäldchen. Die ersten Deportierten, die in Maly Trostinez im Mai 1942 ausgeladen wurden, waren Wiener Juden aus der Wiener Leopoldstadt. Einmal pro Woche, jeden Dienstag, ging ein Transport von jeweils "1000 Stück“, so hieß es in den Akten der NS-Bürokratie, gegen Osten.

Am 27. Mai 1942 stand Frieda Weissenstein auf der Liste, die Großtante von Margit Fischer, der Frau des österreichischen Bundespräsidenten. Margit Fischer, in Schweden geboren, wohin ihre Eltern emigriert waren, hat sie nie kennen gelernt. Auch ihre Großmutter und die Schwester ihres Vaters kennt sie nur aus Erzählungen.

Von Stockholm aus hatte der Vater, Otto Binder, alles Menschenmögliche unternommen, um für seine Mutter, seine Tante und seine Schwester ein Affidavit für die USA zu bekommen. Als es ihm endlich gelungen war, wurden an Juden keine Pässe mehr ausgestellt. Die in Wien Zurückgebliebenen waren der Vernichtung anheimgegeben.

Die in Sammellagern zusammengepferchten Menschen wussten nichts Genaues, aber sie ahnten, was mit ihnen geschehen sollte. In ihrem letzten Brief vom 19. Mai 1942 schrieb die Mutter, Hermine Binder, ihrem Sohn in Schweden: "Lieber Otto. Wir können uns nicht einbilden, dass gerade wir hierblieben werden. Bitte schicke uns jetzt keine Pakete.“ Heddy Binder benachrichtigte ihren Bruder Otto eine Woche später: "Mamma ist höchstwahrscheinlich am 2. Juni fort. Ich bin mit meinen Nerven fertig.“

Nach dem Krieg erfuhr Otto Binder, dass seine Schwester in Auschwitz, seine Mutter und seine Tante in Maly Trostinez umgekommen waren.

Maly Trostinez war jahrzehntelang eine Chiffre für das Ungefähre gewesen, eine Vernichtungsstätte, die in den Akten des NS-Regimes das erste Mal im Frühjahr 1942 erwähnt wurde. Erst in den vergangenen Jahren, nach Öffnung sowjetischer Archive, wurde das Ausmaß des Grauens, das dort geherrschte hatte, bekannt. Maly Trostinez war Mordstätte in einer Zwischenzeit: vor der effizienten Maschinerie der Vernichtung in Auschwitz eingerichtet, doch nach der Konferenz in Wannsee, bei der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde. In Maly Trostinez wurden Massenerschießungen und Gaswägen perfektioniert, behelfsmäßige Krematorien gebaut. Bisweilen wurden die Menschen ganz archaisch bei lebendigem Leib verbrannt. Und als es an der Zeit war, wurden die Spuren des Verbrechens professionell beseitigt.

In Wien hatte einst die größte jüdische Gemeinde im deutschsprachigen Raum gelebt. Der Hass der Wiener äußerte sich brutaler und hässlicher als in jeder anderen Stadt. Im Jahr 1942 werde Wien "judenrein“ sein, hatten die Nationalsozialisten angekündigt - und das Programm wurde umgesetzt. Bis zum deutschen Überfall auf Polen im September 1939 waren 126.000 Menschen außer Landes geflüchtet, die letzten Kindertransporte in England angekommen. Im darauffolgenden Frühjahr begannen die Deportationen, die ersten 1000 Wiener Juden wurden in Ghettos in das besetzte Polen gebracht. Immer weiter nach Osten wurden die Menschen verschleppt. Am 28. November 1941 fuhr der erste Deportationszug nach Minsk.

Das Ghetto in Minsk war von NS-Dienststellen im Juli 1941 errichtet worden, wenige Wochen nachdem die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion eingefallen war. 85.000 Menschen vegetierten in einem Geviert von wenigen Straßenzügen. Im November 1941 kamen 1000 Juden aus Hamburg hinzu, eine Woche später Wiener, dann Juden aus Stuttgart, Berlin, Köln. Vor jeder Ankunft gab es ein Massaker im Ghetto, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Nur im Winter 1941/42 pausierte die Mordmaschinerie. Die deutsche Wehrmacht benötigte die Züge für den Nachschub an die Front.

Im Frühjahr 1942 wurde in Maly Trostinez eine Kolchose mit elektrischem Zaun umgeben und zu einem SS-Lager umfunktioniert. Hier arbeiteten Juden, welche die Selektion überstanden hatten, im Sägewerk, im Asphaltwerk, in der Landwirtschaft. Hier bestand eine ganz kleine Chance, die Hölle zu überleben.

Der erste Transport, der direkt in Maly Trostinez ankam, war Anfang Mai 1942 in Wien zusammengestellt worden. In der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ setzte man die Namen auf Listen, die Israelitische Kultusgemeinde musste die Menschen verständigen. Als ob "die Juden einander selbst deportierten“, sagte Murmelstein von der Kultusgemeinde später über die zynische Strategie der Nazis. In der Kleinen Sperlgasse 2a in Wien-Leopoldstadt befand sich eines der berüchtigten Sammellager, in dem die Menschen vor den Transporten festgehalten wurden.

Rita Maria Rockenbauer verbrachte in der Sperlgasse sieben Monate der Ungewissheit, während von den nächtlichen Aushebungskommandos ständig Menschen abgeholt wurden. Ihre bisher unveröffentlichten Briefe sind ein Aufschrei von Wut, Ohnmacht und tiefster Verängstigung. Die Frau erlebte dutzend Mal, wie Adolf Eichmanns Helfershelfer in so genannten Kommissionen die Menschen ihrer letzten Wertgegenstände und Ausweispapiere beraubten: "Piu, ich werde wahnsinnig!!!! Wenn Du willst, dass ich am Leben bleibe, so schau, dass ich von der Kommission freikomme!!“, schrieb Rita Rockenbauer ihrem früheren Mann in einem Kassiber. Am 14. September 1942 wurde die 36-jährige Rita R. per Lkw zum Aspangbahnhof gebracht. Stundenlang fuhren die Lkws mit immer neuen Opfern durch die Stadt, bei den ersten Transporten wurden die Menschen auf den Ladeflächen von Schaulustigen verhöhnt. Protest oder Unmut, wie aus deutschen Städten berichtet, sind aus Wien nicht überliefert. Am Bahnhof beobachtete Emil Rockenbauer das Geschehen. Näher als 20 Meter durfte er nicht an die Waggons heran. Er habe "als Christ ganz einfach nicht verstanden“, was vor seinen Augen mit seiner geschiedenen Frau passierte, erzählte er später: "Wie man einen Menschen, nur weil er als Jude geboren wird, wie ein Stück Vieh mit 999 anderen Menschen in einen viel zu kleinen Eisenbahnzug hineinpfercht und ihn in einer Gluthitze von ein Uhr mittags bis sieben Uhr abends ohne Wasser schmachten lässt und seinen nächsten Anverwandten verbietet, mit ihm vielleicht die letzten Worte zu wechseln.“

Die Wiener Schutzpolizisten, welche die Deportationszüge begleiteten, bekamen Prämien und fuhren in Urlauberzügen der Wehrmacht zurück.

Dokumente über den Vorgang sind rar. Die NS-Bürokratie in Minsk verbrannte bei ihrem Rückzug vor der Roten Armee alle Akten. Einige SS-Berichte blieben als Unterlagen der Reichsbahn erhalten.

Ein Überlebender aus Wien gab später zu Protokoll: "Man sagte uns damals, dass den Juden im Osten die Möglichkeit gegeben werde, sich eine neue Existenz zu schaffen (…). Am Bahnhof in Wien erfuhren wir, dass es nach Minsk ginge. In Wolkowysk mussten wir in einem völlig verdunkelten Bahnhof mitten in der Nacht den Zug verlassen und in Viehwagen umsteigen. Viele, die sich nicht so schnell zurechtfinden konnten, bekamen die Stiefel der SS zu spüren, und Alte und Gebrechliche blieben unter den Knüppelschlägen auf dem Bahnhof liegen. In dieser Nacht hatten viele den Verstand verloren, waren irrsinnig geworden.“

Nach 1300 Kilometern blieb der Zug aus Wien kurz vor Mink zwei Tage lang stehen. Versiegelt. Auch in den glühenden Sommermonaten. Die Angestellten der Reichsbahn in Minsk hatten sich beschwert, dass die Transporte aus Wien Samstag Früh ankämen, sie aber Samstagmittag Dienstschluss hätten. Zu Pfingsten 1942 standen die Viehwaggons ganze drei Tage lang.

Bei ihrer Ankunft in Minsk sagte man den Menschen, sie sollten alles abgeben, ihr Gepäck werde extra verladen. Sie würden in entferntere Güter gebracht.

In einem der wenigen SS-Tätigkeitsberichte wurde vor Ankunft der Wiener in Maly Trostinez vermerkt: "Am 4. Mai gingen wir bereits wieder daran, neue Gruben in der Nähe des Gutes auszuheben. Am 11. Mai traf ein Transport mit Juden (1000 Stück) aus Wien in Minsk ein, und wurden (sic) gleich vom Bahnhof zur oben genannten Grube geschafft. Dazu waren wir direkt an der Grube eingesetzt.“

An einem der nächsten Tage: "Waffenreinigen und Sachen instand setzen.“

"Am 1.6. traf wieder ein Transport mit Juden hier ein.“ In diesem Zug befand sich Frieda Weissenstein. Im darauffolgenden Hermine Binder.

"Mit Ausnahme von zwei Judentransporten ziemlich eintönig“, vermerkt das SS-Kriegstagebuch.

Ab der zweiten Junihälfte wurden die Deportierten über ein reaktiviertes Nebengleis in Maly Trostinez aus den Waggons geholt und zu Fuß in eine Waldlichtung getrieben. Am Rand der Gruben mussten sie sich entkleidet in einer Reihe aufstellen. Mit einem Genickschuss wurden sie hingerichtet und fielen in ihr Grab. Nach Berichten von Dorfbewohnern waren während der Erschießungen manchmal die Schlager der Saison aus einem Lautsprecher zu hören.

Die Todesschützen waren einfache Kriminalbeamte und Polizisten, Angehörige der Gestapo, der SS und der Waffen-SS, lettische und volksdeutsche Einheiten.

"Von den Juden, die nicht freiwillig zur Grube gingen, liefen manche am Grubenrand entlang, andere warfen sich sofort in die Grube, ohne getroffen worden zu sein. So kam eine Unordnung in die Exekution“, so die Aussage eines Schützen in einem Nachkriegsprozess.

"Ja, ich habe geschossen (…) Ich habe immer mein Bier getrunken, Beruhigungsansprachen wurden gehalten, aber nur unregelmäßig, ab und zu“, sagte Georg Heuser, Kommandeur des KdS Minsk, in seinem Gerichtsverfahren in Koblenz 1962. Heuser hatte nach dem Krieg eine beachtliche Karriere gemacht. Als Leiter des Kriminalamts in Rheinland-Pfalz wurde er angeklagt und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. In seinem Verfahren tauchten auch 40 Österreicher auf, die in Minsk und Maly Trostinez gemordet hatten, darunter der stellvertretende Grazer Polizeipräsident Johann Kunz. Kunz bestritt, mit "Judenaktionen“ zu tun gehabt zu haben. Er konnte sich kaum erinnern. In Österreich wurde ein einziger Täter angeklagt: Der ehemalige SS-Mann Josef Wendl, der einen Gaswagen bedient hatte, wurde freigesprochen.

Fritz Schwarz-Waldegg, Wiener Maler des Expressionismus, hatte schon 1941 vom Drohenden ein entsetzliches Bild. Er habe gehört, Juden würden verschleppt, in Züge gesetzt, durch einen vergifteten Tunnel und am anderen Ende tot wieder herausgefahren, erzählte er einer Bekannten. Als er im Sommer 1942 nach Maly Trostinez deportiert wurde, waren dort bereits Gaswägen zur "Entlastung“ der Schießkommandos eingesetzt. Die grauen Wagen mit kastenförmigem Aufbau waren innen mit weiß lackiertem Zinkblech ausgeschlagen. Die Röhren, aus denen das Kohlenmonoxid aus dem Auspuff ins Wageninnere geleitet wurde, waren durch Holzgitter verdeckt. Laut Wendl wurden am ersten Transport eines Tages die Menschen bekleidet, bei den darauf folgenden Fuhren oft schon nackt in den Wagen geprügelt. Neun Menschen je Quadratmeter Bodenfläche war die Vorgabe. Manchmal blieben die schwer beladenen Wagen stecken. Später wurde das Innere des Wagens beleuchtet, weil "bei eintretender Dunkelheit immer ein starkes Drängen der Ladung nach der Tür erfolgte“ und dies den Wagen zum Schwanken brachte (aus der Korrespondenz des Reichssicherheitshauptamts in Berlin vom 5. Juni 1942).

Die Gaswagen wurden an den Rand der Grube geführt, das Standgas eingeschaltet. Der Todeskampf dauerte zehn bis 15 Minuten. Manchmal hörte man noch Schreie und Fäuste gegen die Türen hämmern. Wenn es still war, wurden die ineinander verkrallten, mit Blut und Erbrochenem verschmierten Leichen von so genannten "Arbeitsjuden“ und Kriegsgefangenen in Gruben geworfen und mit Kalk bedeckt. Der 17-jährige Wiener Alfred Seiler war einmal abkommandiert worden, den Wagen zu reinigen. Er überlebte. Reden konnte er kaum darüber: "Wir haben das alles ja selbst nicht glauben können.“

Der letzte Transport kam am 5. Oktober 1942 nach Maly Trostinez, ein Zug aus Wien. Ende Oktober 1943 wurde das Ghetto in Minsk aufgelöst, die Insassen erschossen. Die SS begann nun, die Spuren des Massenmords zu beseitigen. Sowjetische Kriegsgefangene, die danach exekutiert wurden, mussten 34 riesige Massengräber öffnen, hinabsteigen, mit Haken die verwesenden Leichen herausholen und sie zu Scheiterhaufen stapeln. Als die Rote Armee näher kam, wurden die letzten Juden in Maly Trostinez in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leib zwischen Lagen von Holz geschichtet und angezündet. Diese Aktionen hatte der Tiroler SS-Mann Rieder nach Aussagen von Überlebenden geleitet. Von Rieder verlor sich nach 1945 jede Spur.

In der Wiener Leopoldstadt und anderen Wiener Bezirken wurden in den vergangenen Jahren zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust Gedenkplaketten in die Gehsteige eingelassen, meist auf private Initiative der Nachkommen oder der Hausgemeinschaft. Viele dieser Messingplatten geben den Todesort Minsk und Maly Trostinez an. Was sich hinter diesen Orten verbirgt, ist wenig bekannt. Die Generalsekretärin des Gedenkvereins "IM-MER“, Waltraud Barton, lud vergangene Woche zu einer Konferenz über Maly Trostinez. In der ersten Reihe saß Margit Fischer, die Frau des Bundespräsidenten. Mit Tränen in den Augen.